Eine Bürgerpflicht zum Verzicht?

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Im Land der "wahren Bedürfnisse": Konservative aller Lager feiern die Wonnen der Enthaltsamkeit und fordern einen neuen Leviathan. Ein Kommentar.

Ein neues Lied, ein besseres Lied,
O Freunde, will ich Euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.

Heinrich Heine: "Deutschland, Ein Wintermärchen"

Keine Zuckererbsen mehr, keine Rosen, weder Schönheit noch Lust, kein Gas und kein Öl, nur noch, was Gott uns schuf, also Wind und Sonne, Sack und Asche soll es sein. Schrumpfen soll der faule Bauch, gleich verteilt werden sollen Brot und Salz und alles sonst an alle Menschenkinder – so stellen sie sich das vor, die Verzichtsprediger und Enthaltsamkeitsapologeten aller Zeiten.

Seit den Jahren frühchristlicher Chiliasten, Prediger und Fastenorden ist dies eines der beliebtesten Narrative all jener, die die Menschheit zur ultimativen Kehrtwende aufrufen möchten: "Verzicht, Verzicht, Verzicht" heißt das Lied, "Askese, Askese, Askese" lautet der Refrain.

Natürlich nur zu unserem eigenen Vorteil. Wir wissen es noch nicht, aber wir werden selbst am glücklichsten sein, wenn wir erstmal zu diesem Glück des Verzichts gezwungen werden. So hat sogar der schlimme Krieg noch sein Gutes: Er führt uns zurück auf unsere wahren Bedürfnisse. Auf das, was wir "wirklich" brauchen. Er führt uns weg von allem überflüssigen Tand, von allen falschen Versprechen und verlogenen Glücksvorstellungen zu dem, was "wirklich gut für uns ist", mitten hinein in die Wahrheit.

Es ist zwar ein steiniger, mit Dornen gepflasterter Weg, wir werden frieren und darben, aber irgendwo da hinten, hinter der Morgenröte, da lauert dann das Land, in dem zwar kein Gas und Öl mehr fließt, dafür aber Milch und Honig und ein Himmelreich uns frohlocken lässt. Es ist das Land der "wahren Bedürfnisse". Jedes Opfer wird dort belohnt und zurückgezahlt mit noch größeren Überfluss und noch schöneren Gütern irgendwann in der Zukunft.

Wir kennen das alles schon aus der Zeit der Bettelmönche und sonstiger anti-konsumistischer Vereinigungen, mal religiös grundiert, mal mit den Befreiungsversprechen einer Philosophie genannten Ideologie von ganz links oder ganz rechts.

"Große Transformation"

In den Blättern für deutsche und internationale Politik wärmt jetzt der Politikwissenschaftler Philipp Lepenies diesen Evergreen wieder auf: "Verzicht als erste Bürgerpflicht" heißt sein Text, eine Art Kurzfassung seines bei Suhrkamp im März erschienenen Buches Verbot und Verzicht, in dem Lepenies für eine "große Transformation" plädiert.

Er fordert, dass die Menschen "ein Stück ihrer persönlichen Freiheit aufgeben" sollten und sich "aus freien Stücken einer Regierungsform unterwerfen, um dem Chaos des Naturzustandes zu entgehen", es schließlich müsse der Fortbestand der Menschheit auf dem Planeten gesichert werden.

"Warum eigentlich?", ist hier so eine der ketzerischen Gegenfragen, die zu stellen schnell mit dem Fegefeuer öffentlicher Ausgrenzung bedroht wird. Warum soll der Fortbestand der Menschheit eigentlich gesichert werden? Und wie groß ist "die Menscheit"? Acht Milliarden? Zwölf? Oder nur eine?

Fastenpredigten = geistige Magersucht?

Eine zweite Gegenfrage: Wenn es darum geht, die Natur zu schützen, wie verhält es sich dann mit der unbestreitbaren Tatsache, dass der Mensch, der selbst Natur ist, und die von ihm in Gang gesetzte Zerstörung oder positiver formuliert, die Veränderung der Welt selbst ein natürlicher Prozess ist?

Die beste Antwort auf diese Frage würde lauten: Der Mensch ist das Tier, das sich selbst korrigieren kann, das zu sich selber Distanz hat, und das eine Verantwortung für die Welt übernehmen kann. Der Mensch ist also der Gott auf Erden. Eine nicht gerade modische Vorstellung. Denn sie würde in ihrer Konsequenz bedeuten, dass der Mensch alles darf, was er kann und nichts muss, was er soll, und dass er selbstverständlich seinen Erfindergeist, seine Neugier und sein Handwerkszeug, die Technik, dazu einsetzen kann, vielleicht muss, um die Natur oder das, was von ihr übrig blieb, zu retten.

