"Ein Ausländer? Runter mit der Uhr!"

Russische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wehren sich gegen zunehmende politische Einflussnahme

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Der Schock war groß, als das Ministerium für Wissenschaft und Hochschulbildung der Russischen Föderation am 11. Februar 2019 neue "Empfehlungen zur Zusammenarbeit mit Behörden ausländischer Staaten, internationalen und ausländischen Organisationen und zum Empfang ausländischer Bürger" vorlegte. Demnach sollten russische Hochschulen ausländische Gäste nur noch in "für diesen Zweck bestimmten und ausgestatteten gesonderten Räumlichkeiten" empfangen. Außerdem müsse spätestens fünf Tage vor dem Besuch ein Informationsschreiben mit Angabe von Ort, Datum, Uhrzeit, Gesprächsthemen, zentralen Fragen und allen Daten sämtlicher Teilnehmerinnen und Teilnehmer - inklusive Dienstgraden, Telefonnummern und Kopien der Reisepässe - beim Ministerium eingereicht werden.

Ausländer sollten zudem während des Besuches in ständiger Begleitung, Gespräche immer mit mindestens zwei russischen Vertretern besetzt sein. Auch private Gespräche außerhalb der Arbeitszeit bedürften einer Genehmigung durch den Vorgesetzten. Wenn denn überhaupt mit den ausländischen Gästen kommuniziert werden dürfe - die Hochschulen und Institute sollten Listen von ausgewählten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern pflegen, welche "in die Arbeit mit Ausländern einbezogen werden" dürfen. Die Nutzung mitgebrachter technischer Geräte - Smartphones, Notebooks und so weiter - sei den Gästen nur erlaubt, wenn dies durch "internationale Verträge" explizit so vorgesehen sei.

Deutsche Übersetzung der Empfehlungen des Ministeriums für Wissenschaft und Hochschulbildung der Russischen Föderation, zur Verfügung gestellt von der deutschen Hochschulrektorenkonferenz

679 Unterschriften gegen geplante Wissenschaftsüberwachung

Im Juli 2019 unterzeichnete der Minister für Wissenschaft und höhere Bildung der Russischen Föderation, Michail Kotjukow, das Dokument und ließ es an alle Hochschulen verteilen. Viele Wissenschaftsorganisationen legten umgehend Protest bei den zuständigen Regierungsvertretern ein. Mitte August startete der Rat der Interregionalen Gesellschaft der Wissenschaftler (Soveta Mezhregional'nogo obshchestva nauchnykh rabotnikov) eine Unterschriftenaktion. Die 679 Unterzeichner, darunter zahlreiche hochrangige Funktionäre wie der Direktor des Instituts für Weltraumforschung der Russischen Akademie der Wissenschaften, Professor Lev Zeleny, forderten eine sofortige Rücknahme der Empfehlungen.

Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kritisierten nicht nur die drohende Behinderung ihrer täglichen Arbeit durch ein Bürokratiemonster, sondern hielten die Empfehlungen für überhaupt nicht umsetzbar. Kommunikation finde heutzutage hauptsächlich elektronisch statt, jede E-Mail an einen ausländischen Kooperationspartner von einem russischen Kollegen gegenlesen lassen oder bei jedem Videochat einen Kollegen hinzubitten zu müssen, sei völlig praxisfern. Auch die Regelung bezüglich mitgebrachter elektronischer Geräte werfe viele Fragen auf. Es gebe ja schließlich Armbanduhren und Kugelschreiber mit eingebauter Spionagekamera, so Professor Alexander Frankov in einem Beitrag mit dem Titel "Ein Ausländer? Runter mit der Uhr!" für das russische Wissenschafts-Nachrichtenportal "Troitskiy Variant". Ob er denn nun bei jeder international besetzten Konferenz an der Tür stehen und alle elektronischen Geräte einsammeln müsse?

Und wie sehe es eigentlich mit russischen Staatsbürgern aus, welche im Auftrag ausländischer Institutionen an die Institute kämen oder zumindest teilweise von ausländischen Unternehmen oder Institutionen bezahlt würden? Seien diese wie Russen oder wie Ausländer zu behandeln?

Der größte Kritikpunkt aber war, dass viele die Empfehlungen für verfassungswidrig hielten. Das Ministerium griff zur Begründung auf die existierenden Gesetze zum Schutz von Staatsgeheimnissen, vor allem auf das Gesetz 5485-1 vom 21. Juli 1993, zurück. Laut Artikel 29 Absatz 4 der Russischen Verfassung gelten wissenschaftliche Forschungsergebnisse aber nicht pauschal als Staatsgeheimnisse: "Jeder hat das Recht, auf rechtmäßige gesetzliche Weise Informationen frei zu beschaffen, entgegenzunehmen, weiterzugeben, hervorzubringen und zu verbreiten. Eine Liste der Nachrichten, die ein Staatsgeheimnis darstellen, wird durch Bundesgesetz bestimmt."

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