"Ein Überhegeln Hegels"

Dem marxistischen Philosophen Georg Lukàcs zum 30. Todestag

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Heute vor dreißig Jahren , am 4. Juni 1971, verstarb im Alter von 86 Jahren der marxistische Philosoph und Literaturtheoretiker Georg Lukács, einer der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts

Georg von Lukács wurde als Bankierssohn in Budapest am 13. April 1895 geboren, studierte bei Simmel in Berlin, war in Heidelberg in dem Salon von Max Weber ein gern gesehener Gast, entschied sich während des 1. Weltkrieges für den Kommunismus, war 1919 Volkskommissar für Unterrichtswesen in der ungarischen Räterepublik und lebte nach deren Niederlage in Wien im Exil. Er hielt sich in den dreißiger Jahren in Moskau und Berlin auf, kehrte nach dem 2. Weltkrieg nach Ungarn zurück, wo er 1956 das Amt des Kultusministers bekleidete. Nach dem Aufstand in Budapest entkam er knapp dem Galgen der Stalinisten und lebte dort zurückgezogen bis zu seinem Tod. Sein Werk wird heutzutage in etwa gleichem Maße unterschätzt, wie es prägend war für das geistige Leben des 20. Jahrhunderts.

Schon die Frühwerke von Georg Lukács waren maßgebend für Philosophen, die heute für die Postmoderne als die Meisterdenker des letzten Säkulums gelten, obwohl sie, was die Erfassung philosophischer Probleme im Kontext der gesellschaftlichen Realität anbelangt, weit unter Lukács standen und oft genug ihre eigenen Theorien erst aus einer Anti-Position zu oder einer falschen Radikalisierung Lukácsscher Theoreme entwickelten: Ohne "Geschichte und Klassenbewusstsein" von Lukàcs kein "Sein und Zeit" von Martin Heidegger und keine "Kritische Theorie" von Horkheimer und Adorno. Aber auch auf Literaten, Dichter und Kritiker hat Lukács beträchtlichen Einfluss gehabt. So hat beispielsweise Thomas Mann wesentliche Motive aus dem Essay von Lukács "Die Seele und die Formen" für seine weltberühmte Novelle "Tod in Venedig" übernommen und Lukács auf seine humorige Art in der Figur des "Naphta" im"Zauberberg" verewigt. Auch auf den kürzlich verstorbenen Literaturtheoretiker Hans Mayer hatte Lukács erhebliche Wirkung. Desgleichen stammen sicherlich die seriöse Seite des Literaturkanons und der geistige Hintergrund der beliebten Denkgesten des skurrilen antikommunistischen Ex-Commies Marcel Reich-Ranicki aus dem Hause Lukács. Bedauernswerterweise hat Terry Eagleton Lukács Ästhetik herzlich wenig verstanden.

Georg Lukács Werk wirkt heutzutage im geistigen Leben eher unterirdisch (abgesehen von der Geltung für den amerikanischen Philosophen Tom Rockmore und marxistische Theoretiker von Rang wie Hans Heinz Holz, Werner Seppmann, Hartmut Krauss oder Thomas Metscher), da sich der Schwachsinn der Postmoderne vollständig aus zu Lukács gegenläufigen Modellen ableiten lässt und einige seiner besten Werke, darunter die 1800seitige "Eigenart des Ästhetischen" und die "Ontologie des gesellschaftlichen Seins", heutzutage entweder völlig unterschätzt oder unbekannt geblieben sind.

Seit 1996 gibt es die Internationale-Georg-Lukács-Gesellschaft, die mit einer Jahrbuchreihe in der eine Folge von lesenswerten Beiträgen von und über Lukács (z.B. das Dossier "Geschichte und Klassenbewusstsein heute" mit Arbeiten von Tom Rockmore und Eberhard Braun im aktuellen Jahrbuch), Essays zum geistigen Umfeld des Philosophen (u.a. von Agnes Heller) und kritische Fortsetzungen seiner Ästhetik, Philosophie und politischer Theorie veröffentlicht werden, Person und Werk von Georg Lukács ehrt.

Am 9. Juni veranstaltet die "Lukács-Gesellschaft" mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Leipzig in der Harkortstr. 10 anlässlich des 30. Todestages von 10.00-18.00 Uhr die wissenschaftliche Tagung "Sozialismus und Demokratie. Antworten Georg Lukács auf ein unabgegoltenes Problem", wo u.a. Erich Hahn und Helmut Seidel Vorträge über den Ideologiebegriff bei Lukács und sein Verhältnis zu Hegel halten werden.

Eine der wesentlichsten Schriften von Lukács ist die in Geschichte und Klassenbewusstsein veröffentlichte, zwar überaus schwer verständliche, aber alle Anstrengung lohnende Abhandlung über die "Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats". Es handelt sich um eine elementare Rekonstruktion des Begriffs "Totalität". Hier wird einerseits das Marxsche Erbe an der idealistischen Philosophie, der Verweis auf den Produziertheitscharakter von sozialen Entitäten auf großartige Weise herausgeschält, anderseits das Subjekt dieses Prozesses - das Proletariat - demiurgisch (Lukács selbst sprach später diesbezüglich selbstkritisch von einem "Überhegeln Hegels") überhöht. Als Rekonstruktion von Hegels Dialektik auf marxistischer Grundlage ist die Schrift von zentraler Bedeutung für die Erkenntnis von Theorie und Praxis der bürgerlichen Gesellschaft: In beiden Sphären wird die Subordination unter gesellschaftliche Teilprozesse (die den Menschen notwendigerweise als isolierte "Fakten" erscheinen) bei einem grundsätzlich als nicht zu erkennenden und regelnden ausgegebenen Gesellschaftsganzen zur Grundlage menschlichen Handelns gemacht

(...) der Mensch der kapitalistischen Gesellschaft steht der - von ihm selbst (...) - "gemachten" Wirklichkeit als einer ihm wesensfremden "Natur" gegenüber, er ist ihren "Gesetzen" bedingungslos ausgeliefert, seine Tätigkeit kann nur darin bestehen, den zwangsläufigen Ablauf einzelner Gesetze für sein (egoistisches) Interesse zu verwerten. Aber selbst in dieser "Tätigkeit" verbleibt er (...) Objekt und nicht Subjekt des Geschehens.

Georg Lukács

Die Existenzbedingungen der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft entwickeln sich auf den ersten Blick in einer scheinbaren Zwangsläufigkeit und entziehen sich einer geschichtlich-dialektischen Betrachtungsweise, die jede gewordene Form, jedes Sein nicht nur positiv, als etwas Bestehendes, sondern auch negativ, in seinem Übergang in eine bestimmte andere Form, als Werden und Vergehen, also nach seiner vergänglichen Seite aufzufassen imstande ist.

Die Faktizität der Fakten ist nicht die Wirklichkeit der Fakten, sondern ihre fixierte Oberflächlichkeit, Einseitigkeit und Unbeweglichkeit. Die Wirklichkeit der Fakten ist der Faktizität der Fakten nicht etwa deshalb entgegengesetzt, weil sie eine Wirklichkeit anderer Ordnung wäre und damit eine von den Fakten unabhängige Wirklichkeit, vielmehr deshalb, weil sie die innere Beziehung, die Dynamik und Widersprüchlichkeit der Totalität der Fakten ist.

Karel Kosik

Georg Lukács gebührt mit seiner Verdinglichungsschrift das Verdienst, aufgezeigt zu haben, dass die bürgerlichen Ideologeme keinen willkürlichen Akt oder willentlichen Selbstbetrug, sondern vielmehr eine Art Bewusstseinsreflex darstellen, dem alle Menschen (d.h. nicht nur die Bourgeoisie sondern auch die Lohnabhängigen) ständig unterworfen sind. Denn sie werden in der modernen kapitalistischen Gesellschaft in ihren sozialen Tätigkeiten paradoxerweise von Strukturen unterjocht, die sich zunehmend verselbständigen, obwohl sie diese Strukturen unbewusst selbst produzieren und reproduzieren.

