Ein Nebeneinander von "kleinen Führerchen"

Wie haben sich die Aktions- und Organisationsformen der Rechtsextremen in den letzten Jahren verändert? Dazu hat der Soziologe Andreas Klärner erstmals Aktivisten der extremen Rechten ins Blickfeld genommen und interviewt

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Nazis sind „pop“, Rechtsextreme sind „modernisiert“, der Rechtsextremismus ist eine „Erlebniswelt“. Kaum eine Woche vergeht heute mehr, in der besorgte Journalisten nicht darüber informieren, dass der Rechtsextremismus mittlerweile eine „moderne“ Erscheinung sei und in der „Mitte“ der Gesellschaft angekommen wäre. Seit bald drei Jahrzehnten ist eine breite Wissenschaft zudem darum bemüht, rechtsextreme Erscheinungsformen zu ergründen, wobei gerade in der Täterforschung rechtsextreme Akteure nicht berücksichtigt wurden, die sich – aus welchen Gründen auch immer – von Gewalt als Mittel der Zieldurchsetzung distanzieren. Der Soziologe Andreas Klärner hat diesen Versuch in einer neuen Gemeindestudie unternommen und erstmals mit Aktivisten der extremen Rechten gesprochen.

Mehrere Monate residierte Klärner in einer größeren ostdeutschen Stadt, die er aus Anonymitätsgründen genauso wenig nennt wie seine Interviewpartner. Telepolis sprach mit dem Soziologen von der Universität Rostock über seine Forschungsergebnisse: Wie haben sich die Aktions- und Organisationsformen der Rechtsextremen in den letzten Jahren konkret verändert? Welche Strukturen und Gruppierungen dominieren und welche Ressourcen werden zur Mobilisierung aber auch zur Gegenmobilisierung im Zuge zivilgesellschaftlichen Engagements genutzt?

Welche Probleme und Schwierigkeiten hatten Sie, um Kontakt mit der rechtsextremen Szene aufzunehmen?

Andreas Klärner: Zunächst hatte ich Glück. Meine Forschung begann im Jahre 2000/2001. Die Gesprächsbereitschaft der extremen Rechten war damals sehr hoch, sie war zunehmend auf der Suche nach Öffentlichkeit und Anerkennung. Zugleich hatte ich große Vorbehalte. Man spricht nicht jeden Tag mit sich bekennenden Rechtsextremen und weiß nicht, was einen erwartet.

Hatten Sie Angst?

Andreas Klärner: Sicher, die rechte Szene hat ein hohes Drohpotenzial. Nachdem ich aber nach mehreren Anläufen Kontakte – zu Anfang über den E-Mail-Verkehr – mit Aktivisten der extremen Rechten herstellen konnte und Interviews führte, war es relativ leicht, weitere Gespräche zu führen. Auch nahm ich an Wahlkampfveranstaltungen der NPD teil. Zur Zeit meines Forschungsbeginns startete die extreme Rechte eine Art „Öffentlickeitsoffensive“, das erleichtere die Gesprächsbereitschaft insgesamt.

„Meinungsfreiheit“ und die „Wortergreifungsstrategie“

Sie haben die Aktions- und Organisationsformen der extremen Rechten vor Ort in ihrer Studie untersucht. Haben sich diese aufgrund der„Öffentlickeitsoffensive“ gewandelt? Und wie haben sich die Aktions- und Organisationsformen in den letzten Jahren konkret verändert?

Andreas Klärner: Die Szene öffnete sich zunächst aufgrund dieser Öffentlichkeitsoffensive. Zu DDR-Zeiten stellten rechte Jugendliche eher eine symbolische Opposition zur Schau. Man zeigte auf der Straße den Hitlergruß oder steckte sich kleine Hakenkreuze an. Mit der Wende und bis Anfang/Mitte der 1990er Jahre trat die rechte Szene dann offen und aggressiv auf: Rechtsextreme übten brutale und spontane Gewalttaten gegen afrikanische Vertragsarbeiter oder links-alternative Jugendliche aus. Mitte der 1990er Jahre gab es tendenziell weniger spontane Gewalttaten, vielmehr gezielte Einschüchterungsversuche und Attacken. Die Szene professionalisierte und disziplinierte sich gegen Ende der 1990er Jahre.

Wie äußerte sich das?

Andreas Klärner: Um das Jahr 2000 gab es einen deutlichen Bruch und Strategiewechsel innerhalb der extremen Rechten vor Ort: Sie schwor öffentlich von Gewalt ab, forderte „Meinungsfreiheit“ und wendete vermehrt die „Wortergreifungsstrategie“ an.

