Ein Tag ohne Immigranten

Hunderttausenden von "illegalen" Einwanderern in den USA beim gestrigen Protest ist die zumindest kurzfristige Wiederbelebung der in Vergessenheit geratenen 1.Mai-Tradition zu verdanken.

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Einen 1. Mai wie diesen haben die USA seit mehr als hundert Jahren nicht mehr erlebt. Von der West- bis zur Ostküste gingen in Dutzenden von Großstädten und zahlreichen kleineren Orten gegen Warnungen von Regierung, Kirchen und selbst von Einwandererorganisationen Hunderttausende von Arbeitern und Angestellten aus den Niedriglohnsektoren auf die Straßen - und das, obwohl der 1. Mai in den USA seit dem Haymarket-Massaker in Chicago von 1886 als normaler Arbeitstag gilt und stattdessen ein "Labour Day" im September als Feiertag eingeführt worden war, der als unpolitischer "fun day" begangen wird.

Demonstration in Los Angeles. Foto: LA Indymedia

Mit dem Aufruf "No work, no school, no buying, no selling" hatten die Organisatoren zum "Mayday"-Boykottstreik mobilisiert, der dem Durchschnitts-Amerikaner und dem US-Parlament vor Augen führen sollte, dass "Un dia sin immigrante" einen Bruch mit "business as usual" bedeuten kann.

Tatsächlich musste Tyson Foods Inc., der weltweit größte Fleischproduzent, ein Dutzend seiner mehr als 100 Fabriken wegen der Abwesenheit von Arbeitern dichtmachen. Ebenso lieferte Goya Foods, der größte Latino-Nahrungsmittellieferant, für einen Tag keine Produkte aus. Die Geflügelfirma Perdue, die ihre Produkte in Tausende von US-Supermärkte liefert, schloss 8 ihrer 14 Niederlassungen. Zahlreiche mittlere Unternehmen, die auf die Arbeitskraft von Latinos angewiesen sind, meldeten "ungewöhnlich hohe Krankmeldungen". Schulen in Vierteln mit einem überdurchschnittlich großen Anteil spanischsprachiger Schüler verzeichneten eine hohe Abwesenheitsrate. So manches Hotel und Restaurant sowie etliche Agrarbetriebe, vor allem im südlichen Kalifornien, registrierten ausbleibende Arbeitskräfte.

Der Boykotttag erfolgte als Höhepunkt von Protesten (Hoy marchamos, mañana votamos) im März und April gegen beabsichtigte Strafrechtsverschärfungen durch den US-Kongress und inmitten einer Debatte im Washingtoner Establishment um die "Immigrationsreform". Laut dem Washingtoner Pew Hispanic Center stellen die Latinos, Einwanderer aus spanischsprachigen Ländern südlich der USA, 13 Prozent der US-amerikanischen Arbeitskräfte dar. Geschätzte 12 Millionen Latinos sind "Illegale" ohne Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung.

CNN listete als Zentren der Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen New York, Washington, Las Vegas, Miami, Chicago, Los Angeles, San Francisco, Atlanta, Denver, Phoenix, New Orleans und Milwaukee auf. Die Nachrichtenagentur AP errechnete in einer ersten Erhebung, die auf der Grundlage von Polizeizählungen, die erfahrungsgemäß niedrig angelegt sind, 1,1 Millionen Menschen, die sich an den Ausständen beteiligten. Es müssen also bis zu zwei Millionen gewesen sein. Die US-Regierung, die einen Großteil der "Illegalen" als Billigstarbeitskräfte mithilfe eines "Gastarbeiterprogramms" zeitweise in den USA behalten will, gab sich angesichts des Boykotts kühl. Auf einer Pressekonferenz sagte Scott McClellan, der noch amtierende Sprecher des Weißen Hauses:

The President is not a fan of boycotts. People have the right to peacefully express their views, but the President wants to see comprehensive reform pass the Congress so that he can sign it into law.

Anlass für die Proteste ist ein im letzten Jahr vom Repräsentantenhaus verabschiedeter Gesetzentwurf, der unter anderem vorsieht, einen mehr als tausend Kilometer langen Zaun an der Grenze zu Mexiko zu errichten und gesetzeswidrige Grenzüberschreitungen als Straftat zu behandeln. Der Entwurf lässt allerdings auch die Option offen, "Illegale", die sich in den USA befinden, wieder auszuweisen. Dies würde den Interessen etlichen Industrien zuwiderlaufen. Bush bezeichnete Massenabschiebungen vergangene Woche deshalb als unrealistisch.

Die "Muskelkraft", die die Arbeiter ohne Dokumente in den USA mithilfe ihrer Forderungen haben könnten , ist im Vergleich zu anderen industrialisierten Staaten der westlichen Welt in der Tat gigantisch. Die "Illegalen" machen etwa fünf Prozent aller Arbeiter und Angestellten aus und könnten in Kombination mit einer klug arrangierten Organisations- und Lobbyarbeit gegenüber dem US-Kongress ihre Interessen durchsetzen. Eine Entscheidung über die "immigration reform" könnte noch diese Woche fallen.