Ein Besuch im "Café am Rande der Welt"

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Über den Lebenssinn und Kritik an der Du-kannst-alles-erreichen-wenn-du-nur-willst-Ideologie

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Es begann mit dem Schlendern durch ein paar Instagram-Profile auf meiner Reise zum Heidelberger Science Festival. Auf einem der wie Bäume am Zugfenster vorbeiziehenden Fotos las jemand ein Buch mit dem Titel "Café am Rande der Welt". Ich hatte davon noch nicht gehört, fand Titel und Umschlag aber ansprechend. Einen Klick später hatte ich es auch schon (als eBook) erworben. Eine Bekannte meinte später, das liege doch in jeder Bahnhofsbuchhandlung und sie habe es auch schon oft kaufen wollen.

Den Autor, der 1969 in Chicago geborene John P. Strelecky, kann man wohl am besten als Lebens-Coach bezeichnen. Laut seiner (englischen) Wikipedia-Seite, die übrigens mit mehreren Warnhinweisen beginnt, die Darstellung sei nicht neutral, verkaufte er über 3 Millionen seiner Bücher, die in 33 Sprachen übersetzt worden seien. Sein bekanntestes Buch, das "Café am Rande der Welt - Eine Erzählung über den Sinn des Lebens", hat sogar eine (deutsche) Wikipedia-Seite. Manchmal wird das Werk "Café der Fragen" genannt, was wohl aus dem Englischen ("The Why Café") herübergeschwappt ist.

Ich habe das Buch gelesen. Das dauerte nur wenige Stunden. Hier will ich die Frage diskutieren, warum es so erfolgreich ist - und welche Ideologie damit verbreitet wird. Zuerst aber ein paar Statistiken und handwerkliche Hinweise zu Streleckys Bestseller.

Seltene Erfolgsgeschichte

Das Buch erschien erstmals 2003 auf Englisch und im Selbstverlag. 2006 kam es zur ersten Veröffentlichung durch einen Verlag, Da Capo Press in Boston. Die deutsche Übersetzung erschien schon 2007 bei dtv, wo inzwischen auch, wenn ich richtig gezählt habe, satte zehn andere Übersetzungen von Streleckys Büchern erschienen sind. Auf Amazon rangiert die deutsche Taschenbuchausgabe zum Zeitpunkt meines Schreibens auf Platz 9 der Top 100.

Das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels nannte es Anfang des Jahres den Bestseller von 2018 in der Kategorie Lebenshilfe und schrieb:

Die Ratgeber-Charts 2018 dominierte der US-Autor John Strelecky - er ist zugleich der Jahressieger, kommt auf insgesamt drei Platzierungen. Im Detail: Sein 2007 erschienener Lebensratgeber 'Das Café am Rande der Welt' erreicht als erster das Ziel, auf Rang 3 folgt 'Big Five for Life' (2009) und auf Rang 5 'Wiedersehen im Café am Rande der Welt' (2015; alle: dtv). Allein in deutscher Sprache verkaufte er von seinen Büchern bislang rund 1,2 Millionen Exemplare (Gesamtauflage).

Börsenblatt

Das ist schon ein Kunststück, gleichzeitig drei Bücher unter den ersten Fünf zu haben. Und der Erfolg hält weiter an, wie das Buchjournal noch im August dieses Jahres quittierte:

Kaum Bewegung gibt es auch beim Ratgeber in dieser Woche: John Strelecky scheint mit seinem 'Cafe am Rande der Welt' (dtv) Platz 1 abonniert zu haben. Auf Platz 3 hat er mit 'The Big Five for Life' (dtv) und auf Platz 5 mit 'Wiedersehen im Café am Rande der Welt' (dtv) weitere Eisen im Feuer − alle drei Titel kreisen nun schon jeweils 75 Wochen in den Charts.

Buchjournal

Das Café und die Bücher, die später folgten, sind ein Erfolgsphänomen. Daran besteht kein Zweifel. In einem Satz von der (deutschen) Wikipedia-Seite des Autors: Es "…war einer der Jahresbestseller 2015, 2016, 2017 und war 2018 sogar über alle Buchtypen hinweg das meistverkaufte Buch in Deutschland". Das alles bald 20 Jahre, nachdem es geschrieben wurde. Es muss sich wirklich um ein Wahnsinnsbuch handeln! Daher ein paar Anmerkungen dazu, wie es geschrieben ist.

Wenig literarische Qualitäten

Aus literarischer Sicht kann man es eigentlich nur als sehr schlecht bezeichnen. Am Ende des Artikels will ich ein paar Bücher nennen, die meiner Meinung nach ein größeres Lesevergnügen bringen. Doch bleiben wir beim Café. Und vielleicht ist diese Eigenschaft sogar schon einer der Schlüssel seines Erfolgs. Worauf aber gründe ich mein Urteil?