Vielleicht steckt in den vielen Fastenpredigten ja keine neue Pflichtenethik, sondern eher geistige Magersucht. Oder anders gesagt: Der Verzicht auf kreative Lösungen, die etwas mit Aktivität und Ressourcenverbrauch zu tun haben, mit Technik und Erfindergeist, mit Rationalität und Veränderungsbereitschaft, mit Utopien statt Dystopien.

Das rhetorische Pendant zu "Putin"

Aber ignorieren wir solche schnell als "destruktiv" und "polemisch" empfundenen Fragen – und oh ja, Empfindungen sind "wichtig"! –, und konzentrieren uns auf das, was in den Forderungen der Verzichtprediger noch so mitschwingt und aus ihnen folgen soll.

Der große Satan gegen den Lepenies kämpft, das ist mal wieder der böse "Neoliberalismus". Feinde braucht jede frohe Botschaft. Und der Neoliberalismus ist ein sehr dankbarer Feind. Denn allein schon seine Anrufung, die Nennung des Namens genügt, um das Publikum erzittern zu lassen und jede Diskussion zu beenden. "Neoliberalismus", das ist rhetorisch das innenpolitische Pendant zum außenpolitischen "Putin". Man muss dann nichts mehr sagen, nicht mehr weiter denken, denn wer ist schon für Neoliberalismus?

Zumal Neoliberalismus heute von Politikwissenschaftlern wie Lepenies längst nicht mehr analysiert – wenn das Weltende auf dem Spiel steht, sind Details nur störend – als eine womöglich ungeliebte oder gar bekämpfenswerte politische Ideologie unter anderen beschrieben wird, sondern als dominierende Verschwörung des Bösen.

Oder mit Lepenies' Worten: "das Ergebnis eines ausgetüftelten Plans neoliberaler Wissenschaftler, Denkfabriken und Interessenvertretungen". Andere Wissenschaftler, Denkfabriken und Interessenvertretungen tüfteln offenbar keine Pläne aus.

Befreiung durch Unterjochung

Dagegen stehen Philipp Lepenies und seine Argumentation für ein neues Bündnis zwischen klassischen Konservativen und jenen Neokonservativen, die inzwischen das Lager der Grünen dominieren und auf lange Sicht eine schwarz-grüne Regierungsoption gegenüber rot-grün oder eine Ampel bevorzugen. Es geht um Befreiung durch Unterjochung.

Das größte verbindende Element zwischen diesen Milieus ist die Sehnsucht nach einem neuen "starken Staat", nach massiven Eingriffen und offenem Regulierungshandeln durch Regierungen und Bürokratie: "Politik darf neben Verhaltensregulierung durch Verbot und Verzicht auch nicht davor zurückschrecken, die Sachdiskussionen im demokratischen Diskurs mit Moralvorstellungen zu verbinden", meint Lepenies und plädiert in klassisch konservativer Manier für eine Remoralisierung des politischen Diskurses:

Die fundamentale Herausforderung für eine nachhaltige Entwicklung ... ist zutiefst moralischer Natur.

Denn nur, wenn der Bürger das will, was er soll, ist sein Freiheitsverständnis kein "fatales". Dann darf man Freiheit gutheißen. Politik müsse nämlich mit Moral untrennbar verbunden werden.

Die Feindbilder einer solchen Haltung sind von Lepenies ebenfalls rhetorisch klar mit moralistischem Vokabular etikettiert: Sie lauten "Konsumfixierung" statt bessere Lebensverhältnisse, "Hyperindividualisierung" statt Wahlfreiheit, "fehlende Gemeinwohlorientierung" statt pluralistische Gesellschaft, "extreme Ich-Bezogenheit" statt Vita Activa.

Ausstieg aus der Geschichte

Diese neue Feindschaft gegen Freiheit und neue Lust an der Bevormundung anderer, ist nicht nur ein romantischer Reflex, nicht nur eine von Sehnsucht nach den Idyllen der Vergangenheit bestimmte Gefühlspolitik, die am liebsten nichts verändern möchte und deswegen darauf hofft, dass sich eine dynamische Gesellschaft schon irgendwie durch den Verzicht auf Zukunft und Veränderung stillstellen ließe und die ständige Veränderung durch geschichtlichen Fortschritt durch eine "Posthistoire", den Ausstieg aus der Geschichte, ersetzt werden könnte.

