Ein zweiter Feldzug gen Osten - Der "russische Untermensch" wehrt sich

Russlandbilder in Deutschland, russische Realitäten und deutsche Russlandpolitik - Teil 3

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Es war nicht die Furcht vor einem Angriff der sowjetischen Truppen auf das Deutsche Reich, die Adolf Hitler dazu brachte, im Juni 1941 den Feldzug im Osten zu starten. Auch nicht persönlicher Hass auf den Herrscher im Kreml. Selbstverständlich gehörte militanter Antikommunismus zum Weltbild des Nationalsozialismus und des "Führers". Aber die deutsche Expansion in den Raum der UdSSR, als Weg zum geopolitischen Machtgewinn, gehörte schon seit Beginn seiner Karriere zu Hitlers Ambitionen.

Vom Ersten Weltkrieg über den "Kampf gegen Versailles" bis 1933: Russlandbilder in Deutschland, russische Realitäten und deutsche Russlandpolitik -Teil 2

In "Mein Kampf" hatte er verkündet, "das Riesenreich im Osten sei reif zum Zusammenbruch", und er unterlegte dies antisemitisch: "Das Ende der Judenherrschaft" dort werde auch "das Ende Russlands als Staat" bedeuten. Mit dem Plan einer kriegerischen Zerschlagung des russischen, nun sowjetisch geformten Imperiums schloss Hitler an eine Grundlinie deutscher Regierungspolitik schon zu Kaisers Zeiten an; allerdings wurde dieses Projekt unter dem NS-Regime nun rassistisch begründet und in extrem brutale Methoden der Umsetzung überführt.

Der 1939 geschlossene deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt war nicht auf Dauer gedacht, er sollte Zeitgewinn bringen, die hitlerdeutsche Außenpolitik hatte keine Scheu vor taktischen Zwischenspielen. Im Verhältnis zu "England" dachte der Herrscher des "Dritten Reiches" bis 1939 anders, er hielt ein geopolitisches Arrangement mit dem britischen Imperium für möglich, als Aufteilung der Machtsphären weltweit.

Deutsche Bilder von Russland bis 1941

Die Machtübernahme der NSDAP 1933 und die dann bald folgende totale Kontrolle der veröffentlichten Meinungen ließ allen nonkonformen Äußerungen über die sowjetische Gesellschaft und das "Russentum" keine Chance mehr. Der "Weltkampf gegen den Bolschewismus" gehörte bis 1939 und dann wieder ab 1941 zum Pflichtbestand nationaler Propaganda, ins "Reich" übersiedelte Baltendeutsche taten sich dabei besonders hervor.

Mit der Unterdrückung der KPD und ihrer Medien sowie Nebenorganisationen war die Auslöschung aller öffentlichen prosowjetischen Stellungnahmen verbunden. Im "schwarz-weiß-roten" Milieu, den mentalen Hinterlassenschaften der DNVP, des "Stahlhelm"-Bundes und der völkischen Verbände fand dies naheliegenderweise völlige Zustimmung. Akzeptanz hatte das nationalsozialistische Bild von der Sowjetunion auch beim Großteil der kirchlichen Milieus, es richtete sich ja gegen den Staat der "Gottlosen".

Die ehemalige Anhängerschaft der Sozialdemokratie, auch soweit sie ansonsten dem "Dritten Reich" gegenüber kritisch blieb, sah in der antikommunistischen Ausrichtung des NS-Staates kein Problem. "Russophile" Literaten und Publizisten waren, soweit sie links standen, in die Emigration getrieben. Mehr oder weniger geduldet wurden vom NS-Staat Veröffentlichungen oder Auftritte, die lobend an das zarische Russland oder an die Kämpfe der "Weißen" in der Bürgerkriegszeit erinnerten. Allerdings achteten die Kontrolleure des Verlagswesens darauf, dass darin "der russische Mensch" nicht zu positiv dargestellt wurde.

In bemerkenswert geringem Ausmaß nur griff die NS-Propaganda die Schrecknisse des inneren Terrors in Stalins Reich auf, der "Säuberungen", Lager und Deportationen. Da war Zurückhaltung geboten - eigene staatliche Praktiken hätten sonst vergleichend in die Kritik kommen können...

