"Eine Arbeitswelt inszenieren, in der sich Sklaverei wie Freiheit anfühlt"
Seite 4: "Der GEMA-Vorstandsvorsitzende bezog ein Jahreseinkommen von 484.000 Euro, also mehr als 50 mal so viel wie der durchschnittliche junge Musiker"
- "Eine Arbeitswelt inszenieren, in der sich Sklaverei wie Freiheit anfühlt"
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Das ist aber nicht die aktuelle Situation hierzulande ...
Berthold Seliger: Nein, leider gar nicht. Im Gegenteil. In den Städten werden die interessanten Stadtviertel gentrifiziert, die Politik tut nichts, dass zum Beispiel die Mieten günstig bleiben. Künstler und Musiker aber haben meistens wenig Geld. Wenn es günstige Mieten in spannenden Stadtteilen gibt, ist das schon mal konkrete Kulturförderung. Oder Stichwort Mindestgagen: ich war mal zu einer Anhörung beim Berliner Senat eingeladen, da habe ich eine Mindestgage von 80 Euro pro Musiker und Auftritt wie in Frankreich gefordert, netto wohlgemerkt, also plus Mehrwertsteuer, Künstlersozialkasse und so weiter.
Da haben mich die meisten Politiker komisch angeschaut und gefragt: so wenig? Und ich hab gesagt: Damit wäre wahrscheinlich 80 oder 90 Prozent aller Musiker bereits sehr geholfen, denn die meisten kleinen Bands spielen doch für umme, auf Prozente, oder für skandalöse Minigagen - da merkte man halt, dass die Damen und Herren Kulturpolitiker gleich welcher Couleur keine Ahnung haben, was wirklich "abgeht", wie die Situation für Pop- und Jazzmusiker da draußen wirklich aussieht. Aber das ist ja auch kein Wunder.
Der Berliner Senat zum Beispiel subventioniert regelmäßig auch Veranstaltungsreihen oder Festivals, bei denen Musiker gar nicht oder nur skandalös schlecht bezahlt werden. Nicht wenige staatlich subventionierte Theater, die sich neuerdings Popmusik-Reihen leisten, zahlen sehr kleine Gagen. Und Leute, die das Popmusikprogramm renommierter Berliner Bühnen buchen, zahlen in ihren Firmen Praktikanten dafür, dass die drei oder gar sechs Monate Vollzeit arbeiten, null Euro.
Was die soziale Absicherung von Künstlern und Musikern, aber auch, was die sozialen Strukturen im Kulturbereich insgesamt angeht, ist Deutschland eher auf dem Stand einer Bananenrepublik. In der Realität erleben junge Kulturarbeiterinnen und Künstlerinnen doch oft Ausbeutungsverhältnisse, seien es Minigagen, die nicht zum Leben reichen, sei es, dass viele Kulturbetriebe im Popbereich die Sozialversicherung für ihre Mitarbeiter umgehen und die Leute als freie Mitarbeiter beschäftigen. Da sind wir ein Entwicklungsland, das ist oft Manchesterkapitalismus und 19. Jahrhundert.
Aber warum lassen sich Künstler und Beschäftigte in Kulturbetrieben das bieten?
Berthold Seliger: Ja, das ist natürlich eine gute Frage. Ich glaube, dass eine ganze Generation den Protest, den Widerstand verlernt hat. Oder deutlicher gesagt: einer ganzen Generation wurde der Widerstand gegen die Verhältnisse, sogar schon das Bewusstsein dafür, dass man Widerstand gegen Verhältnisse leisten kann, durch zwei Jahrzehnte Neoliberalismus ausgetrieben. Da geht es einer ganzen Generation heute um eine "ängstliche Vermeidung alles Widerständigen, Risikobehafteten und Unberechenbaren", wie es Cornelia Koppetsch in ihrer Analyse Die Wiederkehr der Konformität formuliert hat. In einer Gesellschaft, in der alles, bis hin zu kulturellen Werten und privaten Beziehungen, einer verqueren Marktlogik unterworfen wird, in einem Kapitalismus, der uns alle zu kommerziellen Objekten macht, wird Eigenverantwortung natürlich nicht goutiert, sondern es geht um Anpassung an die Verhältnisse.
Nun geht es wahrscheinlich darum, dass man den Leuten wieder beibringen muss, dass man für seine Rechte kämpfen kann. Ich spiele, wenn ich im Radio zu Interviews eingeladen werde und paar Stücke Musik mitbringen kann, oder als ersten Song nach meinen Live-Veranstaltungen immer das Solidaritätslied von Brecht/Eisler. Das ist aus den späten 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, und der Text wurde in den 40er Jahren noch mal verändert. Das hört sich nach "alt" an - was kann uns das heute noch sagen? Aber da ist, von großartiger Musik getragen, alles zu hören, worauf es ankommt: Die Solidarität! "Vorwärts und nicht vergessen / worin unsere Stärke besteht". Und: "Unsre Herren, wer sie auch seien / sehen unsre Zwietracht gern / denn so lang sie uns entzweien / bleiben sie doch unsre Herrn."
Und das Lied lehrt, dass man kämpfen muss, wenn man eine andere Welt, wenn man Gerechtigkeit, wenn man Solidarität will. Es schadet ja nie, die Klassiker zu studieren, auch übrigens musikalisch nicht, was Eisler da harmonisch und melodisch macht, mit dem B-A-C-H-Motiv und all den Halbschlüssen und den raffinierten harmonischen Entwicklungen, das ist interessanter als die ganze Jahresproduktion der deutschen Popmusikindustrie. Und man höre sich an, was der geniale Komponist Frederic Rzewski in seinem monumentalen Klavierwerk "The People United Will Never Be Defeated!" aus solchen Zitaten macht.
Manches ist ja so einfach, wie es sich anhört: Das durchschnittliche Jahreseinkommen von Musikern in Deutschland war im Jahr 2012 laut Künstlersozialkasse 12.005 Euro, also etwa 1.000 Euro monatlich. Das durchschnittliche Jahreseinkommen der unter 30jährigen Musiker betrug gar nur 9.430 Euro, also knapp mehr als der Hartz IV-Satz. Während der GEMA-Vorstandsvorsitzende ein Jahreseinkommen von 484.000 Euro bezog, also mehr als 50 mal so viel wie der durchschnittliche junge Musiker. Wer sich diese Ungerechtigkeit gefallen lässt, dem ist im Grunde nicht zu helfen. Und genau diese Fragen stellt ja das Solidaritätslied von Brecht/Eisler eindringlich: "Wessen Morgen ist der Morgen?" Und "Wessen Welt ist die Welt?"
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