Ein Terroranschlag und ein Kanzleramt, das keine Antworten gibt

Bundeskanzleramt. Bild: Fred Romero/CC BY 2.0

Im Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss ist die häufigste Auskunft von zwei Zeugen aus der Machtspitze des Staates: "Das kann ich Ihnen nicht sagen."

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Wie war das Bundeskanzleramt mit dem Terroranschlag vom Breitscheidplatz befasst? Was weiß man ganz oben im Staat über die Hintergründe? Welche Informationslage bestand? Man muss davon ausgehen, dass eine derartige Tat, die internationale Bezüge aufweist und möglicherweise Bündnispartner wie die USA berührt, Chef- und Chefinnensache ist.

Dazu hatte der Untersuchungsausschuss im Bundestag zwei Zeugen geladen: Klaus-Dieter Fritsche (CSU), damals Staatssekretär und Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, heute in Rente, aber als Berater für den österreichischen Verfassungsschutz tätig. Sowie Sven-Rüdiger Eiffler, damals Leiter des Referates für Terrorismus im Kanzleramt und heute Direktor und Abteilungsleiter im Bundesnachrichtendienst (BND). Zwei Personen also, die nach wie vor Teil der Sicherheitsnomenklatur sind.

Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses haben eine lange Reihe konkreter Sachverhalte zusammengetragen, zu denen sie Antworten erwarten. Was sie bekommen, ist allerdings eine ebenso lange Reihe phänomenaler Nicht-Auskünfte: "...davon habe ich nichts gehört", "...das kann ich Ihnen auch nicht sagen", "keine Erinnerung", "tut mir leid", "kann sein", "weiß nicht, ob ich dabei war", "das höre ich zum ersten Mal".

Konkret. Am 20. Dezember 2016, dem Tag nach dem Anschlag, fand im Bundeskanzleramt wie jeden Dienstag die Besprechung der nachrichtendienstlichen Lage statt. Der BND, der vom Kanzleramt beaufsichtigt wird, übermittelte eine Information über den IS (Islamischer Staat), die Anfang November 2016 gewonnen worden war. Darin geht es um Beispiele für Anschläge mit Kraftfahrzeugen wie LKW auf Märkte oder in Fußgängerzonen. Die IS-Vorschläge lesen sich wie ein Drehbuch für die aktuelle Tat vom Breitscheidplatz.

Der Zeuge Eiffler kann sich nicht erinnern, was damals in der Lagebesprechung besprochen wurde. Der Zeuge Fritsche erklärt, solche Szenarien des IS seien schon vorher bekannt gewesen.

"Das kann ich Ihnen im Moment nicht sagen"

Am 23. Dezember 2016, als der angebliche Attentäter Anis Amri seit dem frühen Morgen tot war, kursierte abends im Kanzleramt eine E-Mail, in der es hieß: Es sei nicht von einem selbständig agierenden Einzeltäter, sondern durch eine Beeinflussung von außen auszugehen.

Fritsche sagt, nach der Informationslage sei nicht klar gewesen, ob Kontaktpersonen von Amri in die Tat mit einbezogen waren. Er sei vom Einzeltäter Amri ausgegangen, könne aber nicht ausschließen, dass es Tatbeteiligte gab. Eiffler erklärt, eine Einzeltäterschaft schließe eine Beeinflussung von außen nicht aus. Nicht gemeint sei damit aber, dass es mehrere Täter vor Ort gegeben habe. Im Übrigen handle es sich um eine Frage, in die sich das Kanzleramt nicht einmische, das sei Sache der Fachbehörden.

Am 24. Dezember 2016 wurde Eiffler mittels E-Mail darüber in Erkenntnis gesetzt, dass Amri einen Mitwisser gehabt haben soll, der sich in Berlin aufhalte. Die Information kam vom BND, der sie wiederum von einem ausländischen Partnerdienst erhalten haben soll.

Wer soll dieser Mitwisser gewesen sein, und um welchen ausländischen Dienst handelte es sich? Eiffler bleibt die Antwort schuldig.

Zu dem Sachverhalt haben die Abgeordneten noch eine weitere E-Mail gefunden, die vom 25. Dezember 2016 stammte und die auch an Staatssekretär Fritsche ging, Inhalt: Zu dem bereits erwähnten mutmaßlichen Mitwisser, der sich in Berlin aufhalten soll, gebe es aktuell verdeckte Polizei-Maßnahmen.

