"Ein Ausländer? Runter mit der Uhr!"

Seite 3: Innenpolitik, Geld und Plagiate als Gründe für die aktuelle Entwicklung

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Die Folgen der russischen Außenpolitik machen es den eigenen Forscherinnen und Forschern also schon schwer genug. Warum aber dann nun auch noch offen gegen Personen oder Institutionen vorgehen? Neben ganz banalen Theorien - einzelne Beamte wollen sich vielleicht profilieren, die Behörden wollen bzw. müssen möglicherweise ein bestimmtes Soll an Ermittlungsverfahren erfüllen, et cetera - stehen vor allem drei große Gründe im Raum: Innenpolitik, Geld und Plagiate.

Menschenrechtsorganisationen wie die Union of Concerned Scientists und das Human Rights Center Memorial in Moskau gehen davon aus, dass das Vorgehen des FSB und anderer Sicherheitsbehörden politisch motiviert ist. In der Bevölkerung soll die Angst vor angeblichen Feinden von außen geschürt und eine "Kriegsatmosphäre" erzeugt werden, damit einzelne Funktionäre innenpolitisch davon profitieren können. Dass diese Strategie der Abschottung eine ganze Weile lang gut gehen und für politische Erfolge sorgen kann, sehen wir derzeit nicht nur in Russland. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind durch ihre tägliche Arbeit ideale Opfer für solche politischen Spielchen. Vor allem in den Naturwissenschaften ist Spitzenforschung ohne Hochtechnologie und internationale Kontakte heutzutage kaum noch möglich - ein Spionagevorwurf ist da im Nu konstruiert.

Grund Nummer Zwei: Geld. Russland tut sich schwer damit, von der ökonomischen Abhängigkeit von seinen Bodenschätzen wegzukommen, hat aber gleichzeitig viele ausgezeichnete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Putin fordert die Forschungsinstitute deswegen schon seit geraumer Zeit dazu auf, stärker auf wirtschaftliche Verwertungsmöglichkeiten der entwickelten Technologien zu achten. Immer wieder gibt es zwischen den Beteiligten Unstimmigkeiten darüber, wie Erkenntnisse kommerzialisiert werden und wer profitieren soll. In den Instituten laufen Machtkämpfe ab, und wer ein Start-up gründet, legt sich oft schon mit der technisch weniger fortgeschrittenen Konkurrenz an. Die richtigen politischen Kontakte können dann schnell dafür sorgen, dass ein unliebsamer Konkurrent ins Visier der Behörden gerät.

Wie etwa im Falle des Start-ups Tion: Der Geschäftsführer des sibirischen Herstellers von Luftfiltersystemen, Dmitri Trubitsyn, wurde 2017 wegen angeblicher Verstöße gegen Gesundheitsvorschriften verhaftet und erst mehr als ein Jahr später freigelassen. Tatsächlich dürfte es vielmehr darum gegangen sein, dass die von seinem Unternehmen konstruierten Luftfilter dank moderner Forschungserkenntnisse deutlich weniger Energie verbrauchen als jene der Konkurrenz.

Der dritte und in Russland definitiv nicht zu unterschätzende Aspekt sind Plagiate. Das Tragen von zu Unrecht erworbenen akademischen Titeln ist nicht nur unter Prominenten und Politikern, sondern auch unter normalen Angestellten weit verbreitet. 2010 wurde etwa bekannt, dass 70 Ingenieure des bekannten Flugzeugbauers und Rüstungskonzerns Sukhoi ihre Abschlüsse von einer Hochschule in Komsomolsk-am-Amur gekauft hatten. Das eigentlich Bemerkenswerte an diesem Skandal war allerdings, dass überhaupt eine Untersuchung stattgefunden hatte. Laut einem ehemaligen Mitarbeiter des Innenministeriums hat ein knappes Drittel der Polizisten im Land ein gefälschtes Diplom. Ein Drittel der Bachelor-Studenten lässt sich angeblich seine Abschlussarbeiten von Dritten schreiben. Selbst Präsident Putin wird vorgeworfen, in seiner Dissertation auf 16 Seiten aus einer russischen Übersetzung eines amerikanischen Ökonomielehrbuchs abgeschrieben zu haben.