Die Handlung lässt sich in einem Satz zusammenfassen: John steht auf einem amerikanischen Highway im Stau, weil ein Lastwagen umkippte, wird irgendwann ungeduldig, dreht um, nimmt die erstbeste Ausfahrt, verfährt sich im Niemandsland, doch mit knurrendem Magen und kurz bevor ihm der Sprit ausgeht findet er ein Café, wo er eine Nacht lang ein philosophisches Gespräch hat, das sein Leben verändern wird, und am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass es gleich um die Ecke eine Tankstelle und dazu noch die passende Auffahrt zurück auf den Highway gibt. (Zugegeben, es war ein langer Satz.) Ende Gut, alles Gut.

Dabei habe ich allerdings ein paar literarische Höhepunkte ausgelassen, wie wenn John beispielsweise Rhabarberkuchen bestellt, ein großes Stück davon in seinen Mund schiebt, darauf kaut - und, ja, er wird es vielleicht sogar noch heruntergeschluckt haben. (Ich erinnere mich nicht mehr.) Typisch amerikanisch unterhalten sich John, Casey (die Bedienung), Mike (der Koch) und Anne (ein zufälliger anderer Gast) bei ihrer ersten Begegnung so zwanglos miteinander, als seien sie alte Freunde.

Dass sie sich gleich beim Vornamen nennen, aber die ganze Zeit über siezen, geht wohl auf das Konto des Übersetzers. Auf mich wirkte das übers ganze Buch hinweg störend. Man hätte dem deutschen Publikum schlicht eine Zeile gönnen können, in dem sich die Protagonisten das Du anbieten. Ich muss an Herrn Lehmann aus Sven Regeners gleichnamigen Roman denken, der sich umgekehrt darüber aufregte, dass alle das Du mit seinem Nachnamen kombinierten. "Meinst du das wirklich, Herr Schleim?"

Meine Lieblingsstelle ist aber mit Abstand diese. Da meint John, der Erzähler aus der Ich-Perspektive: "Ich griff nach meinem Wasser und merkte nicht, wie Casey Mike zuzwinkerte." (Johns Gedanken, Position 1328 im eBook) Das ist schon ein besonderes Kunststück, etwas zu bemerken, das man gar nicht bemerkt. Vielleicht klappt es doch, wenn man nur fest genug daran glaubt? Da hätte der Verlag dem Erfolgsbuch doch mal ein Update angedeihen lassen können, um wenigstens diesen einen Patzer zu beheben.

Streleckys Buch gibt sich einerseits nüchtern und macht sich an einer Stelle sogar über Esoteriker lustig. Andererseits sollen die Leser aber schlucken, dass die Menschen im Café Johns Gedanken lesen können - was gegen Ende der Begegnung allerdings nicht mehr passiert - und sich der Text auf der Speisekarte vor Johns Augen einfach so verändert. Und damit ist kein holografischer Effekt gemeint, keine Kippfigur oder Ähnliches.

Drei philosophische Fragen

Auf dieser Karte stehen die philosophischen Fragen, um die sich die Begegnung dreht: Warum bist du hier? Hast du Angst vor dem Tod? Führst du ein erfülltes Leben? Gemeint ist mit der ersten Frage nicht, hier im Café, sondern natürlich der Sinn des Lebens oder, wie es im Buch genannt wird: der Zweck der Existenz.

Vielleicht hielt der Autor die Rede vom Lebenssinn für zu abgedroschen. Dass er seine alternative Formulierung dann aber gleich durch die Abkürzung ZDE ersetzt, in der Form: "John, weißt du, was dein Zett-De-Ehh ist?", machte das Gespräch für mich jedenfalls nicht glaubwürdiger. Und nach ein paar Seiten hatte ich auch schon wieder vergessen, wofür die Buchstaben genau standen.

Einem anderen Publikum hätte man das Folgende vielleicht als Achtsamkeit oder Mindfulness erklärt. Im Café wird John dazu ermuntert, sich Gedanken darüber zu machen, was für ihn wirklich wichtig im Leben ist. Daran ist freilich nichts verkehrt. Streleckys Erfolgsmodell beruht nun aber vor allem auf der Idee, dass der Erfolg auf beinahe magische Weise von selbst einkehrt, wenn wir tun, was wir wirklich wollen. Oder in des Autors eigenen Worten:

So wissen sie [die erfolgreichen Menschen, d.A.] offenbar, warum sie hier sind. Sie haben herausgefunden, welche Dinge sie tun möchten, um dieser Bestimmung gerecht zu werden. Darüber hinaus sind sie absolut zuversichtlich, dass sie in der Lage sind, diese Dinge zu tun. Und wenn sie versuchen, sie zu tun, treten bestimmte Ereignisse auf, die ihnen helfen, erfolgreich zu sein. Casey hat mir außerdem ein paar Theorien erklärt, die einige Leute darüber haben."

Mike im Gespräch mit John, Position 1240 im eBook