Ein revolutionärer Nachtmittag in Belgrad

Politischer Wandel und Kontinuität nach der Ära Milosevic: Serbien, Montenegro, Kosovo

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Am 5. Oktober 2000 stürmte die Bevölkerung in Belgrad das Parlamentsgebäude. Der sozialistische Diktator Slobodan Milosevic wurde gestürzt. Die Bilder glichen denen der Revolutionswelle vor zehn Jahren in den übrigen Staaten Osteuropas. Der politische Umschwung von damals schien nun in Jugoslawien seine verspätete Erfüllung gefunden zu haben. Dreizehn Jahre hatte die Herrschaft Milosevics gedauert. Mit dem Ende der Ära Milosevic bietet sich nun die Chance, dass die Zeit der Balkankriege endlich vorbei ist.

Als die Massenmedien die Meldung verbreiteten, der Diktator sei geflohen, war sein politisches Schicksal besiegelt. Aber war Milosevic überhaupt geflohen? Sicher ist nur, dass er sich in den Regierungsbunker nach Bor zurückgezogen hatte. Wurde Milosevic etwa durch eine Presseente gestürzt? Das weckt Erinnerungen an jene Falschmeldung, mit der DDR-Politbüromitglied Günter Schabowski am 9. November 1989 den Fall der Berliner Mauer auslöste. Wie dem auch sei, letztendlich zählt nur das Ergebnis: Was der NATO nicht mit 22.000 Bomben gelang, das erreichte das jugoslawische Volk durch vier Tage eines friedlichen Protests.

Aber darin liegt zugleich eine Lüge, denn diese Dichotomie zwischen Diktator und Volk hat es in Jugoslawien so nicht gegeben. Zwar regierte Milosevic autoritär, aber zugleich blieb das Mehrparteiensystem immer bestehen. Das jugoslawische Regime war gewissermaßen eine verkappte Diktatur mit einer demokratischen Wahlmöglichkeit, bis die Arbeiter das "sozialistische" Herrschaftssystem stürzten.

Daher kann man Milosevic für die serbische Politik der letzten zehn Kriegsjahre nicht allein verantwortlich zu machen, schließlich hat die Mehrheit der Bevölkerung ihn in seiner aggressiven Politik immer wieder unterstützt. Bis zum Sommer diesen Jahres war Milosevic nach Meinungsumfragen der populärste Politiker im Land.

Es muss bezweifelt werden, dass das neue Regime bereit und in der Lage ist, einen Prozess der "Vergangenheitsbewältigung" einzuleiten, in dem sämtliche Verantwortliche auf der serbischen Seite und ihre Schuldigkeiten benannt werden. Wahrscheinlicher ist, dass für alle Verbrechen der Vergangenheit die Milosevics-Clique zum alleinigen Sündenbock gestempelt werden wird. Aber ohne historische Aufarbeitung ist die Demokratisierung auf Sand gebaut.

Juraprofessor als Wahlsieger

Von Wahlsieger Vojislav Kostunica ist vor allen Dingen bekannt, was er nicht ist: Er ist kein Kommunist und war es nie gewesen. Allein schon deshalb ist er für den "Westen" ein attraktiver Präsident Jugoslawiens. Auch war er profillos genug, dass sich die achtzehn Parteien des Oppositionsbündnisses auf ihn als gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten einigen konnten. Dafür fehlt dem Juraprofessor jede politische Praxis und administrative Erfahrung. Wenn der Staatsapparat ihm nicht loyal ergeben ist und ihn nicht mit präsidentialer Machtfülle ausstattet, bleibt Kostunica nur Galionsfigur.

Angesichts der Vielzahl der zu bewältigenden Aufgaben ist zu fragen, wie lange sich Zoran Djindjic mit der Rolle, nur die Nummer Zwei im Hintergrund zu sein, zufrieden geben wird. Das ganze Oppositionsbündnis DOS könnte gar zerfallen. Schließlich war dessen Einigkeit ausschließlich darauf aufgebaut, Milosevic zu stürzen. Da dies erreicht ist, braucht DOS eine neue Geschäftsgrundlage. Aber selbst durch einen ausgeklügelten Personalproporz könnte man nicht achtzehn Parteien in einer Regierung zusammenzufassen, daher ist ein Bruch dieses Bündnisses absehbar. Frisst der Erfolg seine Väter?