Seit Amtsantritt des NPD-Vorsitzenden Udo Voigt 1996 hat sich die NPD dennoch weiter radikalisiert. Sie öffnete sich zunehmend dem neonazistischen Flügel, wenn sie auch den netten Nachbarn vor Ort mimt und die soziale Frage in den Mittelpunkt ihrer Parteiprogrammatik rückt.

Andreas Klärner: Ja, Udo Voigt versuchte und versucht gezielt, neonazistische Kräfte einzubinden und sie zugleich zu disziplinieren. Spontane und brutale Gewalttaten sollen möglichst unterbunden werden. Nachdem sich um das Jahr 2000 im rechten Spektrum die gemäßigtere, „bürgerliche“ Linie durchsetzte führte sie schließlich zum Einzug der NPD in den sächsischen Landtag im Jahre 2004 mit 9,4 Prozent und in Mecklenburg-Vorpommern 2006 mit 7,3 Prozent der Zweitstimmen. Jetzt bekommt eine radikale Anhängerschaft aber Wind davon, dass die NPD in den Landtagen nicht viel bewegt. Die NPD kann die Probleme ihrer Anhängerschaft nicht lösen, ihre Anhänger sehen keine Veränderungen ihrer sozialen Lage. Der radikalere und militante Flügel gewinnt darum wieder an Dominanz.

In den Reihen der NPD sorgen sich einige wie der Bundesvize Sascha Roßmüller um das bemüht bürgerliche Image der Partei. Sie befürchten, die Radikalität der Kameradschaften könne die Verbürgerlichungsstrategie der NPD gefährden. Welche Spannungsmomente konnten Sie in Ihrer Studie innerhalb der rechten Szene in diesem Punkt feststellen?

Andreas Klärner: Zu Beginn meiner Studie setzte die Strategie der taktischen Zivilisierung innerhalb der Rechten ein. In meinen Interviews, die ich mit Aktivisten führte, wurde aber deutlich, dass es immer die Hoffnung gab, dass irgendwann der Tag X, der „Umsturz“ kommen wird, an dem ein völkisch homogener Staat mit kämpferischen Mitteln durchgesetzt werden kann. Einer radikalen Anhängerschaft muss schließlich das Versprechen gegeben werden, dass ein Umsturz des Systems möglich ist, was Gewalt wiederum nicht ausschließt oder gar impliziert. Diese Spannungsmomente gab es schon während meiner Studie, derzeit brechen sie offen aus.

Gewaltbereites “Umfeld der Bewegung“

In Ihrem Buch sprechen Sie von einem„starken Sendungsbewusstsein“ der extremen Rechten: Rechtsextreme wollen die Gesellschaft radikal verändern, neigen aber eher zu „taktischen und strategischen Überlegungen“ als zu spontanem gewalttätigen Handeln. Sprechen Rechtsextreme darum soziale Themen an und übernehmen linke Strategien, um autoritäre und neofaschistische Implikationen zu kaschieren?

Andreas Klärner: Das ist ein interessanter Punkt. Zunächst verstehen sich Rechtsextreme als Nationalisten und müssen ein positives Bild der Nation aufrecht erhalten. Dann wissen sie, dass der Nationalsozialismus als eines der größten historischen Verbrechen angesehen wird und diese Sicht eine breite Bevölkerungsschicht teilt. Mitglieder werden darum geschult, in der Öffentlichkeit nicht über den Nationalsozialismus zu sprechen. Darum gibt es eine Hinwendung zu aktuellen und sozialen Themen, das bringt wiederum unlösbare Probleme für die extreme Rechte mit sich.

Die da wären?

Andreas Klärner: Zum einen muss die extreme Rechte klar stellen, dass sie eine radikale Opposition zum bestehenden System ist und einen völkischen, nationalen Gegenentwurf haben. Dieser Politikentwurf, ein von Andersdenkenden und „Andersartigen“ gereinigtes Deutschland, wäre aber nur mit Gewalt durchsetzbar. Zum anderen muss sie auf Gewalt verzichten, um breite Bevölkerungsschichten zu erreichen und Sympathien einzuwerben.

Sie teilen die extreme Rechte in Ihrer Studie vor Ort ein in eine „lokale Bewegungselite“, in „Basisaktivisten“ und in das „Umfeld der Bewegung“. Welche Unterschiede existieren bezüglich dieser Gruppen und versucht die extreme Rechte gerade durch die Einflussnahme auf das „Umfeld der Bewegung“, breite Bevölkerungsschichten zu erreichen?