Plagiate verschärfen das Problem

Die kollaborative Online-Plattform dissernet.org, organisiert nach dem Vorbild der deutschen Plattform VroniPlag, hat in nur wenigen Jahren Fälschungen in den Arbeiten mehrerer tausend Personen enttarnt. Darunter sind beispielsweise der ehemalige Gouverneur von St. Petersburg, Georgi Poltawtschenko, Kulturminister Wladimir Medinsky oder auch Putins ehemaliger Kinderrechtekommissar Pawel Astachow. Ganz besonders schlecht sieht es für die Wirtschaftsuniversitäten aus, auf welche der Großteil der als problematisch eingestuften Dissertationen entfällt.

In der von Dissernet betriebenen "Disserpedia" kann man die aktuelle Rangliste der Universitäten mit den meisten gemeldeten Plagiatsfällen einsehen. Die Russische Akademie für Volkswirtschaft und die Plechanow-Wirtschaftsuniversität kommen als Spitzenreiter auf jeweils mehr als 450 Fälle. Der Rektor der Staatlichen Universität für Wirtschaft und Finanzen Sankt Petersburg soll in seiner Dissertation auf 175 Seiten Zitate aus mehr als 100 Quellen verwendet, diese aber nicht gekennzeichnet haben. Die Medien kürten ihn deswegen kurzerhand zum "schlechtesten Rektor Russlands".

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Beschuldigten zum Gegenschlag ausholen würden. Seit einigen Monaten haben sich die Medien auf Dissernet eingeschossen und versuchen, die Plattform zu diskreditieren. Selbst die Russische Akademie der Wissenschaften gerät in diesem Kontext zunehmend in die Kritik. Der Vorwurf: Deren "Kommission zur Bekämpfung von Fälschungen in der Wissenschaft" habe Behauptungen von Dissernet übernommen und als wissenschaftliche Fakten präsentiert, obwohl deren Wahrheitsgehalt nicht gesichert wäre.

Anonyme Laien seien schließlich gar nicht in der Lage, zwei wissenschaftliche Texte miteinander zu vergleichen. Dazu bedürfe es mindestens zweier Experten des jeweiligen Fachgebietes. Der Leiter der Kommission, Prof. Wiktor Wassiljew, sieht das etwas anders - in einer Gegendarstellung erklärte er, dass man seiner Ansicht nach für einen solchen Vergleich nur über Grundkenntnisse der russischen Sprache verfügen müsse. Auch habe man die Behauptungen keineswegs ungeprüft übernommen, sondern diese durchaus verifiziert. Veröffentlicht wurde diese Gegendarstellung von den Medien allerdings bislang nicht.

Fazit

Die aktuell beobachtbare Gängelung der Wissenschaft in Russland weckt nicht nur bei Ausländern unangenehme Erinnerungen an längst vergangen geglaubte Sowjet-Zeiten. Nicht nur russische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind betroffen, sondern auch ihre ausländischen Kolleginnen und Kollegen geraten zunehmend in Konflikte mit dem Staat. Der französischen Soziologin Carine Clément - trotz zunehmender Angriffe seit immerhin zwei Jahrzehnten in Russland ansässig - wurde etwa am 27. November 2019 die Einreise in ihre Wahlheimat verweigert. Sie war plötzlich mit einem zehnjährigen Einreiseverbot belegt worden, dem Vernehmen nach, weil sie zwei Tage später in Moskau einen Vortrag über die von Putin gehasste Gelbwesten-Bewegung halten sollte. Akademische Freiheit sieht anders aus.

Nicht nur an diesem Beispiel zeigt sich, dass sich das Fenster für Wissenschaftsfreiheit, welches sich in Russland nach dem Ende des Kalten Krieges geöffnet hatte, zumindest teilweise wieder zu schließen droht. Dies würde einen Rückfall in vergangene Zeiten bedeuten und nicht nur dem russischen Forschungs- und Wissenschaftsbetrieb Schaden zufügen. Auch die dringend notwendige internationale Kooperation, welche zu Verständigung und Frieden beitragen kann, und die dringend notwendige Diversifizierung der russischen Wirtschaft würden auf der Strecke bleiben. Es steht zu befürchten, dass die Verfechter einer verschärften Kontrolle über die Forschung genau dies beabsichtigen oder es zumindest in Kauf nehmen könnten.

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