Ein-Mann-Regime auf der Kippe: Die Türkei im Vorfeld der Wahlen

Sind Erdogans Tage gezählt? Der konservative "Sechser-Tisch" gilt als chancenreich, das linksökologische "Bündnis für Arbeit und Freiheit" als möglicher Königsmacher. (Teil 1)

Am 26. März genehmigte die oberste Wahlbehörde der Türkei die Nominierungsanträge von Präsident Recep Tayyip Erdogan und dem Vorsitzenden der oppositionellen Republikanischen Volkspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, für die am 14. Mai anstehende Präsidentschaftswahl. Für Außenstehende ist die politische Landschaft hinter beiden Bewerbern - vor allem das Sammelsurium der pragmatischen Unterstützer des Herausforderers - schwer zu überblicken.

Die Herausforderer: der Sechser-Tisch

Kılıçdaroğlu ist der Präsidentschaftskandidat des konservativen Oppositionsbündnisses, des sogenannten Sechser-Tisches, einem Zusammenschluss von sechs Parteien mit zum Teil gegensätzlichen politischen Strömungen. Hierzu zählen die kemalistische Partei CHP, bürgerlich-konservative Parteien wie die DEVA-Partei von Ali Babacan und die Gelecek Partisi (Zukunftsparteii), geführt von dem ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu.

Letztere sind beide Abspaltungen von Erdogans Regierungspartei AKP. Dazu kommen noch die rechtsnationalistische Iyi-Parti unter Führung von Meral Akşener – eine Abspaltung der ultrarechten Partei der nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, kurz MHP), die derzeit als Juniorpartner der AKP mitregiert – sowie die DP (Demokratische Partei) und die islamistisch orientierte Saadet-Partei, deren Ideologie auf den fundamentalistisch-religiös orientierten Prinzipien der Millî-Görüş-Bewegung basiert.

Das Sechser-Bündnis tritt mit dem Versprechen an, das von Erdogan eingeführte Präsidialsystem wieder abzuschaffen. "Es soll wieder mehr Teilhabe, Freiheit und Vielfalt in der Türkei ermöglichen. Auch die fast vollständig außer Kraft gesetzte Gewaltenteilung soll dadurch wiederhergestellt werden", berichtet das Deutsch-Türkische Journal online.

Die gesetzgeberischen Verfahren sollen in einem verstärkten parlamentarischen System transparenter und demokratischer ablaufen, Richter und Staatsanwaltschaft voneinander getrennt werden. Der Ex-Botschafter Ünal Çeviköz, jetziger außenwirtschaftlicher Berater von Kemal Kılıçdaroğlu, hat jüngst die Grundzüge der neuen türkischen Außenpolitik des Sechser-Bündnisses in einem Politico-Interview skizziert.

Dazu gehören das Ende der Blockade einer Nato-Mitgliedschaft Schwedens, die Freilassung der Oppositionellen Osman Kavala und Selahattin Demirtaş, die Europäisierung und Demokratisierung des Landes, die Neujustierung der Russland-Politik und die Änderung der Griechenland-Politik.

Wie sich in dieser Programmatik die Saadet-Partei als Vertreterin des Politischen Islams wiederfindet, ist unklar, denn Europäisierung und Demokratisierung hat diese Partei nicht auf der Agenda. Die Themen Ökologie, Föderalismus und Umgang mit ethnischen und religiösen Minderheiten hat das Bündnis nicht berücksichtigt. Vor allem die Haltung zum kurdische Bevölkerungsteil dürfte für das Bündnis zu einer Herausforderung werden, da alle Parteien des Bündnisses hinter der nationalistischen Atatürk-Doktrin "Ein Staat, eine Sprache, eine Nation" stehen.

Noch immer findet der Nationalismus seinen Ausdruck in dem Satz von Atatürk: "Ne mutlu Türküm diyene" - was in etwa heißt, es mache glücklich, sich Türke nennen zu können. Auf Twitter kursieren Bilder, die sowohl Kılıçdaroğlu als auch Akşener und Erdogan bei öffentlichen Auftritten beim "Wolfsgruß" der türkischen Faschisten zeigen. Dies verdeutlich, dass der Nationalismus in der Türkei bei der Mobilisierung von Wählern eine bedeutende Rolle spielt.

Wie das mit Europäisierung und Demokratisierung zusammengehen soll, ist fraglich. Die türkischen Faschisten wünschen sich ein "Großtürkisches Reich", genannt "Turan", mit einem starken Führer. Diese Vorstellung ähnelt durchaus der von deutschen Nazis, die sich ein "großdeutsches Reich" gewünscht und dafür den Hitlergruß bei öffentlichen Auftritten gezeigt haben.

Eine Anbiederung demokratischer Parteien an nationalistisch bis faschistisch gesinnte Bürger wäre in Deutschland undenkbar. Man stelle sich vor, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) oder Außenministerin Baerbock (Grüne) würden mit faschistischen Symbolen auf Wählerfang gehen.

Trotz seiner eher ablehnenden Haltung zur Minderheitenfrage sucht der Vorsitzende der kemalistischen CHP und Präsidentschaftskandidat Kılıçdaroğlu im Wahlkampf auch das Gespräch mit der linken Partei HDP, denn er weiß, dass er als Präsidentschaftskandidat auf die Stimmen der Minderheiten und der linken Parteien angewiesen ist.

Schon allein die HDP kann bis zu zehn Prozent der Stimmen mobilisieren. Offen ist, ob das Sechser-Bündnis ethnische und religiöse Minderheiten nur bis zur Wahl umgarnt. Schließlich stimmte die CHP im türkischen Parlament bereits vor Jahren dem Entzug der Immunität von HDP-Abgeordneten zu und beförderte damit unter anderem Selahattin Demirtas, den früheren Vorsitzenden der HDP, ins Gefängnis.

Die Königsmacher: das Bündnis für Arbeit und Freiheit

Da gegen die HDP als drittstärkste Oppositionspartei im Parlament ein Verbotsverfahren anhängig ist, tritt sie nicht selbst als Partei mit eigenem Präsidentschaftskandidaten zu den Wahlen an. Am 22. März erklärte die HDP, sie wolle mit ihrer Unterstützung Kılıçdaroğlus zur Abwahl Erdogans beitragen.

Die HDP bat im Vorfeld das türkische Verfassungsgericht darum, die mündliche Verhandlung zum Verbotsverfahren auf die Zeit nach den Wahlen zu verschieben. Das Gericht lehnte die Beschwerde jedoch einstimmig ab – ein Gericht, das schon lange nicht mehr unabhängig ist.

Die HDP trat daher dem "Bündnis für Arbeit und Freiheit" bei und unterstützt darin die "Yeşil Sol Parti" (grüne Linkspartei), Dieser Allianz linker Parteien gehören unter anderem noch die Partei der Arbeit (EMEP), die Partei der Arbeiterbewegung (EHP) die İnsan ve Özgürlük Partisi (Menschen- und Freiheitspartei) und die Kürdistan Demokratik Partisi (Demokratischen Partei Kurdistans) an.

"Wir müssen mit vereinten Kräften dem Ein-Mann-Regime ein Ende setzen. Wir müssen ein Klima schaffen, in dem eine strahlende und freie Türkei entstehen kann", sagte der Vorsitzende der EHP, Hakan Öztürk. Das Bündnis für Arbeit und Freiheit sagte dem Herausforderer Erdogans seine Unterstützung zu, um das Land wieder in demokratisches Fahrwasser zu führen.

Das mögliche Ende des Ein-Mann-Regimes

In erster Linie geht es allen darum, Erdogan und sein Netzwerk abzuwählen, egal, was danach kommt. Es ist für die ethnischen und religiösen Minderheiten eine Wahl zwischen Pest und Cholera, denn oft schon wurden sie nach Wahlen schnell wieder vergessen. Es dürfte allerdings richtig sein, dieses Risiko einzugehen, um erst einmal die Ein-Mann-Herrschaft Erdogans zu beenden. Danach wird es angesichts der ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme für die neue Regierung sehr schwer.

Erdogan warf Kılıçdaroğlu bereits vor, der habe mit der HDP den parlamentarischen Arm einer "Terrororganisation" zum Partner gemacht. Immer wieder setzt Erdogan die HDP mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gleich, was die HDP entschieden von sich weist. Die in diesem Punkt weitgehend gleichgeschaltete türkische Presse bläst allerdings ins gleiche Horn.

Jedoch scheint das Argument "PKK" nicht mehr sonderlich zu ziehen, denn bei den Umfragen Ende März, also nach dem Treffen Kılıçdaroğlus mit der HDP, konnte das Sechser-Bündnis in der Wählergunst sogar noch an Punkten zulegen.

Ein wesentlicher Grund für den großen Zuspruch der Opposition ist das staatliche Versagen im Umgang mit den verheerenden Erdbeben im Februar in einer überwiegend kurdisch-alevitisch besiedelten Region.

Nach dem Erdbeben vom 6. Februar haben Wissenschaftler, zivilgesellschaftliche Organisationen und die Opposition im Parlament immer wieder die Baupolitik der Erdogan-Regierung kritisiert. Viele neue Gebäude waren eingestürzt, während andere Gebäude mit nur wenig Schäden standhielten.

Erdogan gab zu, vor den Wahlen in den vergangenen Jahren Hunderttausende Gebäude, die gegen das Baurecht verstießen, nachträglich durch einen "Baufrieden" legalisiert zu haben. Deshalb geriet der Korruptionssumpf der AKP wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. Die Menschen erinnern sich, dass auch der Präsidentenpalast illegal, ohne Baugenehmigung erbaut wurde. Er blieb aber ebenso unangetastet wie die vielen Häuser im Erdbebengebiet, die nicht den Baunormen entsprachen.

Die Verteilung des Korans oder von Spielzeug statt Zelten und Containern durch die AKP kam bei den Millionen vom Erdbeben betroffenen Menschen nicht gut an. Nach einer Umfrage von Ende März glauben 55 Prozent der Befragten, dass Erdogan die Probleme der Türkei nicht lösen könne, und 43 Prozent waren der Meinung, die Regierung habe bei der Bewältigung der Erdbebenkatastrophe im Februar versagt.

Die Ankündigung Erdogans, innerhalb eines Jahres die Region wiederaufzubauen, wird allenfalls belächelt und als utopisches Wahlkampfversprechen abgetan. Kılıçdaroğlu kündigte an, die Korruptionsfälle aufzuklären. Unter anderem soll die "Fünferbande" Steuerschulden von 418 Milliarden US-Dollar zurückzahlen, die ihr Erdogan erlassen hatte.

Gemeint sind damit die fünf großen Konzerne, die dem Erdogan-Clan nahestehen und staatliche Ausschreibungen im Wesentlichen unter sich aufteilen. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass Despoten und ihre Netzwerke kaum einmal zur Rechenschaft gezogen werden. Meist können sie ihr Vermögen rechtzeitig im Ausland deponieren und im Exil ein luxuriöses Leben führen. Das wird vermutlich auch mit dem Erdogan-Clan und seinem Netzwerk so sein.

Die Verwicklungen der türkischen Regierung in den syrischen Bürgerkrieg warten ebenfalls auf Aufklärung. Journalisten wie Can Dündar und Insider wie der ehemalige Mafiaboss Sedat Peker wiesen immer wieder auf die Verwicklungen der Erdogan-Regierung in Waffenlieferungen an dschihadistische Terrororganisationen in Syrien hin.

Auch dieses Thema wird wieder auf der Agenda stehen, wenn es darum geht, 20 Jahre AKP-Herrschaft aufzuarbeiten und den angerichteten politischen Schaden zu beheben. Trotz eines Einspruchs der Opposition entschied die türkische Wahlbehörde erwartungsgemäß, dass Erdogan bei den Präsidentenwahlen am 14. Mai antreten darf. Die türkische Wahlbehörde lehnte den Einspruch der Opposition mit dem Argument ab, Erdogans Kandidatur sei mit dem Gesetz vereinbar.

Die Opposition hatte ihren Einspruch damit begründet, eine erneute Kandidatur sei verfassungswidrig, weil Erdogan bereits zwei Mal zum Präsidenten gewählt worden sei: 2014 zum ersten Mal und 2018 zum zweiten Mal. Nach der türkischen Verfassung darf ein Präsident nur dann ein drittes Mal kandidieren, wenn das Parlament Neuwahlen erzwingt. Die jetzigen Wahlen wurden aber via Präsidialdekret angeordnet.

Nach Auffassung der Regierung zählen damit Erdogans vorherige Amtszeiten nicht. Sollte der Sechser-Tisch die Wahlen gewinnen und Kılıçdaroğlu Präsident der Türkei werden, kommen schwere Zeiten auf die Türkei zu.

Zuerst muss das Bündnis die Präsidialherrschaft wieder abschaffen. Die gespaltene Gesellschaft muss wieder zusammengeführt und die zunehmende Islamisierung beendet werden. Die Wirtschaft muss wiederbelebt und ein riesiger Schuldenberg muss abgebaut werden.

Die Kosten eines erdbebensicheren Wiederaufbaus im Südosten werden nur mit internationaler Hilfe zu meistern sein. Nach Schätzungen der türkischen Regierung belaufen sich die Kosten des Wiederaufbaus auf mehr als 100 Milliarden Dollar – etwa elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Es bleibt zu hoffen, dass sich das konservative Sechser-Bündnis bei all diesen Mammutaufgaben zu einer multiethnischen, demokratischen Türkei bekennt und von der überholten Atatürk-Doktrin Abstand nimmt. Das wäre die Chance, die Zivilgesellschaft wieder zu aktivieren und einen kraftvollen Neustart in den Erdbebengebieten zu realisieren.