Ein Besuch im "Café am Rande der Welt"
Seite 3: Ich werde US-Präsident!
Nehmen wir einmal ein konkretes Beispiel: Nehmen wir an, ich wollte US-Präsident werden. Das könnte ich schon allein aus dem Grund nicht, dass ich nicht in den USA geboren bin. Die Du-kannst-alles-erreichen-wenn-du-nur-willst-Ideologie scheitert hier schon am Gesetz, also an institutionalisierten Entscheidungen von Menschen in der Vergangenheit. Dass ich daran etwas ändern könnte, erscheint mir völlig unrealistisch.
Doch selbst wenn ich diese Voraussetzung erfüllen würde, bräuchte ich erst einmal genügend Unterstützer - und dann bitteschön solche mit gut gefülltem Portemonnaie. Gemäß Streleckys "Theorien" müsste ich nun möglichst vielen Menschen von meinem Wunsch erzählen, US-Präsident zu werden.
Dann würde mich irgendwann jemand anrufen und sagen: "Stephan, ich weiß, wie Sie Präsident werden können!" Diese Methode müsste dann auch noch funktionieren und ich der Einzige sein, bei dem sie angewandt wird, denn wahrscheinlich würden zur selben Zeit auch noch eine Million andere Menschen gerne US-Präsident werden.
Hiermit sollte hinreichend belegt sein: So sehr ich dieses Ziel auch erreichen wollte, für mich wäre es schlicht unmöglich. Und ich wiederhole hier noch einmal die Textstelle aus dem Buch, damit mir niemand vorwirft, ich würde den Autor falsch verstehen: "Und außerdem kann niemand einen Menschen daran hindern oder ihn in die Lage versetzen, all das zu erreichen und zu tun, was er im Leben möchte. Wir alle bestimmen unser Schicksal selbst."
Das mag auch für Wissenschaftler bitter sein, die, wie ich, in ihren Vertrag geschrieben bekamen, eine bestimmte Menge an Fördergeldern einzuwerben, sonst endet das Arbeitsverhältnis. Nun muss man wissen, dass die Chancen meistens nicht besser sind als 15% und solche Mittel vor allem an diejenigen vergeben werden, die in der Vergangenheit bereits erfolgreich waren. Das ist auch als Matthäus-Effekt bekannt, nach Matthäus 25:29: "Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden."
Wenn wir nur annehmen, dass von 100 konkurrierenden Wissenschaftlern wenigstens 50 im Leben wirklich Wissenschaftler werden wollen, dann wird dieser Wunsch unter den genannten Bedingungen wohl bei 20-30 von ihnen nicht in Erfüllung gehen. Das sind schlicht die Spielregeln, Streleckys Mantra hin oder her.
Ein wahrer Kern
Wir haben gerade nicht nur Streleckys Erfolgsmodell widerlegt, sondern damit auch gleich eine Grundüberzeugung von New Age und New Thought. Dabei will ich aber nicht leugnen, dass das Denken auch einen wahren Kern hat. Denn selbst wenn ein Ziel sehr unwahrscheinlich ist, wird man es mit Sicherheit nicht erreichen, wenn man es erst gar nicht versucht. Im Niederländischen gibt es hierzu die Redewendung: "Niemals geschossen ist immer daneben."
(Eine Anmerkung, um einem Einwand vorzubeugen: Es gibt natürlich bestimmte Ziele, die man geschehen lassen kann oder sogar muss, ohne dass man eingreift. In der chinesischen Philosophie nennt man dieses Nichthandeln Wu wei. Ohne hier in die Tiefen des Daoismus einzusteigen, will ich schlicht das Beispiel nennen, dass meine Studierenden in Projektgruppen die besten Ergebnisse erzielen, wenn ich nach einer inhaltlichen Vorbereitung so wenig wie möglich eingreife; die haben eigene Ideen und verstehen sowieso viel mehr von neuen Technologien. Inwiefern sich das auf die großen Lebensziele übertragen lässt, möge jeder einmal selbst überdenken.)