Mit einem konkreten Programm ist Kostunica nicht in den Wahlkampf gezogen. Bezüglich seines politischen Profils wurde lediglich bekannt, dass er ein serbischer Nationalist ist. Seine Anhänger bestreiten, dass er in diesem Punkt seinem Vorgänger gleicht. Kostinica fehle jegliche außenpolitische Aggressivität, wird versichert.

Die Sympathien, die ihm international entgegenschlugen, wurden seinerseits kaum erwidert. Vielmehr verurteilte Kostunica die NATO- Aggression im letzten Jahr, verwahrte sich gegen jede weitere NATO- Einmischung in die inneren Angelegenheiten Jugoslawiens und verdammte auch sonst die atlantische Allianz. So wurden die NATO- Politiker dabei ertappt, wie sie im jugoslawischen Präsidialwahlkampf ausgerechnet einen Kandidaten unterstützten, der von ihrer Politik gar nichts hielt. Nach zehn Jahren eines gescheiterten Krisenmanagement und einem völkerrechtswidrigen Kosovokrieg sind die politischen Spielräume der NATO auf dem Balkan offensichtlich minimal.

"Last Minute" für den Diktator Milosevic - oder gar den Friedensnobelpreis?

Während noch nicht klar ist, wie der Neue einzuschätzen ist, ist weiterhin unklar, wohin mit dem Alten. Milosevic hatte als jugoslawischer Präsident die drei Kriege gegen Slowenien, Kroatien und Bosnien angezettelt hatte und trug durch die Diskriminierung der Kosovoalbaner am vierten Konflikt eine Mitschuld. Über 300.000 Todesopfer forderten die Kampfhandlungen. Deswegen hat das Jugoslawientribunal der UNO im niederländischen Den Haag gegen Milosevic einen internationalen Haftbefehl erlassen. Damit ist seine Bewegungsfreiheit auf heimisches Territorium beschränkt.

Zur Zeit hält sich Slobodan Milosevic im jugoslawischen Regierungsbunker in Bor auf. In diesem streng geheimen Hochsicherheitsbereich wird er von den Bodyguards des Staatssicherheitsdienstes Sluzba drzavne bezbednosti (SDB) zugleich überwacht und beschützt. Was wie eine Flucht aussehen mag, war für diesen alten Fuchs nur ein strategischer Rückzug. Bei einer direkten Konfrontation mit der Bevölkerung hätten Milosevic und seine Partei nur verlieren können, also wich er dieser Auseinandersetzung aus und verzichtete auf das staatliche Präsidentialamt, um als Vorsitzender der ungebrochenen sozialistischen Partei SPS zu gegebener Zeit wieder auf dem politischen Parkett aufzutrumpfen.

Bisher hat Kostunica eine Auslieferung Milosevic an das Internationale Tribunal für das frühere Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia) beharrlich abgelehnt. In den Tagen des Umsturzes sicherte ihm diese Position minimale Sympathien bei Armee und Polizei, die für den unblutigen Ausgang der Machtkämpfe entscheiden waren.

Das internationale Tribunal wurde gegründet, um in Anlehnung an die Statuten des Nürnberger Gerichtshofes diejenigen zu bestrafen, die für die Bürgerkriege auf dem Balkan politisch verantwortlich waren oder zahlreiche Grausamkeiten begangen haben. Zu den Angeklagten zählen Serben ebenso wie Kroaten oder Muselmanen. Chefanklägerin ist die schweizerische Staatsanwältin Clara del Ponte, die mindestens 35 Haftbefehle erließ, u.a. gegen Radovan Karadzic und General Ratko Mladic, die im Bosnienkrieg für zahlreiche Massaker verantwortlich waren. Weil keiner von den SFOR-Soldaten bisher festgenommen wurde, wurde diese Friedenstruppe wiederholt kritisiert.