Andreas Klärner: Ja, das tut sie. Die „lokale Bewegungselite“ ist schon sehr lange dabei und übernimmt strategische und taktische Aufgaben. Sie organisiert Veranstaltungen wie Demonstrationen und Mahnwachen und sie hat für die rechte Szene Orientierungsfunktion. Die „Basisaktivisten“ haben hingegen wenig Erfahrung und sind in der Regel wesentlich jünger, meist im Alter zwischen 15 und 17 Jahren. Die „Basisaktivisten“ haben eine hohe Bereitschaft, sich für die Ziele der Rechten einzusetzen - sie kleben Plakate oder bauen Sitzbänke bei Veranstaltungen auf.

Das „Umfeld der Bewegung“ setzt sich wiederum stark aus einem informellen Schlägermilieu zusammen, es ist stark von Arbeitslosigkeit bedroht oder bereits betroffen, viele haben auch Alkoholprobleme und neigen zu spontanen Gewalttaten. Diese Leute verstehen sich trotzdem als politische Kämpfer im „Rassenkampf“, sind aber im Unterschied zu den „lokalen Bewegungseliten“ nur schwer erreichbar und und von der „lokalen Bewegungselite“ zu disziplinieren.

Profitiert das rechte Spektrum aber nicht gerade von einem „Umfeld der Bewegung“, das nicht diszipliniert werden muss? Umfasst diese Umfeld auch jene Personengruppen, die sich als nicht-rechts definieren, dennoch häufig rassistisch denken und argumentieren und mit der NPD vor Ort kein Problem haben?

Andreas Klärner: Ja, auch diese Leute sind Teil des „Umfeldes der Bewegung“. Insgesamt handelt es sich hier um unsichere Kantonisten, die mal auf Veranstaltungen der Rechten erscheinen, dann wieder nicht. Die „lokalen Bewegungseliten“ versuchen auf dieses „Umfeld der Bewegung“ gezielt Einfluss zu nehmen. Der heutige Rechtsextremismus zeichnet sich vor allem durch seine Vielfalt von Aktivitäten, Organisationen und Tendenzen aus.

Sie beschreiben den Rechtsextremismus in ihrem Buch darum als soziale Bewegung. Christoph Butterwegge hatte vor bald einem Jahrzehnt in Bezug auf die rechte Szene von einer „unsozialen Bewegung“ gesprochen, da sich die rechte Szene keineswegs für sozial Benachteiligte einsetze. Was haben sie dem entgegen zu setzen?

Andreas Klärner: Christoph Butterwegge hat zunächst Recht von einer unsozialen Bewegung zu sprechen, wenn man das soziale mit „gut“ gleichsetzt. Ich, und eine Reihe anderer Forscher, verstehen den Begriff der sozialen Bewegung jedoch nicht normativ, sondern formal, das Soziale in den sozialen Bewegung ist als Bewegung von Menschen zu verstehen. In sozialen Bewegungen gibt es immer viele nebeneinander stehende Kleingruppen, die agieren, soziale Bewegungen sind polyzentrisch.

Große ideologische Spannbreite und Diversität

Die Organisationsstruktur sozialer Bewegungen, das schreiben sie in Ihrem Buch selbst, ist zugleich nicht „hierarchisch“ und nicht „zentralistisch“. Warum beschreiben sie den Rechtsextremismus als soziale Bewegung, wenn die extreme Rechte auf einen Führerstaat rekurriert?

Andreas Klärner: Merkmale von sozialen Bewegungen sind, dass sie nicht von Parteien dominiert werden, wenn diese auch Einfluss nehmen können. Es gibt kein Parteiprogramm, an das sich alle halten müssen. Mittlerweile gibt es in den Reihen der extremen Rechten eine große ideologische Spannbreite und Diversität.

Steht sich die extreme Rechte aufgrund dieser Diversität nicht selbst im Wege? Eine Vielfalt von Aktivitäten und Organisationen hat eine Enthierarchisierung zur Folge und impliziert die Infragestellung von Führungspersönlichkeiten.

Andreas Klärner: Die extreme Rechte ist heute vor allem von westlichen modernen Jugendkulturen geprägt und keinesfalls in ihren Aktions- und Organisationsformen einheitlich. Wir haben es heute gewissermaßen mit einer Nach-68er-Rechten zu tun, die in Teilen antiautoritäre Elemente aufweist. Diese lassen sich nur schwer ins Weltbild der Rechten integrieren und führen immer wieder zu Konflikten. In der sozialen Bewegung des Rechtsextremismus gibt es heute ein Nebeneinander von „kleinen Führerchen“. Dazu muss man sich nur die vielen Internertforen anschauen, in denen rechte Führungspersonen offensiv kritisiert und infrage gestellt werden. Führungskader müssen sich rechtfertigen und verteidigen, das Prinzip von Befehl und Gehorsam funktioniert hier nicht mehr absolut.

