Einander wieder begegnen
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In der Corona-Krise droht ein Verlust der Mitmenschlichkeit. Insbesondere auch, weil einige fundamentale Fehlannahmen über die Natur des Menschen herrschen
Ein kurzes Gespräch mit einem Fremden, eine kurze Begrüßung des Busfahrers, ein Plausch mit einem Verkäufer, ein netter Dank, ehrlich gemeinte gute Wünsche an einen Unbekannten, eine flüchtige Diskussion in einem Café. Kurze soziale Interaktionen sind mehr oder minder häufig im Leben. Aber welche Bedeutung haben solche Begegnungen, die meist sehr kurzer Natur sind für das menschliche Leben? Für das Wohlbefinden?
Eine kleine Wohltat
Bei einem Experiment wurden die Probanden bei Busfahrten aufgeteilt, entweder sich mit einem Nachbarn auf der Fahrt zu unterhalten, jeden Kontakt zu vermeiden oder sich so zu verhalten, wie sie dies gewöhnlich tun. Das Ergebnis: Menschen, die durch das Experiment gezwungen waren, ihnen unbekannte Nachbarn auf der Busfahrt anzusprechen, fühlten sich anschließend besser.
Das Experiment wurde vor zwei Jahren in leicht abgewandelter Form wiederholt. Mit dem gleichen Ergebnis. In einem weiteren Experiment, bei dem Probanden einen ihnen unbekannten Barista in einem Café wie einem guten Bekannten begegnen sollten (Blickkontakt, Lächeln, ein kurzes Gespräch) bestätigte sich einmal mehr: Diese Art der kurzen Interaktionen steigerte das Wohlbefinden.
Ein aktuelles Experiment mit dem vielsagenden Titel "Minimal Social Interactions with Strangers Predict Greater Subjective Well-Being" konnte denselben positiven Effekt sogar bei nur sehr flüchtigen Begegnungen feststellen, die nur aus Begrüßung und Dank bestehen. Die beiden Forscher Paul van Lange und Simon Columbus von den Universitäten Amsterdam und Kopenhagen betonen in ihrem Forschungsüberblick, dass schon ein kurzes Gespräch mit Unbekannten das Wohlbefinden erhöht:
Das zeigt sich bei Interaktionen mit Busfahrern, anderen Pendlern in Bus oder Bahn, mit der Person hinter der Theke, die den Kaffee verkauft oder auch mit anderen Versuchspersonen in einem Experiment.
Paul van Lange und Simon Columbus
Aus dem Gesagten folgt die wichtige Erkenntnis, dass nicht nur das enge soziale Umfeld der Freunde, sondern auch das erweiterte soziale Umfeld wie Bekannte einen großen Einfluss auf das Wohlergehen der Menschen hat.
Die Wirtschaftswissenschaftlerin Noreena Hertz erklärt das Potential dieser allzu häufig übersehenen menschlichen Fähigkeit:
Indem wir anderen freundlich begegnen oder auch nur für einen kurzen Augenblick selbst Freundlichkeit erfahren, erinnern wir uns daran, was wir miteinander gemein haben, an unser gemeinsames Menschsein - und fühlen uns dadurch weniger allein.
Noreena Hertz
Oder etwas freier nach Antoine de Saint-Exupéry: "Ein Lächeln ist oft das Wesentliche. Man wird mit einem Lächeln bezahlt. Man wird mit einem Lächeln belohnt. Man wird durch ein Lächeln belebt."
Fundamentale Fehleinschätzung
So eindeutig das Ergebnis der verschiedenen Experimente ist, dass die kleinen Freundlichkeiten im Alltag das eigene Wohlbefinden steigern, so eindeutig täuschten sich die Probanden fast aller Experimente in ihrer Einschätzung.
Befragt danach, wie sie sich fühlen würden, wenn sie eine unbekannte Person ansprechen müssten, gaben die große Mehrheit an, sie würden davon ausgehen, sich besser zu fühlen, wenn sie in ihrer gewohnten sozialen Isolation verharren dürften und keine Begegnung mit einem unbekannten Menschen erleben würden.
Einzig in einem Experiment gingen die Probanden davon aus, dass die Begegnung mit einem Unbekannten das eigene Wohlbefinden steigere. Dennoch offenbarte sich auch hier eine grundlegende Fehleinschätzung, denn die Menschen waren davon überzeugt, dass die Begegnung weniger erfreulich sein werde, als sie sie dann schlussendlich erlebten, weil sie annahmen, die unbekannte Person würde kein Interesse an einem Gespräch haben.
Damit endet jedoch nicht die Reihe der weitverbreiteten Fehlannahmen. So schätzen Menschen auch oftmals die eigene Ausstrahlung falsch ein. Das Ergebnis einer Studie:
Wir fanden heraus, dass die Menschen nach einem Gespräch systematisch unterschätzten, wie sehr ihre Gesprächspartner sie mochten und ihre Gesellschaft genossen, eine Illusion, die wir als "Sympathielücke" (liking gap) bezeichnen. (…) Unsere Studien deuten darauf hin, dass Menschen nach Gesprächen mehr gemocht werden, als sie wissen.
Erica J. Boothby et al.
Gerade diese Fehlannahme ist umso erstaunlicher, als dass Menschen oftmals dazu tendieren, ihre eigenen Fähigkeiten, wie beispielsweise Autofahren, zu überschätzen. Ihre sozialen Fähigkeiten hingegen unterschätzen sie grundsätzlich massiv.