Wieder die Frage: Um wen ging es? Antwort Fritsche: "Das kann ich Ihnen im Moment nicht sagen." Und Eiffler, der vor seinem ehemaligen Vorgesetzten vernommen wurde, gibt eine nahezu deckungsgleiche Antwort: "Das kann ich Ihnen auch nicht sagen." Das Kanzleramt sei nicht für Polizeimaßnahmen zuständig, sondern das Bundesinnenministerium.

Mögliche Personen wären Amris Zimmermitbewohner Khaled A. oder der spätere Mitbeschuldigte Bilel Ben Ammar. In beiden Fällen wäre das allerdings ein Skandal, denn dann hätten die Behörden gewusst, wo sie sich nach der Tat aufhielten. Ben Ammar galt offiziell zehn Tage lang als verschwunden, Khaled A. sogar 15 Tage lang.

In die Causa Ben Ammar sei das Kanzleramt nicht involviert gewesen, so Eiffler auf Nachfrage. Das wiederum überrascht, denn die Abschiebung des mutmaßlichen Mittäters am 1. Februar 2017 war überall Chefsache: im Bundesinnenministerium, Bundesjustizministerium, BKA und GBA.

Am 2. Januar 2017 erhielten Staatssekretär Fritsche und Eifflers Terrorismusreferat eine E-Mail, in der mitgeteilt wurde, dass das Amtsgericht Darmstadt einen Haftbefehl gegen eine Person erlassen wolle, die zum Kontaktumfeld von Amri zählte. Die Information kam erneut vom BND.

Und wieder die Frage: Um wen handelte es sich? Warum war das Amtsgericht Darmstadt involviert? Und warum der BND?

Der Zeuge Fritsche sagt, er könne sich nicht erinnern. Und ergänzt dann ungefragt, dass es um eine Quelle gegangen sein könnte, sehe er nicht. Der Zeuge Eiffler sagt nur, das könne er nicht bewerten.

Wird das mögliche Wissen und Handeln des Bundeskanzleramtes bis heute erfolgreich versteckt?

Nächste Unklarheit: Im April 2017 erging Haftbefehl gegen Nkanga L., ein kongolesischer Staatsbürger, der in Berlin wohnte, zu den Anhängern der Fussilet-Moschee zählte und eine Kontaktperson von Anis Amri war. Grund: Verdacht, an Fluchthilfe beteiligt gewesen zu sein. Um was ging es genau?

Der Zeuge Eiffler kann dazu nichts sagen.

Nach dem Anschlag, Ende Dezember 2016, erhielt der BND von einem ausländischen Nachrichtendienst Videos, die vor dem Anschlag aufgenommen wurden, die Amri mit einer Pistole zeigen und die möglicherweise von einer anderen Person aufgenommen wurden. Diese Videos sind bis heute nicht der Bundesanwaltschaft, die die Ermittlungen zum Anschlag vom Breitscheidplatz führt, weitergeleitet worden, weil der Absender, jener ausländische Nachrichtendienst, das dem BND verboten hat.

Fritsche erklärt, ihm sei gar nicht bekannt, dass die Videos nicht direkt an die Bundesanwaltschaft gegangen seien. Eiffler erklärt, im Kanzleramt habe man erst zwei Monate später, Ende Februar 2017, von einem der Videos erfahren. Vom Inhalt habe er bis zum November 2020 nichts erfahren. Das Video sei aber nicht so entscheidend, als dass man es nicht hätte zurückstellen können.

Das lässt sich allerdings nur so sehen, wenn man mögliche Mittäter ausschließt.

Am 18. Januar 2017 gab es einen US-Luftangriff auf ein IS-Camp in Libyen. Aufgrund von Informationen, die im geheim tagenden Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestags (PKGr) gegeben worden sein sollen, wird immer wieder gemutmaßt, dass der Angriff in Zusammenhang mit dem Anschlag vom Breitscheidplatz stehe.

Fritsche antwortet, die Bundesregierung habe keine entsprechenden Erkenntnisse gehabt. Eiffler sagt, das Kanzleramt habe den BND nach Erkenntnissen angefragt, doch der habe negativ beschieden: keine Erkenntnisse. Mit US-Vertretern habe er aber nicht über den Fall gesprochen.

Eiffler und Fritsche schützten immer wieder die Entschuldigung vor, der Fall Amri sei unter der Federführung der Polizei gelaufen, die Nachrichtendienste seien lediglich von der Polizei unterrichtet worden und hätten nur zugearbeitet. Das deckt sich mit der Erklärung von Ex-Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, Amri sei ein "reiner Polizeifall" gewesen.