Auch das Gericht geriet unter Druck. Wesensmerkmal eines Gerichts der Vereinten Nationen sollte seine politische Unabhängigkeit sein. Gerade diese darf aber angezweifelt werden, seit Frau del Ponte darauf verzichtete, die Politiker der NATO-Staaten für den Kosovokrieg anzuklagen, obwohl ein Verstoß gegen die UN-Charta damals offensichtlich war. So erklärte Kostunica das internationale Jugoslawientribunal zu einer von den US-beherrschten Institutionen und verweigert damit die Auslieferung Milosevics.

Aber weil der internationale Haftbefehl gegen Milosevic weiter besteht, kann ihm kein Mitgliedsstaat der UN Asyl gewähren. Dies ist auch das Ergebnis von internationalen Sondierungen im letzten Frühjahr. Damals war überlegt worden, ob nicht die russische Regierung Milosevic aufnehmen könne, denn erst wenn der jugoslawische Präsident sein Land verlassen würde, wäre ein dort politischer Neuanfang möglich. Quasi als Generalprobe besuchte der jugoslawische Verteidigungsminister General Dragoljub Ojdanic, der als Kriegsverbrecher mit internationalem Haftbefehl gesucht wird, im Mai 2000 Moskau. Als die US- Aussenministerin Madeleine Albright dagegen protestierte, war das Projekt "Asyl für Milosevic" gescheitert. Zuletzt hatte Carla del Ponte am 4. Oktober den Haftbefehl gegen Milosevic noch einmal bekräftig: "Ich bin Staatsanwältin, ich habe ein spezielles Mandat des Sicherheitsrates, ich beteilige mich nicht an Politik und es ist meine Pflicht Milosevic in Den Haag anzuklagen."

Da Milosevic wegen des UN-Haftbefehls das Land nicht verlassen darf, aber auch nicht an das Jugoslawientribunal ausgeliefert wird, bleibt abzuwarten, ob er sich irgendwann vor einem jugoslawischen Gericht für Korruption und Kriegsverbrechen verantworten muss. Das Bezirksgericht von Belgrad hatte erst am 21. September 2000 unter dem Vorsitzenden Richter Veroljub Raketic vierzehn NATO-Politiker für den Kosovo- Krieg in Abwesenheit zu jeweils zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt: Bill Clinton, Madeleine Albright, Gerhard Schröder, Joschka Fischer etc.

Demgegenüber hat eine Gruppe von serbischen Veteranen des Zweiten Weltkriegs Slobodan Milosevic für den diesjährigen Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Er habe "durch seine weise und couragierte Politik die Einheit des Landes bewahrt und einen großen Krieg mit unabsehbaren Konsequenzen für Europa und den ganzen Planeten verhindert", behaupteten die senilen Greise.

Machtkampf um Übergangsregierung

Mit dem Sturm auf das Parlamentsgebäude wurde zwar ein neuer jugoslawischer Präsident gekürt, aber die Regierung blieb zunächst die alte. Das Parlament einigte sich daher in seiner Sitzung vom 9. Oktober auf Neuwahlen für den 17. Dezember 2000. Der amtierende jugoslawische Ministerpräsident Momir Bulatovic machte durch seinen Rücktritt den Weg dafür frei. Allerdings blieben der Präsident und der Ministerpräsident der serbischen Republik innerhalb der jugoslawischen Förderation vorerst im Amt. Milan Milutinovic und Mirko Marjanovic sind jetzt die mächtigsten Frontmänner der Sozialisten.

Bis zu den Wahlen sollte eine Übergangsregierung unter Beteiligung aller politischen Lager die Amtsgeschäfte weiterführen. Dieses Vorhaben scheiterte bereits einen Tag später, als die sozialistische Partei von Milosevic und die Ultra-Nationalisten um Vojislav Seselj die Verhandlungen mit der DOS abbrachen und zur Obstruktionspolitik übergingen.

