"Eine Arbeitswelt inszenieren, in der sich Sklaverei wie Freiheit anfühlt"

Seite 3: "Pop ist in der aktuellen Ausprägung Weltzustimmungs-Pop"

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In den 50er und 60er Jahren traf Popkultur auch auf einen fortschrittlichen Kapitalismus, der aus ökonomischen Gründen ein Interesse daran hatte, dass die Leute nicht monogam leben müssen und auch genug Freizeit haben, um ihre Arbeitskraft regenerieren zu können. Der Kapitalismus hat sich aber gewandelt und das spiegelt sich auch in der aktuellen Popkultur wieder, wobei manche Beobachter meinen, dass das, was früher Popkultur war, heutzutage in die Technik gewandert ist ...

Berthold Seliger: Ich denke auch, dass Popkultur heutzutage keine wirklich avantgardistische Funktion in der Gesellschaft mehr besitzt. Pop ist in der aktuellen Ausprägung Weltzustimmungs-Pop. Adorno hat einmal über Mahler geschrieben, dass dessen Symphonik "gegen den Weltlauf plädiert", heute haben wir das Gegenteil davon.

Nun, ich bin Northern Soul-Fan, was eine Musik ist, die in hohem Maße von Weltzustimmung geprägt ist, aber auf eine kritische, subversive Weise ...

Berthold Seliger: Ich würde das auch ungern immer nur an der Musik festmachen. Für mich ist das Musterbeispiel die Achtziger-Jahre-Friedens-Combo Bots ...

... Gott sei bei uns!

Berthold Seliger: Diese Band ist ästhetisch natürlich so verabscheuungswürdig wie "Pur". - Das was in den Songs passiert, ist nicht immer automatisch das, was wichtig ist. Aber die Haltung, die darüber kommuniziert wird, ist wichtig. Man kann auch eine relativ unpolitische Musik machen und eine anspruchsvolle, rebellische Haltung zum Weltlauf haben. Dissidenz macht sich nicht am Text eines Songs fest.

Können Sie sich das Phänomen erklären, warum heutzutage neunundneunzig Prozent der Achtziger-Jahre-Hippies und -Linksradikalen bemerkenswert reibungslos ihren Weg in die Mitte der Gesellschaft gefunden haben?

Berthold Seliger: Vielleicht hängt das mit dem Distinktionsgewinn zusammen? Man lässt halt ein paar Jahre radikal die Sau raus und macht sich ein alternativbuntes Leben, und nachdem man sich, wie Hegel sagte, "die Hörner abgelaufen" hat, wird man eben ein ganz normal brav-spießiges Glied der Gesellschaft. Das mag grauenhaft sein, aber so funktioniert das Bürgertum.

Zweifelsohne eine Faszinosum, dieses alltägliche Renegatentum. Es ist ja - neben dem unerträglichen Faktum, dass der Kapitalismus immer noch Realität ist - eine der frustrierendsten Beobachtungen, wie weit sich alles, was heute als "alternativ", als irgendwie "progressiv" gilt, von einer substantiellen Kritik des Bestehenden entfernt hat. Herbert Marcuse sprach von der "Hölle der Gesellschaft im Überfluss" und hat auch sehr genau die perverse Dankbarkeit beschrieben, die die Insassen der Hölle derselben entgegenbringen.

"Es geht um eine vernünftige soziale Absicherung der Künstler"

Sie wenden sich in Ihrem Buch gegen die Subventionierung von Popmusik. Anderseits erklärt Owen Heatherley in seinem Buch über die Band "Pulp" den Qualitätsschwund in der britischen Popmusik durch den Umstand, dass der Bezug von Arbeitslosengeld als Haupteinnahmequelle von jungen Musikern durch verpflichtende Arbeitsmaßnahmen ersetzt wurde. Könnten Sie sich nicht vorstellen, dass man mit dem bedingungslosen Grundeinkommen, die hiesige Musikszene einigermaßen aufmischen könnte?

Berthold Seliger: Nun ja, man muss da Äpfel und Birnen auseinanderhalten. Anders als zum Beispiel in Frankreich, wo in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts unter einem sozialistischen Präsidenten dank eines umtriebigen und kompetenten Kulturministers, nämlich Jack Langs, eine wirklich umfassende neue Kulturpolitik auch im Bereich von "Zeitkultur" entworfen und umgesetzt wurde, beschränkt sich deutsche Kulturpolitik, sobald es um Pop und Rock geht, auf bloße Symbolpolitik, auf reine Alibimaßnahmen, da geht es nur um Stadtmarketing und Nation Building.

Im Kern des neuen französischen Modells, das bis heute Bestand hat, stand die soziale Absicherung der Künstler. Man führte Mindestgagen ein, und es gibt eine Art "Arbeitslosengeld" für die meist selbständigen Pop- und Rockmusiker: in Frankreich läuft das so, dass diese Musiker eine bestimmte Mindestanzahl von Konzerten pro Jahr nachweisen müssen, ich glaube aktuell sind das 60 oder 70, und dann bekommen die Musiker auch während der Zeit, in der sie nicht beschäftigt, also ohne Engagement sind, vereinfacht gesagt ihr entsprechendes Durchschnittseinkommen weiter vom Staat. Finanziert wird das unter anderem durch durchaus üppige spezielle Steuern, zum Beispiel auf die Ticketpreise und vor allem auf die Gagen aller Bands. Es ist eine Art Künstler-Sozialversicherung.

Grundgedanke dieses Konzepts ist, dass Musiker eben oft in den auftrittslosen Zeiten nicht von den Gagen ihrer zurückliegenden Konzerte leben können - während diese auftrittslosen Zeiten aber für ihre Musik eminent wichtig sind, da wird geprobt, da werden neue Stücke geschrieben und einstudiert.

Ähnliche Modelle schweben mir auch für Deutschland vor. Es geht nicht um Symbolpolitik, es geht nicht um Alibimaßnahmen, es geht einzig und allein um eine vernünftige soziale Absicherung der Künstler. Damit die Künstler ihre Kunst, damit die Musiker ihre Musik machen können. Vereinfacht gesagt: Die Politik soll gefälligst dafür sorgen, dass Musiker so sozial abgesichert sind, dass sie ihre Musik machen können. Ansonsten lasse man die Popmusik gefälligst in Ruhe, denn die Kunst kommt nun mal vom Rand der Gesellschaft, von outside the society, wie Patti Smith sang.

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