In der Phase des Nichtangriffspaktes pausierte die antibolschewistische Agitation, ihre besonders eifrigen Betreiber wurden aber nicht etwa "strafversetzt", sondern in Bereitschaft gehalten. In der politischen Elite des "Dritten Reiches" gab es keine personellen Umschichtungen in Richtung auf Annäherung an sowjetische Interessen. Auch die deutschen Militärführer beschäftigten sich weiter mit strategischen und logistischen Vorbereitungen auf einen Ostfeldzug.

An der Basis der NSDAP und der anderen NS-Organisationen wurden, soweit das erkennbar ist, die Vereinbarungen mit dem sowjetischen Staat nicht als Anzeichen eines weltanschailichen Wandels bei der Führung des Staates gedeutet, sondern als realpolitisches Kalkül; sie erregten deshalb keinen Widerspruch. Als Erfolg der NS-Regierung wurde wahrgenommen, dass durch den Pakt mit der Sowjetunion der als "Missgeburt" angesehene Staat Polen von der politischen Landkarte getilgt werden konnte.

Das Unternehmen "Barbarossa" - Kriegsziele und vernichtende Praktiken

Für die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Machteliten des Deutschen Reiches kam der Entschluss des "Führers" zum Überfall auf die Sowjetunion nicht überraschend. Seit Jahren schon waren sie auf diesen Krieg vorbereitet, auch auf die brutalen Vorgehensweisen dabei. Mit den Militärführern war der "Germanenzug nach Osten" schon im Februar 1933 und dann wiederholt, ganz aktuell im März 1941 besprochen worden, nur wenige von ihnen hielten noch klandestin an einer Option für die Verständigung mit Russland fest.

Nicht ganz einig waren die deutschen Strategen in der Frage, wie denn die Kampfkraft der Roten Armee einzuschätzen sei. Aber überwiegend kamen sie zu der Meinung, da handele es sich um einen "Koloß auf tönernen Füßen", also könne das Deutsche Reich auch in diesem Fall mit einem erfolgreichen "Blitzkrieg" rechnen. Zu diesem Optimismus gab auch die 1937 von Stalin befohlene "Säuberung" der militärischen Führungsschicht in der Sowjetunion Anlass, also die physische "Liquidierung" vieler erfahrener Akteure im Offizierskorps. Der SS-Sicherheitsdienst hatte mittels der Tuchatschewski-Affäre geholfen, diese Mordserie zu arrangieren.

Der deutsche Krieg im Osten wird in der Geschichtsschreibung heute zumeist als "weltanschaulicher Vernichtungskrieg" charakterisiert. Diese Kennzeichung ist zutreffend im Hinblick auf die antikommunistische, antisemitische und rassenbiologische Begründung oder propagandistische Begleitung des Unternehmens "Barbarossa", sie verweist auch präzis auf die deutsche Tötungsmaschinerie in den nach 1941 besetzten Gebieten, an der SS, Wehrmacht und Polizei beteiligt waren. Aber der Krieg gegen die Sowjetunion hatte seine imperialistische, auf geopolitischen und ökonomischen Gewinn gerichtete Zweckhaftigkeit, und damit setzte er Pläne fort, die schon das kaiserliche Deutschland entworfen und umgesetzt hatte - damals am Ende ohne Erfolg.

"Die reichen Felder der Ukraine locken", schrieb der Reichspropagandaminister Goebbels einige Tage vor Beginn von "Barbarossa" in sein Tagebuch. NS-deutsche Begehrlichkeit wandte sich allerdings nicht nur Agrarflächen zu und nicht nur der Besetzung ukrainischen Terrains. Wie schon im Ersten Weltkrieg ging es um dauerhafte Ausbeutung auch von Rohstoffen, ausgreifend bis in die kaukasische Region. Und um die Herrschaft über Märkte, um die Verfügung über Massen agrarisch und industriell einzusetzender moderner Sklaven.

Rosenberg, NS-Beauftragter für die "Ostgebiete", sprach 1941 von "Jahren härtester Kolonialarbeit", die nun das Deutsche Reich organisieren müsse, Hitler vom "russischen Riesenraum" mit seinen "unermeßlichen Reichtümern", den Deutschland "wirtschaftlich und politisch" sich unterwerfen müsse. Die Krim und ihr Umland sollten im Süden eine Bastion mit deutscher Neubesiedlung werden, im Norden das Baltikum unter deutsche Oberhoheit kommen.