Sie ist auch Ausdruck dessen, was man früher "Klassenstandpunkt" genannt hätte: Die Überzeugung, der Staat dürfe das Leben und damit das Konsumverhalten seiner Bürger regulieren und einschränken, ist vor allem ein Glaubensgrundsatz bestimmter politischer Milieus, der in der deutschen Gesellschaft besonders tief verankert ist.

Diese Milieus des urbanen wohlhabenden, besserverdienenden oberen Drittels der Gesellschaft begrüßten zuletzt die Corona-Maßnahmen als "notwendigen" Schutz "der Vulnerablen", ohne Zeit an den Gedanken zu verschwenden, dass sich ein Lockdown im 200qm-Loft mit Balkon besser ertragen lässt als in der 30qm Wohnung.

Staatlich verordnete Hygieneregeln wurden damals von manchen als legitimer Eingriff in die autonomen Handlungsentscheidungen der Bürger gewünscht, so wie man sich jetzt über die Duschverhaltensregeln grüner Politiker freut.

Das Wort "Freiheit" wird – wo Freiheit "fatal" ist – in diesen Gruppen, der vor allem grün und Union wählenden bürgerlichen Wohlstandsmilieus, nicht länger verstanden als ein Vertrauensvorschuss an das mündige Subjekt, als selbstverständliche Wahlmöglichkeit und Grundlage von Selbstbestimmung (Immanuel Kant), sondern als Freibrief für Egoisten, um mit dem Porsche per 250 Stundenkilometer über die Autobahn brettern zu dürfen. Jeder, der das mal praktisch versucht hat, weiß, dass es schon deswegen gar nicht geht, weil dort viel zu viele E-Autos mit 79,5km/h Energiesparen üben.

Wer die Freiheit trotzdem verteidigt, setzt sich dem Verdacht aus, ein "Querdenker" zu sein – dieser Begriff, einst in den 1970er- und 1980er-Jahren als Lob für kreative und sich der Parteiräson nicht unterordnende Generalsekretäre der Volksparteien wie Peter Glotz, Heiner Geißler oder Kurt Biedenkopf erfunden, ist längst zum Synonym für den neuen Pöbel und die "Feinde der Demokratie" mutiert.

Aber wer unterhöhlt tatsächlich die Demokratie und ihre Institutionen? Die, die auf Wahl- und Entscheidungsfreiheit beharren, oder die, die von ihrem Professorenkatheder oder gleich der Dachterrasse herab dem Volk Verzicht predigen, und dort, wo das nicht fruchtet, das Verhalten der Ungehörigen durch "Nudging", Bürokratisuierung und Gesetzesverschärfungen – früher hätte man gesagt: "mit Zuckerbrot und Peitsche" – zu steuern versuchen, jedenfalls nicht durch Einsicht, sondern allenfalls durch Selbstdisziplinierung.

Die Moderne, so schrieb der Soziologe Max Weber, ist "ein stählernes Gehäuse", das aus äußeren und verinnerlichten Zwängen besteht, und in der die Freiheit des Einzelnen ständig gegen die Zumutungen des Apparates neu zu schützen ist.

Despotie im Namen der Natur

Immerhin hält Philipp Lepenies nicht hinter dem Berg, wenn es um die Schlussfolgerungen geht, die er aus seinem Verzichtsansatz zu ziehen wünscht:

Wie also weiter? Es bedarf eines grundsätzlich neuen gemeinsamen Verständnisses hinsichtlich unseres Bildes vom Staat. Wir dürfen nicht länger im Staat einen Gegner sehen, sondern wir müssen uns, wie im Kompositbild des Leviathan, selbst im Staat erkennen – als Bürgerinnen und Bürger, die durch ein Verantwortungsgefühl für andere und die Umwelt motiviert werden und sich miteinander verbunden fühlen. Dazu gehört auch die Maßgabe, unseren Extremindividualismus zu kontrollieren. Zur Not, in der wir uns gegenwärtig angesichts der Kumulation der Krisen ganz offensichtlich befinden, auch durch Verbot und Verzicht.

Philipp Lepenies

Das nun ausgerechnet im 21. Jahrhundert der englische Aufklärer und philosophische Ahnenvater des Fürstenabsolutismus, Thomas Hobbes und sein "Leviathan" zum neuen Vorbild erklärt werden, ist nicht nur deswegen absurd, weil Hobbes' Vorstellung, dass der Mensch dem anderen ein Wolf sei und sich im "Krieg aller gegen alle" befinde, auch eine der Urszenen des von Lepenies scharf abgelehnten Neoliberalismus und des Sozialdarwinismus ist.

