Ein neuer Mensch
In Sibirien lebte zusammen mit dem Neandertaler und dem anatomisch modernen Menschen eine dritte Menschenart
Ein Fingerknochen enthielt das Erbgut, das zur Folge hat, dass die Geschichte der Evolution der Menschheit umgeschrieben werden muss. Das Individuum, aus dessen Hand der fossile Knochen stammt, gehörte nach der DNS-Analyse zu einer ausgestorbenen Menschenart, die bislang unbekannt war.
So ist das in der Wissenschaft: Da wird mühsam eine Theorie entworfen, in die alle Beweise passen und eine Weile sorgt jede neue Entdeckung für ihre Bestätigung. Aber dann kommt ein neues winziges Puzzleteil ins Spiel, und zumindest Teile des gängigen Modells müssen plötzlich revidiert werden.
2008 gruben Paläontologen in der Denisova-Höhle im zentralasiatischen Altai-Gebirge einen Fingerknochen aus, der von einem Kind stammt, das vor etwa 48.000 bis 30.000 Jahren dort gelebt hat, wie der Fundzusammenhang ergab. In dieser Höhle in Sibirien lebten bereits seit 125.000 Jahren immer wieder Hominine. Aber von den meisten sind nur Bruchstücke erhalten – wie auch von diesem kleinen menschlichen Wesen, das uns nur sein Fingerchen vermachte. Der Knochen war klar menschlich, aber ohne weitere dazu gehörende Skelettteile, war es unmöglich zu bestimmen, zu welcher Art Mensch er einst gehörte.
Uralte DNS
Das brachte die Ausgräber auf die Idee, sich an die evolutionären Genetiker zu wenden, die in den letzten Jahren mit völlig neuen Verfahren sensationelle Erfolge erzielt haben. Die Forscher vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie machten zuletzt vor gut einem Jahr mit der ersten Version der Entzifferung des Neandertaler-Genoms Schlagzeilen (vgl. Sex ja, Kinder nein). Jetzt präsentiert das wissenschaftliche Team um Johannes Krause in der aktuellen Ausgabe des Fachblatts Nature das spektakuläre Resultat der mitochondrialen DNS-Analyse des sibirischen Fingerknöchelchens: "The complete mitochondrial DNA genome of an unknown hominin from southern Siberia".
Gerade mal 30 Milligramm Knochenpulver bekamen die Genetiker ausgehändigt und begannen ihre mühevolle und aufwändige Prozedur der Gensequenzierung. Sie untersuchten das uralte Erbgut aus den Mitochondrien, den "Kraftwerken der Zelle", und verglichen es mit der mitochondrialen DNS sowohl von Neandertalern als auch von heute lebenden Menschen. Dabei stellten sie eindeutig fest, dass das Kind, das vor mehr als 30.000 Jahren gelebt hatte, zu keiner dieser beiden Menschenarten gehörte.
„X-Woman“, wie sie die Forscher liebevoll nennen, ist die erste ihrer Art, von der wir erfahren. Im Altai-Gebirge lebten nachweislich zur gleichen Zeit Neandertaler, der anatomisch moderne Mensch – unser direkter Vorfahre – wanderte vor circa 40.000 Jahren dort zu. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass alle drei Menschenarten auf der Jagd parallel die Täler durchstreiften und sich begegneten.
Gemeinsamer Vorfahre vor 1 Million Jahren
Um ganz sicher zu gehen, wurde die uralten mitochondriale DNS, die ausschließlich von der Mutter an die Nachfahren vererbt wird, immer wieder gelesen, jedes Nukleotid durchschnittlich 156 Mal: Danach verglich die Gruppe um Johannes Krause das Resultat mit dem genetischen Code von 54 modernen Menschen, dem eines 30.000 Jahre alten Homo sapiens aus Russland und sechs Neandertaler-Individuen, sowie Menschenaffen. Das Ergebnis war eindeutig: Der Denisova-Hominin ist anders, eine eigene Art, die sich deutlich von seinen Zeitgenossen Homo neanderthalensis und Homo sapiens unterscheidet. Zwischen den beiden anderen Menschenarten gibt es durchschnittlich Unterschiede von 202 Nukleotidpositionen im mitochondrialen Genom, die sibirische X-Woman weist mit 385 deutlich mehr auf.
Die Abstammungslinie zwischen Neandertaler und modernem Menschen hat sich vor etwa 500.000 Jahren getrennt, der letzte gemeinsame Vorfahr aller drei Menschenarten lebte vor einer Million Jahre. Damit liefert das Erbgut dieser neuen Menschenform einen Hinweis, dass es wahrscheinlich vor einer Million Jahre eine zusätzliche Auswanderungswelle aus Afrika gegeben hat, zwischen derjenigen der Homo erectus vor etwa 1,9 Millionen Jahren und der viel späteren des Homo sapiens vor 50.000-90.000 Jahren (vgl. Der moderne Mensch kam durch die Hintertür) .
Der mindestens 30.000 Jahre alte Fremde aus Sibirien mischt die Vorstellung der menschlichen Evolution auf. Immer mehr verdichten sich in den letzten Jahren die Hinweise, dass es im Stammbaum der Homininen viele abgestorbene Zweige und gleichzeitiges Auftreten verschiedener Arten von sehr frühen (Vor-)Menschen gegeben hat.
Zuletzt erregte die Entdeckung des Flores-Menschen viele Diskussionen unter den Paläoanthropologen. Die genaue Abstammung und die Einordnung des Homo floresiensis, der bis vor 13.000 existierte, ist noch heftig umstritten (vgl. Hobbit-Vorfahren).
Und jetzt taucht plötzlich der sibirische Urgroßonkel des heutigen Menschen aus dem Dunkel der Vorgeschichte auf. Spannend, dass er nicht aufgrund abweichender äußerlicher Merkmale seiner Knochen, sondern als erster durch die prägnanten Unterschiede seines Erbguts entdeckt wurde.
Die evolutionären Genetiker werden sicherlich in den kommenden Jahren noch viel zu den Erkenntnissen über die Herkunft und die Ahnen unserer Spezis beitragen.