Nach dem Rücktritt von Innenminister Vlajko Stojiljkovic wollten die Sozialisten das Innenministerium (Ministarstvo Unutrasnjih Poslova) wieder unter ihre Kontrolle bringen. Wer die Polizei hat, hat die Macht. Immerhin 120.000 Mann umfasst der Polizeiapparat. Branislav Ivkovic, Mitglied des Zentralkomitees der Partei, verteidigte die Forderung: "Die serbische Regierung ist für vier Jahre gewählt worden und sie ist das einzige Gremium, das legitimiert ist, Entscheidungen zu treffen." Dies ist natürlich für die Opposition völlig unakzeptabel, denn wie Zoran Djindjic am 10. Oktober erklärte, setzt der Inlandsgeheimdienst (SDB) seine Telefonabhöraktionen gegen die demokratischen Kräfte fort.

Es wird vermutet, dass Slobodan Milosevic im Hintergrund die Fäden zieht und erneut eine bewaffnete Konfrontation droht. Bisher war der Volksaufstand gegen Milosevic unblutig verlaufen, weil sich die Polizei zurückhielt; das Militär passiv blieb und die Nachrichtendienste nicht in Erscheinung traten. Für soviel Wohlverhalten gegenüber dem neuen Präsidenten und seiner geplanten Regierung werden die bewaffneten Staatsorgane früher oder später die Rechnung präsentieren: Sicherung der Kompetenzen, der Personalstärken und mehr Haushaltsmittel zur Modernisierung. Der bisherige Verteidigungsminister General Dragoljub Ojdanic und Generalstabschef Nebojsa Pavkovic konnten schon die Zusage einholen, dass sie bis auf weiteres im Amt bleiben sollen.

Aber noch kann auch ein Blutbad nicht ausgeschlossen werden. Der Führer der sozialdemokratischen Partei, Zarko Korac, warnte vor einem Gegenputsch. Bisher sind die Auseinandersetzungen auf die Wirtschaftsbetriebe begrenzt. Manchmal versuchen Betriebsgruppen der Sozialisten eine Fabrik unter ihre Kontrolle zu bringen, manchmal jagen Arbeiter die von der sozialistischen Partei eingesetzten Fabrikdirektoren davon. Es hagelt gegenseitige Vorwürfe: Während der Demokrat Dusan Mihajlovic den Sozialisten vorwarf, "alles in Chaos und Anarchie zu verwandeln, um danach das Volk gegen DOS aufzubringen", forderte die sozialistische Partei endlich die "Beendigung aller Unordnung, Gewalt und Gesetzlosigkeit in den Städten".

Wirtschaftshilfe der Europäer

Schon vor den Präsidentsschaftswahlen ließ die Europäische Union verlauten, im Falle einer politischen Wende in Jugoslawien werde man die verschiedenen Embargos aufheben und Wirtschaftshilfe in Höhe von 4,5 Milliarden DM gewähren. Daher muss es der EU heute schwer fallen, den Vorwurf zu entkräften, sie hätte sich mit diesem Wahlversprechen in die inneren Angelegenheiten Jugoslawiens eingemischt. Sie versucht dies deshalb gar nicht erst. Immerhin hält die EU in einem Punkt Wort. Schon vier Tage nach dem Umsturz von Belgrad kündigte der EU-Ministerrat bei einer Konferenz in Luxemburg an, dass die ersten Embargobestimmungen aufgehoben werden. Entsprechend dem Fortgang des Demokratisierungsprozesses sollen sukzessive weitere Restriktionen gelockert werden. Die deutsche Bundesregierung sagte eine Soforthilfe von 30 Millionen DM zu.