Sondern auch, weil der Autor damit mal soeben 300 Jahre Politikgeschichte – von John Locke über Montesquieu und Rousseau und Hegel bis Habermas – und die mühsam errungenen Gewaltenteilungen und bürgerlichen Revolutionen annulliert.

Sein Staat, der am Ende dieser neuen Heilsgeschichte, der Re-Evolution zurück in die Vormoderne erscheint, ist wieder eine absolutistische Fürstendespotie. Nur dass diese Despotie diesmal nicht im Namen Gottes herrscht, sondern im Namen der Natur und "des Lebens".

Die Lebensschützer aller Seiten kennen kein Pardon. Denn die Sache ist zu wichtig, um Gnade walten zu lassen, sie ist "to big to fail". Das Ergebnis ist zu Ende gedacht: eine Ökodiktatur.

Gehorsam ersetzt Debatte

Vorbei sind die Zeiten, in denen sich linksbürgerliche und linksliberale Intellektuelle staatskritisch gaben, ja: in denen links und rechts überhaupt geeignete Pole waren, um die politische Landschaft zu kartografieren.

Heute geht es um den Gegensatz zwischen autoritär und antiautoritär; zwischen jenen, die im Verhältnis zum Staat und zur Beamtenschaft mit Vertrauen und Glaubenssätzen argumentieren, und denen, die Maßnahmen gewählter Institutionen für begründungspflichtig halten und im Zweifel unter Verdacht stellen; zwischen institutionalisierter Ordnung, die mit mal sanftem, mal strengem Zwang operiert auf der einen Seite und der grundsätzlichen Skepsis gegenüber Zwangsmaßnahmen, mit der Vorsicht gegenüber dem Rigorismus der Moral auf der anderen, erst recht, wo das Nichthandeln, wo Verbot und Verzicht gefordert und das Handeln, Neugier und Mut unter grundsätzlichen Verdacht gestellt werden.

Die Res Publica, die "allgemeine Sache" war immer eine Gesellschaft der Individuen, der einzelnen Citoyens, und nie die Gemeinschaft der folgsamen und gehorchenden Untertanen. Demokratie ist anstrengend, sie bedeutet die ständige Arbeit an der Begründung und das langsame Mahlen der institutionellen Mühlen, die bewusst als gegeneinander sich drehende Räder konzipiert sind, nicht als geölte Maschine zur Ausführung des längst Entschiedenen.

Weil er letztendlich tatsächlich ein Urliberaler war, hat der Leviathan-Autor Thomas Hobbes das ganz genau gewusst.

Die individuelle Entscheidungsfreiheit war für Hobbes tatsächlich der wünschenswerte Idealzustand. Nur weil dieser im englischen Bürgerkrieg unerreichbar gewesen ist und die Voraussetzung für tatsächliche Entscheidungsfreiheit in der Abwesenheit von Krieg, im Frieden, liegt, hat Hobbes in der Abgabe des individuellen Gewaltmonopols an einen gewalttätigen und gefürchteten Herrscher, den Leviathan, die zeitweise einzige Möglichkeit zur Freiheitsbewahrung gesehen.

Weil er sich aber der Gefahren eines (über-)starken Staates bewusst war, hat Thomas Hobbes diese Gehorsamspflicht durch ein Gegengewicht ausgeglichen; ein Gegengewicht, das der Autor Philipp Lepenies bewusst oder unbewusst komplett ignoriert: ein Recht auf Widerstand.

Lepenies tut eine so argumentierende Verteidigung von Freiheit als "Fundamentalopposition" und "neoliberale Haltung" ab und behauptet, dass ohne Verzicht "eine sozialökologische Transformation ohne Verbot und Verzicht nicht gelingen wird".

Ja, muss sie denn gelingen? Das könnte man zumindest fragen, und es wäre begründungsbedürftig, zumal "Transformation" dynamischer klingt, als sie ist. Tatsächlich geht es eher um das Unterlassen von Veränderung und ein Zurück in vergangene Zeiten.

In "Deutschland, Ein Wintermärchen" gab Heinrich Heine an Lepenies und alle weiteren Verzichtsprediger bereits vor fast 200 Jahren die beste Antwort: "Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,/ Ich kenn’ auch die Herren Verfasser;/ Ich weiß, sie tranken heimlich Wein/ Und predigten öffentlich Wasser."