Menschen meiden Mitmenschen
Die Folge dieser direkt miteinander zusammenhängenden Fehlannahmen über die menschliche Natur und damit darüber, was das eigene Wohlbefinden fördert, ist traurigerweise die Vermeidung genau dessen, was uns guttut und der sozialen Natur des Menschen entspricht: der soziale Kontakt. Das Miteinander. Die Verbundenheit auch in den kleinen Augenblicken des Alltags.
Besonders bedauerlich: Das Vergnügen an menschlichen Kontakten und die Steigerung des Wohlbefindens durch eine kurze freundliche Begegnung ist ansteckend. Denn nicht nur die Probanden fühlten sich nach den Begegnungen mit den Unbekannten wohler, sondern auch die Menschen, die unverhofft angesprochen wurden.
Der Mitmensch ist nicht die Bedrohung
So nachvollziehbar auf den ersten Blick der seit Beginn der Corona-Krise warnende Fingerzeig in Richtung des Mitmenschen ist, der ein potentieller Infektionsträger sein könnte, und so logisch die Forderung nach sozialer Distanzierung erscheint, so bedenklich sind zugleich seine Nebenwirkungen.
Eine deutliche Reduzierung der sozialen Interaktionen und der Nähe zu Mitmenschen mag für viele vielleicht ein leicht zu verschmerzender Einschnitt sein, denn er entspricht ja genau der Tendenz, die sich in den zahlreichen Experimenten zeigt: lieber den Abstand zum Mitmenschen halten, lieber kein Gespräch anfangen, lieber keine unbekannte Person freundlich begrüßen oder sich bedanken, anstatt sich "der Gefahr" einer Begegnung aussetzen. Aber genau hier liegt die Krux.
Die meisten Menschen realisieren nicht, dass eine Begegnung meistens eine Interaktion darstellt, die ihnen (und dem Angesprochenen) guttut, weil sie auch den Wunsch der Menschen unterschätzen, angesprochen zu werden, ebenso wie die eigenen sozialen Fähigkeiten sowie ihre Wirkung auf den Mitmenschen.
Genau deshalb wird so leichthin ein wichtiger Teil dessen aufgegeben, was der Natur des Menschen entspricht und dem Menschen wohl tut. Anstatt sich auf die Kraft der sozialen Interaktionen, der Begegnungen, kurz der Mitmenschlichkeit zu besinnen, die nachgewiesenermaßen ein Balsam für die Seele ist.
Noreena Hertz bezeichnet bereits die Epoche unmittelbar vor der Corona-Krise als "einsamstes Jahrhundert seit Menschengedenken". Einsamkeit ist dabei ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und es gilt zu bedenken: Einsamkeit reduziert die Empathie, senkt das Vertrauen und steigert feindseliges Verhalten.
Im Hinblick auf die gegenwärtige Situation der sozialen Distanzierung gibt Hertz in ihrem brillanten Buch "Das Zeitalter der Einsamkeit" zu bedenken:
Die Gefahr des kontaktlosen Zeitalters ist, dass wir uns immer weniger kennen, uns immer weniger miteinander verbunden fühlen und uns so die Wünsche und Bedürfnisse unserer Mitmenschen immer gleichgültiger werden.
Noreena Hertz
Es bestätigt sich hier einmal mehr, wie sehr der Mensch ein soziales Wesen ist und welche Gefahr darin besteht diese Erkenntnis zu vergessen. Es droht der Verlust der Mitmenschlichkeit. Der Verlust des Miteinanders.
Hertz fragt daher eindringlich:
Werden wir nicht unweigerlich immer einsamer, je mehr der Mensch aus unseren alltäglichen Transaktionen verbannt wird? Wenn unser reges Stadtleben nicht mehr durch Small Talk an der Kasse oder Geplänkel mit dem Barkeeper unterbrochen wird, wenn wir im Take-away-Restaurant nicht mehr das freundliche Gesicht der Person hinter der Theke sehen, die unser Sandwich zubereitet, oder das ermutigende Lächeln unserer Yogalehrer, wenn uns unser erster Handstand gelingt?
Wenn wir die Vorzüge all dieser Mikrointeraktionen verlieren, von denen wir mittlerweile wissen, dass sie uns ein Gefühl der Verbundenheit mit unserer Umwelt vermitteln, ist es dann nicht unvermeidlich, dass wir uns immer isolierter und abgeschnittener fühlen?
Noreena Hertz
Medikament ohne Nebenwirkungen
"Unsere Gesundheit wird allem Anschein nach nicht nur durch Gemeinschaft und ein Gefühl gegenseitiger Verbundenheit beeinflusst, sondern auch durch Freundlichkeit - unter Freunden und Familie, Kollegen, Arbeitgebern und Nachbarn, aber auch unter Fremden. Das müssen wir beim Wiederaufbau unserer Welt nach Corona bedenken - und auch, dass Freundlichkeit im neoliberalen Kapitalismus zu einer Währung wurde, zu deren Abwertung wir alle beigetragen haben", gibt Hertz zu bedenken.
Gerade in der gegenwärtigen Krise, die die Menschen voneinander sozial distanziert und das Gefühl für das Miteinander und die Gemeinschaft sehr schnell verloren gehen kann, ist es existentiell wichtig, sich auf die kleinen alltäglichen Augenblicke von Freundlichkeit und Mitmenschlichkeit zu besinnen. Zum eigenen Wohl. Zum Wohle des Mitmenschen und nicht zuletzt auch zum Wohl der Gemeinschaft.
Gerade jetzt muss die Bedeutung der täglichen und alltäglichen Begegnungen in ihrer mitmenschlichen Dimension wieder entdeckt und gelebt werden.