"Ein nicht enden wollendes Regime der Ausnahme"
Vorbild für Deutschland? Corona-Maßnahmen in Frankreich: Ausgangssperren werden auf 18 Uhr vorgezogen, Ausnahmezustand geplant bis Ende des Jahres
Die französische Regierung will den Gesundheitsnotstand (l'état d'urgence sanitaire) bis einschließlich 1. Juni verlängern und den gesetzlichen Rahmen, der außergewöhnliche Maßnahmen erlaubt, sogar bis Ende 2021. Ein entsprechender Gesetzesvorschlag werde kommende Woche am Mittwoch dem Ministerrat vorgelegt. Das berichten mehrere französische Medien gestützt auf Regierungsquellen.
Den Anfang machte die Libération, die bereits am Mittwoch über die Regierungspläne berichtete und dem eine Warnung beifügte: Der amtliche Akt könne gefährlich sein, denn die Verlängerung des Gesundheitsnotstandes riskiere, dass man erneut "Öl ins Feuer einer kaum erloschenen Polemik" gieße.
"Ein nicht enden wollendes Regime der Ausnahme", berichtete später der Sender LCI, dessen Quellen ebenfalls bestätigten, dass die Regierung plane, einen Ausnahmezustand bis zum 31. Dezember 2021 zu verlängern.
Nach unseren Informationen wird die Regierung am 13. Januar im Ministerrat einen Gesetzesentwurf vorschlagen, der darauf abzielt, den gesundheitlichen Notstand in Frankreich vom 16. Februar 2021, wie im aktuellen Gesetz vorgesehen, auf den 1. Juni 2021 einschließlich zu verschieben. Der rechtliche Rahmen des Ausnahmezustands - der ein Übergangsregime vor der Rückkehr zur Normalität festlegt - wird vom 1. April 2021 bis einschließlich 31. Dezember 2021 verschoben.
LCI (La Chaîne Info)
Mitte November war das Gesetz in Kraft getreten, das den Gesundheitsnotstand, gültig ab 17.Oktober 2020 für die Dauer eines Monats, noch weiter verlängerte: eben bis 16. Februar.
Zugleich wurden zu diesem Zeitpunkt auch die rechtlichen Grundlagen für ein "Übergangsregime zum Ausgang aus dem Ausnahmezustand" (régime transitoire de sortie de l'état d'urgence) bis April verlängert. Der neue Gesetzentwurf sieht nun laut der Informationen aus den Regierungskreisen einen rechtlichen Rahmen vor, "der Übergangsmaßnahmen bis Dezember 2021 ermöglicht", wie auch France TV Info bestätigte.
Der Link des eben genannten France TV Info-Berichts deutet die Verbindung an, die mit dem "Feuer einer kaum erloschenen Polemik" gemeint ist: der Ausnahmezustand aus Gründen der terroristischen Bedrohung, der in Frankreich ausgiebig verlängert wurde. Er dauerte 719 Tage, vom 13.11.2015 bis zum 31.10.2017. Erlassen unter Präsident Hollande in der grauenhaften Terrornacht im November 2015 und mehreren Verlängerungen erst in der Amtszeit von Macron aufgehoben.
Was die Libération "Polemik" nennt, war ein Streit darüber, dass sich die Regierung der autoritären Befugnisse, die durch die Krise erweitert wurden, bediente, um sie für politische Zwecke auszunutzen. So gab es Vorwürfe, wonach die erleichterten (kein richterliche Genehmigung mehr nötig) Übergriffe auf verfassungsmäßig garantierte Freiheitsrechte angewendet wurden, um Demonstrationen gegen das Arbeitsgesetz präventiv von "Störern" freizuhalten (Der Ausnahmezustand als Mittel gegen unerwünschte Demonstrationen).
Maßgeblich verantwortlich für das Arbeitsgesetz war übrigens Emmanuel Macron, der unter seinem Vorgänger Hollande Wirtschaftsminister war. Wie gut begründet die Kritik an den Ausnahmeregelungen und deren Missbrauchsmöglichkeiten war, zeigte eine Entscheidung des Verfassungsrates, die im Juni 2017 Regelungen zum Verbot des Aufenthalts von Personen kippte.
Die Kompetenzen, die der französischen Regierung durch den Gesundheitsnotstand zukommen, sind erheblich, wie der Politologe Matthias Lemke, der sich auf Ausnahmezustand und "Krisendemokratie" spezialisiert hat, hier auf Deutsch ausgeführt hat.
Der Premierminister kann "die Bewegungsfreiheit einschränken, Ausgangssperren verfügen, Quarantäne- und Isolationsbestimmungen für infizierte Personen erlassen; jegliche Versammlungen verbieten und Versammlungsorte im weitesten Sinne schließen (es sei denn, diese dienen der Grundversorgung, wie etwa Supermärkte), Eigentum oder Besitz beschlagnahmen lassen, insofern dieser zur Bekämpfung der gesundheitlichen Katastrophe erforderlich ist; Preise von Produkten einfrieren und die Versorgung mit Medikamenten bestimmen und auch sonst jedwede notwendigen Form der Einschränkung der unternehmerischen Freiheit ergreifen, die im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Krise erforderlich und geeignet erscheinen".
Die Zahlen der gemeldeten Sars-CoV-2-Infizierten in Frankreich haben derzeit insgesamt zwar einen rückläufigen Trend: 25 000 Infizierte wurden am Mittwoch gemeldet, 22.000 am Donnerstag und 20.000 am Freitag, aber, und das hat neue strengere Maßnahmen zur Folge, in Regionen im Osten und Süden des Landes steigen sie, weshalb die Zahl der Départements zunimmt, für die die Ausgangssperre von 20 Uhr auf 18 Uhr vorgezogen wird.
Auch die Liste der Unzufriedenen ist länger geworden, berichtet dazu Le Monde. Die vorgezogene Ausgangssperre trifft die Geschäfte und die Gastronomie, die auf Auslieferungen umgeschwenkt ist, schwer.
In der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur, wo eine örtlich begrenzte Schließung von Restaurants im Herbst bereits heftig umstritten war, hat sich sogar eine "gemeinsame Front" herausgebildet, die das Rathaus von Marseille mit dem Regionalpräsidium und dem Departementrat vereint. Zwei Departements, die die auf 200 Fälle pro 100.000 Einwohner festgelegte Prävalenzrate überschreiten, sind potenziell betroffen: Bouches-du-Rhône und Vaucluse. In Marseille sagte die ehemalige umweltpolitische Bürgermeisterin Michèle Rubirola, jetzt erste stellvertretende Bürgermeisterin, am Freitagabend "gegen die Ausgangssperre um 18 Uhr!". "Lassen wir uns testen, lassen wir uns impfen, aber schränken wir uns nicht weiter ein!"
Le Monde