Zur Euphorie besteht dennoch kein Anlass. Die Oppositionsgruppe G17 bezifferte die Kriegsschäden durch die NATO-Luftangriffe rund 9 Milliarden DM. Ein Drittel der Bevölkerung ist arbeitslos, zwei Drittel verdient rund 100 DM monatlich. Die avisierten Finanzhilfen sind da nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Immerhin: Was die westeuropäischen Staaten vor einem Jahr kaputtmachten, dürfen sie nun selber wieder aufbauen. Dabei ist für die Serben die NATO in der Rolle des Buhmanns, während die EU den Wohltäter spielt, obwohl beiden Bündnissen fast die gleichen Mitgliedsländer angehören.

Durch die Kriegsschäden, das bisherige Embargo und die Politik Milosevics ist Jugoslawien ökonomisch um Jahrzehnte zurückgefallen. Folglich wird es lange dauern, bis das Land wieder das wirtschaftliche Niveau von 1989 oder 1990 erreichen wird. Es war vor allem die ökonomische Misere und keineswegs politische Gründe, die viele Serben dazu veranlasste, sich von Milosevic abzuwenden. Entsprechend groß sind die Erwartungen an die neue Regierung. Für manchen wird die "Revolution" mit dem Scheitern seiner Hoffnungen enden. Außerdem befürchtet man in den Nachbarstaaten, dass zukünftig die meiste EU- Entwicklungshilfe an Jugoslawien fließen und man selbst leer ausgehen wird.

Der Montenegro-Konflikt

Die montenegrinische Regierung hatte die jugoslawischen Präsidentschaftswahlen boykottiert. Stattdessen hatte der montenegrinische Präsident Milo Djukanovic angekündigt, im Falle eines erneuten Sieges von Milosevic werde seine Provinz aus der jugoslawischen Föderation mit Serbien aussteigen. Diese Position bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass nun, nach dem Erfolg von Gegenkandidat Kostunica, Montenegro seine Unabhängigkeitsbestrebung aufgeben wird.

Der bestehende Konflikt zwischen beiden Teilrepubliken schwelt weiter: Während Kostunica darauf beharrt, ein Austritt Montenegros aus Jugoslawien sei für ihn nicht akzeptabel, weil dies der gültigen Landesverfassung widerspreche, stellt demgegenüber die montenegrinische Regierung fest, dass eben diese Verfassung nicht auf verfassungsmäßigem Wege zustande gekommen sei. Ohne Absprache mit den montenegrinischen Abgeordneten hatten die serbischen Vertreter im jugoslawischen Parlament am 6. Juli 2000 einseitig die Verfassung und das Wahlrecht geändert. Vielmehr glaubt die montenegrinische Regierung, sie könne heute auf Grund ihres Wahlboykotts dem gewählten Präsidenten jedwedes Anerkenntnis verweigern.

Damit spielt die Regierung in Podgorica zugleich auf ein grundsätzliches Missverhältnis an, da Montenegro innerhalb der jugoslawischen Föderation nur sechs Prozent der Bevölkerung und fünfzehn Prozent der Fläche stellt. Wo aber schon die Demographie nicht stimmt, kann die Demokratie nicht funktionieren.

Zunächst sollen die strittigen Fragen am grünen Tisch verhandelt und dabei die föderativen Bestimmungen der Verfassung überarbeitet werden. Die montenegrinische Regierung hatte dazu mit ihrer "Plattform" vom 5. August 1999 Vorschläge unterbreitet, die in Serbien bisher ignoriert worden waren. Solange die demokratischen Kräfte in Belgrad ihre Macht noch nicht konsolidiert haben, versuchen beide Seiten immerhin eine offene Konfrontation zu vermeiden.

Für die westeuropäische Staatengemeinschaft haben sich mit dem Umsturz in Belgrad die politischen Allianzen in diesem Konflikt verändert. Bisher hatte der Westen mässigend auf die Unabhängigkeitsbestrebung von Djukanovic eingewirkt, aber dessen Regierung gleichzeitig massiv unterstützt: Jede Stärkung Djukanovics war zugleich eine Schwächung Milosevics. Nun hat sich das Blatt gewendet. Weil Jugoslawien größer und geopolitisch wichtiger ist als Montenegro, ist heute der jugoslawisch-serbische Präsident in Belgrad international ein wichtigerer Partner, als es dessen montenegrinischer Amtskollege in Podgorica je sein könnte.

