Einander wieder begegnen

Seite 2: Polarisierung in einer zerfaserten Welt und Gegengift

In der derzeitig hochpolarisierten Welt besteht die eklatante Gefahr des dauerhaften Auseinanderbrechens der Gesellschaft. Wir leben in einer Welt, in der die verschiedenen Filterblasen längst auch in der analogen Welt angekommen sind, und die Abwertung der Gegengruppe in "Cofaschisten" bzw. "Covididioten" längst zum Umgangston gehört. Selten war Bastian Berbners Frage berechtigter:

"Wann haben Sie zuletzt mit jemandem gesprochen, der ganz anders war als Sie oder wenigstens ganz anderer Meinung?"

In einer Welt, in der unterschiedliche Gesellschaftsfragmente auseinandertreiben und Menschen massiv vereinzeln, ist es daher umso wichtiger, den Mitmenschen wiederzufinden. Das offene Gespräch mit einem Unbekannten spielt hierbei eine besondere Rolle. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf dem Zuhören, dem Wunsch, den anderen Menschen kennenzulernen. Eine solche Gesprächskultur, bei der man bereit ist, etwas zu lernen und nicht gewillt, Recht zu behalten, erscheint notwendiger denn je.

"Das Miteinander-Reden und Miteinander-Streiten ohne falsche Harmonieerwartung ist in einer Demokratie tatsächlich alternativlos," schreiben Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun in "Die Kunst des Miteinander-Redens". Sie geben noch einen wichtigen Ratschlag, den man sich zu Herzen nehmen sollte, gerade wenn man die Bedeutung von Begegnungen verstanden hat:

An die Stelle des Wahrheitsdisputs tritt also die Anstrengung des Verstehens. Nicht die Widerlegung ist das erste Ziel des Miteinander-Redens, sondern das Erkennen des Anderen in seiner Andersartigkeit, vielleicht auch Fremdheit. (…) Harte Konflikte können nur in einer Gesprächs- und Kommunikationskultur gelöst werden, die verschiedene Teilwahrheiten würdigt, unterschiedliche Positionen gelten lässt und diese dann in gemeinsamem Ringen zusammenführt.

Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun

Wo bitte gehts zur Agora?

Der Verlust an Begegnungen hat gravierende gesellschaftliche Konsequenzen. Insbesondere in einer Zeit in der aufgrund der neuen Verordnungen an vielen öffentlichen Orten und typischen Begegnungsstätten keine oder kaum mehr Begegnungen zwischen Menschen stattfinden können, die unterschiedliche Meinungen zur Impfung haben.

So kann es kaum noch zum Austausch Andersdenkender kommen, der aber für die Demokratie so existentiell notwendig ist. Es ist kein Zufall, dass die Agora, der zentrale Platz im antiken Athen, so eine bedeutende Rolle der Polis für die griechische Demokratie gespielt hat.

Betrachtet man also insgesamt die Gefahr des massiven Rückgangs der täglichen und alltäglichen Begegnungen, so folgt daraus auch eine weitere politische Gefahr: Wie soll Solidarität gelebt und das Gemeinwohl aktiv verfolgt werden, wenn die Menschen - auch gerade in ihrer Unterschiedlichkeit - sich deutlich weniger begegnen?

Notwendige Wiederentdeckung

Ein offenes Gespräch. Freundlichkeit. Kurz Mitmenschlichkeit. Das sind zentrale Heilmittel für eine massiv polarisierte Gesellschaft. Und Grundpfeiler gerade im Hinblick auf eine positive Gestaltung einer zukünftigen Gesellschaft.

Hertz schlussfolgert zu Recht: "Das Gegenmittel für dieses Zeitalter der Einsamkeit kann letztlich nur darin bestehen, dass wir für andere da sind - ganz gleich, wer diese anderen sind. Nicht weniger ist gefragt, wenn wir wieder die Verbindung zueinander aufbauen wollen in dieser zerfaserter Welt."

Die Wiederentdeckung des Mitmenschen, der Begegnungen, ist heute wichtiger denn je.

Von Andreas von Westphalen ist im Westend Verlag das Buch erschienen: Die Wiederentdeckung des Menschen. Warum Egoismus, Gier und Konkurrenz nicht unserer Natur entsprechen.