Das alles war, verglichen mit deutschen Ambitionen im Ersten Weltkrieg, nicht original nationalsozialistisch. Neu war der Grad menschenverachtender Systematik, die das "Dritte Reich" bei dieser Eroberungspolitik einsetzte. Hitler gab im März 1941 den hohen Militärs als Richtlinie vor, "im großrussischen Bereich" sei "die Anwendung brutalster Gewalt notwendig". Die Herren hielten das für einleuchtend und folgten diesem Konzept, ebenso die im Osten tätig werdenden Parteifunktionäre und Wirtschaftsmanager. Der "großrussische" oder "halbasiatische Untermensch" wurde entsprechender Behandlung unterzogen, die einheimische Bevölkerung in den besetzten Gebieten wurde bedenkenlos "ausgedünnt", umgesiedelt, zur "Fremdarbeit" in Deutschland verwendet. Vernichtet wurde massenhaft nicht nur jüdisches, auch "großrussisches" Leben, und das keineswegs nur im direkten Effekt der militärischen Handlungen; Geopolitik wurde als bevölkerungspolitische Strategie betrieben, skrupellos "ausrottend".

Russlandgefühle im Krieg auf der deutschen Seite

Zu Beginn des Ostfeldzuges trat Begeisterung an der Basis der "deutschen Volksgemeinschaft" offenbar nicht auf, auch nicht bei deren systemloyaler Mehrheit. Zuzuschreiben ist das nicht kriegsgegnerischen Einstellungen, sondern der Befürchtung, das militärische Engagement Deutschland könne überdehnt werden.

Noch war der Misserfolg des "Zweifrontenkrieges" 1914-1918 nicht vergessen. Und das Scheitern Napoleons in der "russischen Weite" rumorte im Hinterkopf. Die Gefühle wandelten sich, als die deutsche Wehrmacht auch hier zunächst große Siege verkünden konnte. Nun schien der Zugriff auf Leningrad und Moskau kurz bevor zu stehen. Diese Euphorie war im Winter 1941 gebrochen, die Todesanzeigen für deutsche Soldaten expandierten, die Bevölkerung stellte sich auf einen längeren Krieg ein.

Eine emotionale Wende brachte die deutsche Niederlage in Stalingrad, im Winter 1942/43. Deutsche Truppen geschlagen und im Rückzug - wie war damit umzugehen? Folgebereitschaft für das NS-System und den Krieg ergab sich von da an immer mehr aus Angststimmungen heraus - "bolschewistische Horden" könnten bis nach Deutschland vorrücken, Rache nehmen für die hitlerdeutsche Art der Kriegsführung, deren Grausamkeiten auch an der "Heimatfront" nicht ganz unbekannt geblieben waren. Solche "Durchhalte"- Gefühle wurden noch bestärkt, als die Rote Armee der deutschen Grenze näher rückte.

Allerdings bildeten sich in Deutschland auch vermehrt illegale widerständige Aktivitäten heraus, in kleinen, meist radikal linken Gruppen, ohne die Chance, das "Schluss mit dem Krieg" zur Parole einer Volksbewegung zu machen. Der Putschversuch vom 20. Juli 1944 war Sache eines elitären, eher konservativen Oppositionskreises. Hier spürte man, dass der Krieg für Deutschland nicht mehr zu gewinnen war und suchte nach einem Ausweg, vielleicht durch einen separaten Waffenstillstand im Westen.

Mit welchen Gefühlen die im Osten eingesetzten Soldaten auf ihr Russlanderlebnis reagierten, lässt sich verallgemeinernd nicht sagen, auch sind die Quellen dazu nicht hinreichend. Feldpostbriefe in die Heimat waren nicht unbedingt "echte" Äußerungen. Und die Unterschiede im Kriegsverlauf und in den persönlichen Situationen sind zu bedenken. Auf der "Siegesstraße" empfand man anders als bei den Rückzügen, Soldaten im Fronteinsatz hatten andere Erlebnisse als die in der Etappe oder - entgegengesetzt - in der russischen Gefangenschaft. Für die Mehrheit der deutschen Teilnehmer am Ostfeldzug war wohl am eindrucksvollsten, wie standhaft die meisten Soldaten auf der sowjetischen Seite die Härten des Krieges hinnahmen; mit einer solchen Widerstandsfähigkeit hatten die meisten Deutschen nicht gerechnet. Erfahrbar wurde aber auch, dass die Lebensverhältnisse in der Sowjetunion schon in Friedenszeiten alles andere als paradiesisch gewesen waren.