Die Zukunft des Kosovo

In gleicher Weise wurden im Kosovokonflikt die Karten neu gemischt. Auch hier sind die politischen Korrelationen in Bewegung geraten. Außerdem stehen in der Provinz am 28. Oktober Kommunalwahlen an. Nachdem die Radikalen von der Kosovobefreiungsfront UCK durch die Eskalation des Kosovokonfliktes durch die NATO im letzten Jahr die Oberhand erhielten, scheinen nun die Gemäßigten um den früheren Präsidenten Rugova wieder Boden gut zu machen. In diese albanischen Machtkämpfe platzte der Umsturz in Belgrad mit weitreichenden Konsequenzen.

Die Sympathien der Kosovoalbaner im Belgrader Machtkampf waren auf Seiten von Milosevic gewesen, wie UCK-Führer Hashim Thaqi erklärte. Es mag für viele eine Überraschung gewesen sein, dass die Kosovaren ausgerechnet den unterstützten, der noch im letzten Jahr als Albanermassenmörder die Schlagzeilen beherrschte. Außerdem bezogen die Kosovaren damit eine Position, die konträr war zu der ihrer westlichen Schutzmächte. Hierin liegt das Kalkül der Albaner begründet: Solange in Belgrad der Kriegsverbrecher Milosevic herrschte, konnten die Kosovaren die NATO-Staaten für sich vereinnahmen; mit dem Machtwechsel in Serbien ist Kostunica für die NATO zu einem interessanteren Partner geworden, als die albanischen Extremisten. Die Fronten im Kosovokonflikt haben sich verhärtet.

Als serbischer Nationalist lehnt Kostunica eine Unabhängigkeit der Provinz Kosovo rigoros ab. Das Amselfeld soll "heilige" serbische Erde bleiben. Damit vertritt Kostunica dieselbe Position wie sein Vorgänger Milosevic. Aber während Milosevic dafür von der NATO mit Bomben bekämpft wurde, wird Kostunica dafür vom Westen mit Milliardenbeträgen unterstützt.

Kostunica beruft sich auf UN-Resolution 1244, die die Einheit Jugoslawiens postuliert. Auch das Waffenstillstandsabkommen zwischen den jugoslawischen Streitkräften und der NATO vom 9. Juni 1999 garantiert die Zugehörigkeit des Kosovo zu Jugoslawien. Dies wurde von US-Verteidigungsminister William Cohen bei einer Pressekonferenz in Thessaloniki am 9. Oktober noch einmal bekräftigt.

Es bleibt abzuwarten, in welchem Umfang der neue jugoslawische Präsident zu einer Überwindung des Hasses zwischen Serben und Albanern im Kosovo beitragen wird. Ein erster Schritt dazu wäre die Freilassung von rund 2000 Kosovaren, die seit dem Kosovokrieg in serbischen Gefängnissen einsitzen. Sollte dies nicht umgehend geschehen, forderte UN-Administrator Bernhard Kouchner am 11. Oktober neue Sanktionen - diesmal gegen die demokratischen Machthaber in Belgrad.

In dem Waffenstillstandsvertrag wird der Regierung in Belgrad außerdem das Recht zugestanden, erneut Streitkräfte und Polizei in der Provinz zu stationieren. Bei einer jugoslawischen Armeereform wurde kürzlich ein neues Kosovokontingent aufgebaut und an der kosovarischen Grenze stationiert. Sollte Kostunica zum Schutz der serbischen Minderheit im Nordkosovo intervenieren, wie es Zoran Djindjic am 11. Oktober ankündigte, sind Zusammenstösse mit der UCK nicht ausgeschlossen. Zu ersten Schießereien kam es bereits am 9. Oktober. Die Soldaten der KFOR stehen nun zwischen allen Fronten.