Ein Besuch im "Café am Rande der Welt"

Seite 4: Eine Parabel

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Ein westlicher Geschäftsmann reiste durch Indien und traf auf dem Weg einen Mann mittleren Alters, der sehr zufrieden aussah. Der Geschäftsmann fragte ihn: "Sie sehen sehr zufrieden aus. Was machen Sie?" "Ich bin nur ein kleiner Bauer, arbeite vier Stunden am Tag auf meinem Feld. Die Böden hier sind gut. Das reicht für mich und meine Familie. Den kleinen Überschuss verkaufe ich am Markt und vom Erlös kaufe ich die Dinge, die wir nicht selber herstellen oder mit den Nachbarn tauschen können. Die meiste Zeit verbringe ich mit meiner Frau und meinen Kindern."

Der Geschäftsmann ließ die Augen über die freien Flächen schweifen. Daraufhin wendete er sich wieder dem Bauern zu und sagte mit geringschätzendem Blick auf dessen Harke: "Sehen Sie denn nicht all die Möglichkeiten? Sie könnten hier viel mehr Fläche bestellen!" "Und dann?", fragte der Bauer. "Dann könnten Sie sich bessere Geräte leisten, teure Maschinen und besseres Saatgut kaufen." "Und dann?", fragte der Bauer erneut.

"Dann stellen Sie eigene Mitarbeiter an, die die harte Arbeit auf dem Feld für Sie erledigen. Sie ziehen sich ins Management zurück und denken über neue Wachstumsmöglichkeiten nach." "Und dann?" "Sie expandieren, gehen vielleicht sogar an die Börse. Mit dem Kapital erschließen Sie ganz neue Landstriche." "Und dann?" "Sie gewinnen an Marktmacht und irgendwann können Sie selbst die Preise diktieren. Sie werden reicher und reicher." "Und dann?"

Perplex schaute der Geschäftsmann den Bauern an. Sah er wirklich nicht die Chancen, die sich hinter all dem Ackerland hier verbargen? War er vielleicht dumm oder erlaubte er sich gar einen Scherz mit ihm? "Na, dann können Sie sich mit dem Geld all ihre Wünsche erfüllen und tun, was Sie wollen!", antwortete er etwas gereizt. Der Bauer stützte sich auf seine Harke und dachte einen Moment lang nach. Schließlich erwiderte er dem Geschäftsmann: "Aber ich arbeite doch heute schon vier Stunden am Tag auf dem Feld und verbringe die meiste Zeit mit den Nachbarn, meiner Frau und meinen Kindern."

Solche Parabeln lassen manche vielleicht nachdenken und verstehen, dass die von der kapitalistischen Gesellschaftsform vorgegebenen Ziele - die Ziele von immer mehr Wachstum, immer mehr Konsum, immer mehr Besitz - nicht die wesentlichen Ziele für einen selbst sind und einen vor allem nicht langfristig glücklich machen. Faktisch gesehen besitzt ohnehin die Mehrheit der Gesellschaft Deutschlands so gut wie nichts und nur eine Minderheit immer mehr, wobei sich der Abstand weiter vergrößert. (Und dass auch in Indien die Aussichten auf so ein zufriedenes Leben nicht überall rosig sind, wissen treue Leser der Artikel Gilbert Kolonkos.)

Groschenroman unter den Ratgebern

Ich komme zum Schluss. Wie ich bereits schrieb, lässt sich Streleckys Erfolg nicht leugnen. Wahrscheinlich liegt er gerade darin begründet, dass das Café am Rande der Welt so einfach gestrickt ist, kombiniert mit etwas Neoliberalismus-kompatibler Ideologie und magischem Denken. Es handelt sich schlicht um den Groschenroman unter den Selbsthilfebüchern. Tatsächlich erscheint er ja in der Aufmachung einer Erzählung und gar nicht als der Ratgeber, der er eigentlich ist.

Enttäuschend ist das Buch aber doch in dem Sinne, dass es seine Leser zwar auf die tiefgründigeren Fragen aufmerksam macht, mit der Suche nach den Antworten dann aber alleine lässt. Ich vermute, dass Streleckys Fans hierfür tiefer in die Tasche greifen und für einen rund dreistelligen Betrag ebenfalls die anderen Bücher kaufen müssen. (Vielversprechend scheint dem Titel nach vor allem "Reich und Glücklich! Wie Sie alles bekommen, was Sie sich wünschen" als Taschenbuch für €16,90.)