Der Auftritt der beiden Zeugen, ihre überbordende Ahnungslosigkeit, hat etwas Grundlegendes: Wird das mögliche Wissen und Handeln des Bundeskanzleramtes und der Kanzlerin bis heute erfolgreich versteckt? Oder lässt die politische Staatsspitze die Dienste machen? Oder kann sie gar nicht anders, als sie machen zu lassen?

Klaus-Dieter Fritsche ist inzwischen im Ruhestand, wurde aber bekannt als Lobbyist für Wirecard und als Berater in Sachen Verfassungsschutz für das österreichische Innenministerium. Als er noch politischer Beamter im deutschen Sicherheitsapparat war, konnte man ihn als Prell- und Rammbock gegen parlamentarische Aufklärungsbemühungen erleben. Im NSU-Untersuchungskomplex verweigerte er Auskünfte mit der Begründung, es dürften keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminierten. Das gelte auch für parlamentarische Untersuchungsausschüsse. Sein jetzt gezeigtes Antwortverhalten erscheint wie eine Spielart dessen, eine andere Form der Blockade.

Auch zu dem erst vor kurzem bekannt gewordenen nachrichtendienstlichen Verfahren namens "Opalgrün" fragten die Abgeordneten die beiden Zeugen. Fritsche will nur vage davon gehört haben, Eiffler will nur aus der Presse davon erfahren haben (Was hat die Verfassungsschutzoperation "Opalgrün" mit dem Anschlag vom Breitscheidplatz zu tun).

Das Verfahren "Opalgrün", bei dem es um die mögliche Unterstützung von Islamisten und Amri durch arabische Kriminalitäts-Strukturen geht, wächst sich aus

Der Ausschuss vernahm hinter verschlossenen Türen zwei frühere Beamte des Verfassungsschutzes von Mecklenburg-Vorpommern: den Führungsbeamten T.S. jenes V-Manns, der über die angebliche Unterstützung aus Berliner Clankreisen berichtet hatte, sowie dessen damaligen Vorgesetzten P.G., der die Weitergabe der Informationen verhindert haben soll.

V-Mann-Führer T.S. hatte sich im Herbst 2019 vertraulich an den Generalbundesanwalt gewandt, wodurch die Affäre ins Rollen kam. Beide Verfassungsschützer bestätigten, dass jene Quelle die fraglichen Angaben gemacht hatte.

Vor der Sitzung veröffentlichte die ARD auf ihrer Webseite Tagesschau.de einen widersprüchlichen Text zu dem Fall.

Verantwortet von ARD-Journalisten, die im Gegensatz zu anderen Kollegen die Entwicklungen im Untersuchungsausschuss nicht beobachten. Zunächst ist in dem Artikel von "hochbrisanten Informationen" aus dem Verfassungsschutz von Mecklenburg-Vorpommern die Rede, die wie das "letzte fehlende Puzzleteil" in das Bild passen würden, das im "Zuge der Ermittlungen über den Anschlag entstanden" sei.

Welches Bild genau sie meinen, erklären sie nicht. Im Laufe der Arbeit des Untersuchungsausschusses wurden bestimmte offizielle Bilder bisher eher erschüttert. Bemerkenswerter aber ist die Aussage im Tagesschau-Text, die Ermittler würden mittlerweile davon ausgehen, dass "an der Geschichte, die der V-Mann erzählte, nichts dran" sei.

Wie nun? Hochbrisant und geheim, geheim, aber dann nichts dran? Nichts dran, aber trotzdem das letzte fehlende Puzzleteil? Die ARD schlägt Alarm und gibt zugleich Entwarnung. Da drängt sich die Frage auf: Soll hier - wieder einmal und unter Einsatz eines etablierten Mediums - eine wichtige Spur kaputt gemacht werden?

Der Untersuchungsausschuss jedenfalls ist alles andere als der Meinung, dass an der Geschichte nichts dran sei. Er hat beschlossen, zu dem Komplex fünf weitere Zeugen zu laden, unter anderem aus dem Verfassungsschutz von Mecklenburg-Vorpommern, aber auch den einst obersten Chef, Ex-Innenminister Lorenz Caffier (CDU). Caffier ist vor wenigen Tagen zurückgetreten, nachdem bekannt geworden war, dass er bei einem Waffenhändler, der mit der rechtsextremen Prepperszene in Verbindung steht, eine Pistole gekauft hat.

In der Sitzung am kommenden Donnerstag wird zunächst der Leiter der Verfassungsschutzabteilung im Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern, Ministerialdirigent Reinhard Müller, zu dem Komplex befragt, allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit.