Ein deutscher Held

Seite 2: Lange Nachwirkungen

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Die Lutherbegeisterten, die das nicht leugnen, möchten sich oft in die Behauptung retten, die antisemitische Hetze Luthers sei bald nach seinem Tod vergessen worden und habe historisch kaum noch eine Rolle gespielt. Das ist erwiesenermaßen falsch, wie nicht nur die Bezugnahme Martin Sasses auf Luther im Zusammenhang mit den Novemberpogromen von 1938 belegt.

Christian Pfeiffer führt in einem Artikel von 2014 den evangelischen Theologen Hermann Steinlein an, der schon 1932 die bruchlose Wirkungsgeschichte des Lutherschen Antisemitismus belegt hatte:

Steinlein konnte aufzeigen, dass sämtliche bis dahin erschienenen Gesamtausgaben Luthers dessen zweite Judenschrift enthielten und dass es ferner vier gesonderte Nachdrucke gab, mit denen das Werk im 16. bis 19. Jahrhundert vollständig oder in Auszügen erneut publiziert worden war. (…) Steinlein führte ergänzend eindrucksvolle Beispiele für volkstümliche Schriften an, in denen mit scharf antisemitisch orientierter Grundhaltung Luthers Thesen verbreitet wurden. Cicero

Pfeiffers eigenes Fazit:

Luthers späte Schriften erfuhren, gerade weil ihr Autor der große Reformator war, immer wieder starke Beachtung. Sie konnten so über Jahrhunderte hinweg bei der Begründung und Fortentwicklung judenfeindlicher Einstellungen und Verhaltensweisen eine wichtige Rolle spielen.

Christian Pfeiffer

Auch was den Hexenwahn anging, verschärfte Luther die handelsübliche Rhetorik auf eigene Rechnung. Hartmut Hegeler schreibt unter Bezugnahme auf den Religionswissenschaftler Jörg Haustein:

Luther forderte nicht nur die Tötung der Hexen, sondern auch mehrfach deren Folter und Feuertod, und das nicht nur für Schadenszauber, sondern auch, weil sie Umgang mit dem Teufel haben, ohne jeglichen Schaden anzurichten. Haustein erwähnt "die enorme Vergrößerung des Kreises der potentiellen Angeklagten durch die Kriminalisierung des Aberglaubens", was "ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu den epidemischen Hexenverfolgungen der kommenden Jahrzehnte" sei.

Hartmut Hegeler

Luther war eben nicht nur "Kind seiner Zeit", sondern prägte seine Zeit ganz entscheidend ideologisch mit, und zwar in einer Weise, die in verschiedenen Kontexten auf Massenmord hinauslief. Selbst wenn aber seine Hassreden nur zeittypische Phänomene gewesen wären, fragt sich doch, warum man ihn und sein Gedankengut heute noch feiern sollte.

Der Aufklärer Luther?

Die Antwort der unverbesserlichen Lutherfans auf diese Frage lautet oft, er sei doch immerhin so etwas wie ein Aufklärer gewesen. Habe doch seine Übersetzung der Bibel ins Deutsche dafür gesorgt, dass die Gläubigen ab da immerhin gewusst hätten, was ihr heiliges Buch überhaupt enthielt.

Dazu ist zu sagen, dass der Unsinn, der in der Bibel steht, in allen Sprachen gleich unsinnig ist, und dass das Bedenkenswerte, was sie enthält, noch nie vom Missbrauch durch Kirchen gleich welcher Art profitiert hat. (Vielleicht sollte am Rand erwähnt werden, dass Luther die Bibel keineswegs als Erster ins Deutsche übersetzt hat.)

Schon gar nicht aufklärerisch kann eine Strategie genannt werden, die die Übersetzungarbeit an einer religiösen Schrift mit einer Hetzkampagne gegen Minderheiten und einer unkritischen Verherrlichung staatlicher Macht flankiert. Das ist das genaue Gegenteil von Aufklärung. Versteht man Aufklärung enger, nämlich nur als die Förderung wissenschaftlichen Denkens, dann sollte man sich einmal Luthers Haltung zu einem Zeitgenossen vor Augen halten, der wirklich um Aufklärung bemüht war: Nikolaus Kopernikus.

Von Martin Luther ist eine kritische Äußerung über die zentrale These des Kopernikus überliefert: "Der Narr will mir die ganze Kunst Astronomia umkehren! Aber wie die Heilige Schrift zeigt, hieß Josua die Sonne stillstehen und nicht die Erde!" (M. Luther) unter Berufung auf Jos 10,12-13 LUT, die aus Luthers wörtlichem Verständnis des Bibeltextes resultiert. Nach dieser Bibelstelle ließ Gott die Sonne für einen Tag stillstehen, woraus Luther folgerte, dass sie normalerweise in Bewegung sein müsse.

Aus dem Wikipedia-Eintrag zu Kopernikus

Zwei große Talente

Luther benutzte seine reformierte Religion und ihre zentrale religiöse Schrift in militanter Weise als Zuchtrute gegen andere. Grundsätzlich favorisierte er eine wörtliche Auslegung der Bibel, aber wenn es gerade opportun war, fabulierte er ganz nach eigenem Gusto hinzu, oft im Sinne einer Steigerung der eifernden Aggression.

Laut Thomas Kaufmann speist sich Luthers Judenbild "aus antijüdischen christlichen Traditionen, die bereits im Neuen Testament zu finden seien - aber eben nicht nur. Luther unterstellt Juden auch 'verdorbenes Blut'". Für Kaufmann ist das eine Frühform des Antisemitismus:

Die Vorstellung, dass Juden ein eigener Menschentypus sind, dem nicht zu trauen ist, der verschlagen ist, der alles darauf anlegt, Christen zu übervorteilen oder noch Schlimmeres. Das sind Vorstellungen, die auch bei Luther immer wieder anzutreffen sind und die ich nicht ohne weiteres auf eine biblische Grundlage zurückführen kann.

Thomas Kaufmann

Genau darum ist es völlig korrekt, Martin Luthers Reformation als den Islamismus des Christentums zu bezeichnen, wie Arno Widmann das jüngst getan hat.

Luther hatte zwei wesentliche Talente: ein taktisches und ein demagogisches. Mithilfe des taktischen sorgte dafür, dass er sich durch geschickte politische Allianzen und herrschaftlichen Rückenwind in der Auseinandersetzung mit einem bösartigen und mächtigen Gegner durchsetzen konnte, der nichts weniger wollte, als sich "reformieren" zu lassen: die katholische Kirche.

Sein demagogisches Talent benutzte Luther, um der Reformation in seinem Namen eine militante Massenbasis zu verschaffen und zu erhalten. Genau durch die Wechselwirkung seiner Persönlichkeit und seiner beiden Haupttalente mit der historischen Situation entstand die Wucht, die die Reformation auszeichnete.

Am Ende hatte er ein althergebrachtes, teilweise morsch gewordenes Unterdrückungssystem durch ein ideologisch modernisiertes Modell ergänzt, welches es im Verlauf seiner Geschichte mit allem aufnehmen konnte, was sein parallel fortexistierendes Vorbild an Schrecken zu bieten hatte.

Aber die Deutschen verehren gern. Deutsche Verehrung und deutscher Hass wirken lange. Martin Luther, als Objekt der spezifisch ihm geltenden Verehrung und als Subjekt des spezifisch von ihm ausgehenden Hasses ist ein gutes Beispiel dafür.