Die ausgeprägte Warenwirtschaft begreift Lukács als ein Verhältnis,

in dem Menschen einerseits in ständigen Maßen die bloß "naturwüchsigen", die irrational-faktischen Bindungen zersprengen, ablösen und hinter sich lassen, andererseits aber gleichzeitig in dieser selbstgeschaffenen, "selbsterzeugten" Wirklichkeit eine Art zweite Natur um sich errichten, deren Ablauf ihnen mit derselben unerbittlichen Gesetzmäßigkeit entgegentritt, wie es früher die irrationalen Naturmächte (...) getan haben.

Dem verdinglichten Bewusstsein erscheinen nun die gesellschaftlichen, menschlichen Beziehungen als Beziehungen von Sachen. Dieser Schein der kapitalistischen Produktionsweise jedoch ist realer gegenständlicher Schein, notwendiger Ausdruck der entfremdeten Formen der gesellschaftlichen Produktion.

So spiegelt das fetischisierte Bewusstsein der Warenproduzenten das Charakteristikum der kapitalistischen Warenwirtschaft wieder - die Menschen/Warenproduzenten beziehen sich auf die Menschen/Warenproduzenten über die Sachen: Menschliche Beziehungen werden versachlicht, sachliche Beziehungen vermenschlicht und die versachlichten menschlichen Beziehungen sind Sachzwängen unterworfen, die, weil sich die Menschen über Waren vergesellschaften und Waren Konjunkturen unterworfen sind, die Macht eines Fatums über die Menschen besitzen.

Damit aber wird eine historisch bestimmte gesellschaftliche Produktionsweise naturalisiert und fälschlicherweise mit den Weihen der Unvergänglichkeit versehen. Denn es werden zwar die Erscheinungsphänomene für sich korrekt wiedergegeben, aber ohne auf ihr (von Menschen produziertes) Wesen zu dringen, das sich in den Erscheinungen in verkehrter (verdinglichten) Form darstellt. Aufgabe der Dialektik ist es, diesen realen Schein zu entmystifizieren und zu defetischisieren, ihn als Produkt menschlicher Tätigkeit aufzuzeigen und die "Tatsachen" in soziale und geschichtliche Prozesse aufzulösen.

Die Dialektik sieht die fixierten Schöpfungen, Gebilde und Gegenstände, den ganzen Komplex der materiellen, dinglichen Welt, ebenso wie die Welt der Vorstellungen und des geläufigen Denkens, nicht als etwas Ursprüngliches und Selbständiges an, sie nimmt sie nicht in ihrer fertigen Gestalt, sondern unterwirft sie einer Untersuchung, in der die verdinglichten Formen der gegenständlichen und ideellen Welt auflösen, ihre Fixiertheit, Natürlichkeit und angebliche Ursprünglichkeit verlieren und sich auf diese Weise als abgeleitete und vermittelte Erscheinungen, als Sedimente und Gebilde der gesellschaftlichen Praxis der Menschen zeigen.

Karel Kosik

Es ist nicht die Aufgabe der dialektischen Gesellschaftstheorie sich defätistisch-pragmatisch einem beobachteten Fixum von Tatsachen unterzuordnen oder sich über diese anarchistisch-voluntaristisch zu erhöhen. Es gilt vielmehr die wesentlichen Vermittlungszusammenhänge als in der Gesellschaft selbst stattfindende antagonistische Prozesse aufzudecken.

Es sei noch erwähnt, dass der späte Lukács in seiner "Zerstörung der Vernunft" die wegen ihres apologetischen Charakters zunehmend irrationale Ausrichtung der bürgerlichen Philosophie nach Hegel bis zu ihrem Zusammenbruch im Faschismus nachgewiesen hat. Leichtfertige Bewunderer postmoderner Windbeutel können hier und in der "Ästhetik" sowohl die angebliche "Originalität" ihrer Idole überprüfen, als auch sich selbst rechtzeitig in Sicherheit bringen: man sage diesmal nicht wie dereinst Heidegger, man hätte "es nicht gewusst."