Eine Dekade des politischen Scheiterns
Seite 4: Politische "Kollateralschäden"
- Eine Dekade des politischen Scheiterns
- Government unchained
- Kriege als Konfliktform
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Die Fundamentalkritik an einem demokratischen System, das solche Kriege nicht verhindern kann, ist die zentrale Lehre aus diesem Krieg. Wenn eine wild wuchernde politische Semantik ausreicht, sämtliche internationalen und nationalen Kontrollsysteme auszuhebeln, ist eine Demokratie nicht wehrhaft. Die Selbstbeschädigungspotentiale der Demokratie können nicht länger als Betriebsunfall heruntergerechnet werden. Eine Diskursgemeinschaft, die sich diesen frechen Themenwechsel von der allfälligen Apokalypse zum bedauerlichen, aber behebbaren Betriebsunfall gefallen lässt, ist nicht allzu ernst zu nehmen.
Politisch haben wir gleichermaßen eine Erregungs- wie Lethargiedemokratie erlebt, die politische Reflexionen in ihren Teilöffentlichkeiten folgenlos versanden lässt. Die große Öffentlichkeit, die mit ihrem Handlungsdruck und diskursiv überlegenen Wissen die politische Agenda überformt, ist eine blasse Chimäre geblieben. Statt eines Wahrheitsmodells der Demokratie, dem konkrete Handlungen folgen, war lediglich eine unheilvolle Pluralisierung von Auffassungen zu beobachten, die nicht in einen handlungsorientierten Konsens mündeten.
Das neokonservative Programm folgte unbeeindruckt von öffentlicher Kritik den eigenen Exekutivkompetenzen. Das Gesetz des Handelns, so ungesetzlich es auch erschien, hat die demokratischen Sperrmechanismen gegen die Konfliktform "Krieg" leicht durchbrochen. Zahlreiche Apologeten des Kriegs tönten zudem auch hierzulande noch zu einem Zeitpunkt nachhaltig, als man es bereits besser wissen musste, um den Kampf gegen die Massenvernichtungswaffen wider jede Vernunft plausibel zu machen.
Entmachtung der kritischen Öffentlichkeit
Der aufgeklärte Wähler, der Wahrheit und Gewissen verpflichtete Politiker und der mediale Diskurs erwiesen sich bei dieser Veranstaltung als nicht viel mehr als ein ideologischer Selbstbeschwichtigungscocktail der Demokraten. Obamas gegenwärtige Erkenntnis: "Wir sind der Auffassung, dass Iran etwa ein Jahr brauchen würde, um eine nukleare Waffe zu entwickeln" (Neuer Alarm, alte Politik) könnte Geschichte - wie so oft - zum Wiederholungsfall machen.
Die politische Welt der tausendundeins Gefahren für Welt und Mensch besteht aus Schätzungen, Wahrscheinlichkeiten und Statistiken. Diese Unschärfen haben je das Potential einer unverantwortlichen Politik geliefert, die den Regress durch den Wähler nicht allzu sehr zu befürchten hat. Wer vermag schon im Bereich von Wahrscheinlichkeiten, die menschliche Abbildungsmöglichkeiten schnell verlassen, noch politisch vernünftig zu urteilen? Politik, die ihr Selbstverständnis in manipulativ und paranoid gestrickten Prophezeiungen findet, ist demokratiefeindlich. Ein großes Anwendungsfeld für schneidige Eingriffe könnten unter solchen Voraussetzungen nicht nur alte und neue "Schurkenstaaten", sondern demnächst auch Cyber- oder Ressourcenkriege werden.
Conspiracy-Freunde mögen sich allerdings die Augen reiben, weil das Ausmaß der Entmachtung einer kritischen Öffentlichkeit weit darüber hinausgeht, Demokraten lediglich zu täuschen. Denn dieser inszenierte Konflikt wurde gerade nicht dadurch verhindert, dass er sich seit Anbeginn an der Wahrheit stieß. Inzwischen ist dieser Kriegsfrieden so nackt wie er von Anfang an war und wie er die Gefangenen von Abu Ghraib aussehen ließ.
Die Bellizisten sind darüber nicht ausgestorben, obwohl der nachmalige Beweis, dass Kriege als Konfliktlösungs- oder Weltgestaltungsverfahren kaum je begründbar noch bezahlbar sind, drastischer denn je vor Augen geführt wurde. Vor allem ist die moralische Kartografierung und Rollenverteilung, die den westlichen Demokraten so angelegen war, gründlich durcheinander geraten. Denn die neuen Frontlinien, die sogar durch das Kabinett der irakischen Regierung laufen, folgen anderen als nationalen Logiken.
Colin Powell warnt, dass sich "ein Mini-Staat im Norden, ein größerer Mini-Staat im Süden und eine Art Nichts in der Mitte" herausbilde. Ein völlig aus den Fugen geratener Irak in dem politisch höchst brisanten geopolitischen Kontext von Syrien, Iran und Afghanistan bereitet weiterhin ausreichend Stoff für künftige Krisenszenarien. Dass hier Volksgruppeninteressen nicht dem Prokrustesbett einer staatlichen Überformung folgen würden, wusste man prinzipiell vorher. Insofern sind Demokratie und Menschenrechte per se keine selbstläufigen Instrumente einer besseren irakischen Gesellschaft.
Die Demontage des eigenen demokratischen Kontrollsystems macht es nun notwendig, vor der Errichtung von weiteren Demokratien im Nahen oder Fernen Osten das eigene Politikmodell und seine Sperrriegel gegen staatlich illegitime Gewaltanwendung einer grundlegenden Revision zu unterziehen. Vielleicht lindert das zukünftigen Missionseifer...