Ein Maß für die Evolution?
Biologische Belästigungen als Anreiz zur Regeneration
Im Erdaltertum (Paläozoikum) ist die Flora und Fauna anders als heute. In der Zeit von 544 bis 245 Millionen Jahren nehmen Wasser, Luft und Land verschiedene Entwicklungen. Dann, gegen Ende des Paläozoikums, in der Zeit des Perm, kommt es zum Massensterben, dem 90 Prozent der Tiere zum Opfer fallen. The mother of mass extinction, kurz die Ausrottung, die Massenvernichtungswaffen gleichkommt, bestimmt die weitere Entwicklung der Erde.
Im Silur (440-410 Millionen Jahre) herrschen in den Meeren die kalzifizierenden Seelilien (Crinoidea) vor, von denen es heute auf der Welt viele Lagerstätten gibt. Das ist die Zeit, die durch eine neue Analyse in der Zeitschrift Science beleuchtet wird. Tomasz Baumiller und Forest Gahn vom Michigan Museum of Paleontoloy und dem National Museum of Natural History an der Smithsonian Institution interpretieren ihre Ergebnisse im Sinne von G.J.Vermeij, wonach biologische Gefahrenmomente, etwa das Anknabbern eines Armes, eine biologische Antwort, nämlich eine Reaktion des Opfers bewirkt: die Regeneration des betroffenen Armes.
Die meisten Seeliliearten sind mit einem Stiel am Meeresboden befestigt und tragen am oberen Ende einen mit Plattenkränzen aufgebauten Kelch, der den Weichkörper des Tieres schützt. Vom Kelchrand aus verzweigen sich üblicherweise fünf Arme (fünfstrahlige Symmetrie), die an ihrer Unterseite mit Härchen versehen sind. Mit diesen "Wimpern" wird das Plankton gefiltert und in den Mund befördert.
Die Analysen der Wissenschaftler erwachsen aus Beobachtungen, die sie von einer Untergruppe der Seelilien, den Camerata, gewinnen. Es handelt sich dabei um eine Form, die sich durch die Ausbildung von vielen Armen auszeichnet, letztlich aber dem Massensterben zum Opfer fällt. Ihre Beobachtungen zeigen, dass der Prozentsatz der Regeneration in den Perioden von Ordovizium und Silur (500-410 Millionen Jahren) etwa 4 Prozent beträgt, während im Devon (410 bis 360 Millionen Jahren) die Regeneration auf 12 Prozent ansteigt. Prozent meint hier die Zahl der Regenerierten durch die Zahl der ausgezählten Individuen mal 100. Solche Veränderungen werden als Ausdruck der Belästigung oder zunehmenden Bedrohung angesehen.
Auch wenn die Tiere heute nur noch in den Meerestiefen, speziell an den Riffen, und dort in abgewandelter Form angetroffen werden, waren sie damals eine wichtige Form im Ozeanleben. Inzwischen haben die Forscher eine Reihe von Phänomenen entdeckt oder wieder ins Gespräch gebracht. Beispielsweise die Schnecken (Gastropoden), die mit den Seelilien zusammenleben. Sie sind einerseits Koprophagen, indem sie den Anus der Seelilien dazu ausgucken, um ihre Nährstoffe aus dem Darm der Seelilien zu gewinnen. Eine Symbiose, der beide, Schnecken und Seelilien, zusprechen.
Ferner zählen dazu Löcher, die von den Schnecken auf den Seelilien in deren Schalen gebohrt werden. Aussagen darüber, ob die Schnecken die Seelilien ausgenutzt haben oder als Symbioten benutzt, sind schwerlich möglich. Zumal weitaus mehr Ursachen in Frage kommen, nicht nur die Schnecken, die mit den Seelilien vergesellschaftet sind.
Auch der "Fisch" scheint von unterschiedlichem Einfluss zu sein. War er anfänglich, im Silur, ein Kieferloser (Agnatha), der die Seelilien nicht nennenswert belästigt, wird er in der späteren Zeit mit Kiefern versehen ein bedeutsamer Angreifer. Insofern mag der Anstieg von 4 auf 12 Prozent als evolutionäre Kraft gedeutet werden.
Dennoch: solche Aussagen müssen mit Vorsicht betrachtet werden. Im Silur, so zeigen die Untersuchungen, haben die Seelilien 4 Prozent ihrer Arme regeneriert. Damit spricht die Art der Regeneration für eine Funktion, die den Seelilien ebenso eigen ist wie den Seegurken. Ohne "Gehirn" und nur mit einem rudimentären Nervensystem können diese Arten sowohl die Arme wie auch andere Körperteile erneuern.
Dieses Phänomen wurde erst kürzlich von Daniela Candia Carnevali und Francesco Bonasoro beleuchtet und als Anstoß für die Regeneration von Körperteilen des Menschen bewertet. Ferner scheinen die äußeren Bedingungen des Lebens im Silur und im Devon unterschiedlich zu sein. Das Silur ist weniger durch Vulkanausbrüche, sondern durch Abschmelzen des Eises und Ansteigen des Meeresspiegels gekennzeichnet.
Die silurische Welt besteht aus einem riesigen Meer und dem Superkontinent Gondwana, der einen Ring von ca. 6 Kontinenten aufweist. Im Devon tauchen die ersten Lungenfische auf. Ferner nimmt die Besiedlung mit Reptilien und Insekten auf dem Land zu. Dichter Waldbestand besteht auf dem Lande. Inwieweit solche Vorgänge die Lebensbedingungen im Ozean verändern, kann schwerlich abgeschätzt werden.