Hilfswillige aus der Sowjetunion auf deutscher, deutsche Antinazis auf sowjetischer Seite

Als die militärische Lage im Osten sich zu Ungunsten Deutschlands wandelte, kam in Führungsgruppen von Wehrmacht und SS mühsam das Konzept auf, nicht systemtreue sowjetische Soldaten oder Kriegsgefangene für den Einsatz auf der deutschen Seite zu gewinnen. Die Waffen-SS richtete Divisionen aus ethnischen Minderheiten der Sowjetunion ein, und die Wehrmacht machte sich daran, unter dem Kommando des Generals Wlassow eine nationalrussische antisowjetische Armee aufzubauen. Auch Kosakeneinheiten kämpften auf der deutschen Seite. Das Bild vom russischen oder sowjetischen "Untermenschen" kam damit freilich ins Wanken.

Auf der sowjetischen Seite bildeten sich das "Nationalkomitee Freies Deutschland" und der "Bund deutscher Offiziere" als Organisationen, die propagandistisch und auch mit Fronteinsätzen gegen den hitlerdeutschen Krieg aktiv wurden. Deutsche kommunistische Emigranten arbeiteten hier mit Landsleuten zusammen, die sich in der sowjetischen Gefangenschaft und in Antifa-Lagern vom Glauben an das Hitler-Regime abgewandt hatten. Die Symbolik des "Nationalkomitees" war schwarz-weiß-rot; es sollten deutsche Patrioten für eine antinazistische Politik gewonnen werden. Auch damit war ein Stereotyp, das vom "bösen deutschen Nationalcharakter", durch die Eigendynamik der Kriegsführung durchbrochen.

Sieger und Verlierer 1945 - und dann "Erbfeindschaften"?

Im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges war auch der zweite Eroberungsfeldzug des Deutschen Reiches gen Osten auf katastrophale Weise gescheitert. In der Sowjetunion hatte er Millionen von Opfern und riesige Zerstörungen hinterlassen, im Ausmaß singulär in der Zeitgeschichte. Für die deutsche Seite hatte er neben den Kriegsopfern eine massenhafte Vertreibung oder Flucht zur Folge, langjährige Gefangenschaft, auch Erleiden von Brutalitäten beim Einrücken der Roten Armee in deutsches Terrain.

Was die sowjetischen Sieger angeht, so entstand aus der Erfahrung des Zweiten Weltkriege nicht das Bild vom Deutschen als dem "ewigem Feind". Stalins Ausspruch: "Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk bleibt bestehen", mag politstrategisch gedacht gewesen sein, aber er gab offenbar auch den mehrheitlichen Gefühlen der Bevölkerung in der Sowjetunion Ausdruck. In "Großrussland" kam es keineswegs zu einer rassistischen Deutung des "deutschen Charakters".

Die deutsche Mentalitätslage am Ende des Zweiten Weltkrieges: Spekulationen, im Bündnis mit den Westmächten könne ein Deutschland ohne Hitler den Krieg gegen die Sowjetunion fortsetzen und in die Offensive wenden, brachen rasch wieder in sich zusammen. Das nationalsozialistische, rassistische Bild vom "russischen Untermenschen", den man auf kriegerische sich Weise unterwerfen könne, war nun als todbringendes und zugleich realitätsfernes ideologisches Konstrukt erkennbar. Es hatte, auf den Antikommunismus beschränkt und "abendländisch" gewendet, einige Fortwirkungen im politischen Bewusstsein von Deutschen oder im deutschen propagandistischen Reservoir, bis heute hin, aber mehrheitsfähig war es als ewige Feinderklärung nicht mehr. Eine totale militärische und politische Niederlage kann zu Lernprozessen führen. Anders als 1918 war sie 1945 nicht zu leugnen, die Legende "Im Felde unbesiegt" hatte ausgedient.

Teil 4: Im geteilten Deutschland: Die Russen als "Freunde", als Gegner im Kalten Krieg, als Koexistierende