Dass man durchs Nichthandeln überhaupt keine Chance hat, lässt sich anhand einer Lotterie veranschaulichen: Nehmen wir einmal an, alle Menschen in Deutschland (83,1 Millionen) würden an einem Gewinnspiel teilnehmen, in dem man 6 aus 49 Zahlen richtig raten muss. Dann würden, statistisch gesehen, gerade einmal fünf Personen richtig liegen (nämlich jeder 15.537.573ste).
Einschließlich einer "Superzahl" müssten sogar alle Menschen in Deutschland zweimal spielen, damit es auch nur einen Gewinner gibt (nämlich jeder 139.838.160ste). Dann hätten andere Menschen insgesamt aber rund 166,2 Millionen Mal verloren. Wie kann das sein, Herr Strelecky, wenn viele davon doch nun wirklich fest daran geglaubt haben, dass sie gewinnen?
Die Chancen bei so einem Gewinnspiel sind also unwahrscheinlich klein. Wer nicht daran teilnimmt, das stimmt, dessen Chance ist gleich null. Die Pointe hierbei ist aber doch, dass die Teilnahme an der Lotterie ein Freizeithobby ist (bei wem es sich um keine Sucht handelt). Wenn aber die Gesellschaft als ganze nach solchen Wahrscheinlichkeiten aufgebaut ist, dann ist die Teilnahme an der "Lotterie" keine freie Entscheidung mehr.
Der Reichtumsforscher Rainer Zitelmann hat im Interview über reiche und superreiche Menschen ähnliche Gedanken hervorgehoben ("Das Jahreseinkommen ist für diese Menschen eine ziemlich unwichtige Größe"). Die Chancen dafür, dass jemand aus eigener Leistung Multimillionär wird, mögen verschwindend gering sein. Wer es nicht einmal versucht, dessen Chancen sind aber gleich null (Geld erben ausgeschlossen). "Du hast keine Chance, nutze Sie!", eignet sich vielleicht als persiflierende Zusammenfassung.
Neoliberales Denken
Was hier passiert, ist eine Individualisierung von Schicksalen, wie sie für das neoliberale Denken charakteristisch ist: Es gibt keine Gesellschaft und keine Strukturen, die dein Leben beeinflussen; dafür bist ganz allein du selbst verantwortlich. Haben die Menschen dies inzwischen so sehr verinnerlicht, dass sie massenweise Streleckys Bücher kaufen und ihm alles einfach so glauben?
Korrekt ist ein Mittelweg: Wir können unsere Wünsche im Rahmen unserer Möglichkeiten erfüllen. Dafür sind unsere vergangenen Erfahrungen, die uns prägen, sowie unsere heutige Situation entscheidend, einschließlich unserem Vermögen und unserer sozialen Kontakte.
Oder um es mit den Worten einer indischen Lehrerin zu sagen: Wir co-kreieren unser Leben zusammen mit der Welt um uns herum. Aber auch in unserem eigenen Kulturkreis ist es eine jahrtausendealte Weisheit, das zu ändern, was wir verändern können; das zu akzeptieren, was wir nicht ändern können; und die Einsicht zu haben, die beiden Arten von Dingen voneinander zu unterscheiden.
Doch selbst wenn man meine Kritik beiseitelässt, enttäuscht der Besuch im Café am Rande der Welt insofern, als die tiefere Dimension der Themen gar nicht angesprochen wird. Muss man dafür vielleicht die Folgebücher kaufen? Die Frage nach der Angst vor dem Tod, die zweite auf der Liste, wird beispielsweise gar nicht eingehend thematisiert. Und zur Suche nach dem Zweck der Existenz heißt es schließlich: "Wenn jemand wirklich wissen möchte, warum er hier ist, muss er die Antwort selbst herausfinden." (Johns Schlussfolgerung, Position 1361 im eBook)
Die wirklichen Weisheiten verbergen sich meinem Eindruck nach in zwei Parabeln, wie man sie aufschnappt (fast sogar wortwörtlich - Plagiat?), wenn man durch Indien reist. Das kann sich nicht jeder leisten. Dann sind die zehn Euro fürs Buch vielleicht eine gute Investition. In dem Jahr, bevor Strelecky das Buch schrieb, soll er tatsächlich neun Monate lang um die Welt gereist sein. Ich erzähle hier ganz gratis eine von beiden Parabeln (in meiner eigenen Variante).1