„Nein, ich denke für mich selbst“

Das führt ja nicht nur zu internen Konflikten, die Ziele der Rechten ließen sich auch aufgrund der Vielfalt und Komplexität in der heutigen Zeit kaum in die Tat umsetzen. Sie kann dem doch nur mit einfachen und menschenverachtenden Losungsmustern begegnen...

Andreas Klärner: Das Weltbild, das die Rechte heute vertritt, ist mit ihren Handlungen in weiten Teilen nicht mehr vereinbar. Zum einen hat die kulturelle Öffnung des Rechtsextremismus dazu beigetragen, dass er für viele, gerade für Jugendliche, attraktiv wird. Zum anderen sagt ein Teil der rechten Szene heute bewusst, „Nein, ich denke für mich selbst“ und vertritt ein individualistisches Weltbild. Viele steigen darum schneller aus der rechten Szene wieder aus. Man gewinnt an Attraktivität, verliert zugleich an Verbindlichkeit.

Sie haben in ihrer Studie trotzdem eine „äußerst aktive rechtsextreme Szene“ untersucht. Wie ist das bürgerliche Engagement vor Ort, sich gegen die rechtsextreme Szene auszusprechen? Konnten Sie in ihrer Studie auch ein „Umfeld der Gegenbewegung“ ausmachen, wenn die Grenzen so fließend sind?

Andreas Klärner: Das ist einer meiner wichtigsten Beobachtungen. In dieser Stadt, die ich A-Stadt nenne, gab es ein breites Spektrum an zivilgesellschaftlichen Kräften von Gewerkschaftern, Antifa hin zu Lokalpolitikern, Geschäftsleuten, Professoren und „normalen“ Bürgern. Die Entwicklungen vor Ort wurden nicht einfach hingenommen, vielmehr thematisiert in den lokalen Zeitungen, im Stadtrat und es gab zahlreiche Gegendemonstrationen.

Nach der Wende gab es schaurige Bilder von klatschenden Personen am Straßenrand neben brennenden Asylbewerberheimen. Sind diese Zeiten vorbei?

Andreas Klärner: Offene Sympathiebekundungen für brutale Gewalttaten gibt es nur noch selten, aber nach wie vor ist es vor allem in ländlichen und strukturschwachen Gegenden mit einer hohen Abwanderungsquote und hoher Arbeitslosigkeit schwer, zivilgesellschaftliche Kräfte zu mobilisieren und zu stärken. Gleichwohl gibt es vielerorts Tendenzen zur Gegenmobilisierung, das sind auch positive Entwicklungen.

Längere Tradition demokratischer Erziehung in Westdeutschland

Was glauben Sie, zu welchen Ergebnissen wären Sie gekommen, wenn Sie in einer westdeutschen Stadt geforscht hätten?

Andreas Klärner: In einer von der Größenordnung vergleichbaren westdeutschen Stadt würde ich erwarten, dass die bürgerliche Gegenbewegung noch stärker ist und eine breitere Basis hat. Das liegt unter anderem daran, dass der Anteil von Migranten in der Bevölkerung deutlich höher ist, diese Menschen von Anfeindungen direkt betroffen sind und sich auch wehren würden. Zudem gibt es eine längere Tradition zivilgesellschaftlichen Engagements in Westdeutschland. Die extreme Rechte wäre in einer westdeutschen Stadt vermutlich nicht so offen aufgetreten.

Studien zeigten dennoch, dass das rechtsextreme Einstellungspotenzial in westdeutschen Städten auf ostdeutschem Niveau sein kann, es nur zu weniger Übergriffen kommt und sich rechtsextreme Strukturen nicht derart manifestieren. Gibt es in Westdeutschland einen an der Demokratie geschulten Extremismus?

Andreas Klärner: Ja, vielleicht kann man das so sagen. Zum einen lässt sich nicht umstandslos von Einstellungen auf Verhalten schließen. Zum anderen gibt es in Westdeutschland eine längere Tradition demokratischer Erziehung, die dazu beigetragen hat, dass Aussagen und Ausschreitungen gegenüber Minderheiten stärker tabuisiert oder unterbunden werden. So gibt es Leute, die rechts und rassistisch denken, es sich aber in der Öffentlichkeit niemals trauen würden, so etwas auszusprechen.