"Eine Guantanamoisierung der Sicherheitspolitik darf es nicht geben"

Seite 2: "Ich bin gegen den Überwachungsstaat - in jeder Hinsicht"

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Herr Bartsch, in Deutschland gibt es derzeit um die 600 islamistische Gefährder - Leute, denen die Sicherheitsbehörden Anschläge zutrauen. Die Linke bezweifelt diese Zahl und spricht davon, dass Bürger mit Migrationshintergrund unter Generalverdacht gestellt würden. Von wie vielen Gefährdern geht Ihre Partei eigentlich aus?

Dietmar Bartsch: Hinzu kommen im Übrigen auch 462 Rechtsextremisten, die untergetaucht sind und sich so dem Vollzug ausstehender Haftbefehle entziehen. Ich wäre arrogant, wenn ich so tun würde, als könnte ich Ihnen eine genaue Zahl der extremistischen Gefährder nennen.

Ihre Kollegin Ulla Jelpke forderte kürzlich eine gesetzliche Grundlage. Das Begriffschaos um sogenannte Gefährder müsse endlich beendet werden, sagte sie der Neuen Osnabrücker Zeitung.

Dietmar Bartsch: Recht hat sie! Die Frage "Wer ist ein Gefährder?" ist entscheidend. Die Kategorisierung ist längst nicht so eindeutig, wie uns so mancher vorgaukelt. Wir brauchen da endlich Klarheit. Es kann nicht sein, dass jedes Bundesland Gefährder nach eigenen Maßstäben einstuft. Wir müssen Rechtsstaatlichkeit als oberstes Gebot bewahren.

Innenminister de Maizière will den Sicherheitsbehörden Zugriff auf verschlüsselte Messenger-Dienste verschaffen. Noch gibt es rechtliche und technische Hürden. Wie steht die Linke dazu?

Dietmar Bartsch: Thomas de Maizière im Kinderzimmer, eine schreckliche Vorstellung. Ich sage ganz klar: Ich bin gegen den Überwachungsstaat - in jeder Hinsicht. Aber ich bin dafür, dass die Möglichkeiten, terroristische Anschläge zu verhindern, maximiert werden. Derzeit wird da aber eindeutig überdreht. Nicht jedes Mittel ist geeignet, angemessen und verhältnismäßig. Es kann nicht sein, dass die Freiheitsrechte der Bürger immer weiter eingeschränkt werden.

Und welche Mittel sind angemessen?

Dietmar Bartsch: Wir brauchen vielmehr ein Höchstmaß an Transparenz. Und: Wir sind der Auffassung, dass viel mehr Kraft in die Deradikalisierung gesteckt werden muss. Wir sagen: Alle Vorschläge müssen dort debattiert werden, wo sie hingehören: in den Gremien des Deutschen Bundestages. Die Panikmache und der Überbietungswettbewerb, den Konservative und Sozialdemokraten derzeit betreiben, sind kaum zu ertragen. Die Große Koalition sollte auch endlich aufhören, ständig Scheindiskussionen zu führen.

Haben Sie ein Beispiel parat?

Dietmar Bartsch: Der Grundtenor, man solle die Flüchtlinge stärker kontrollieren, geht in die falsche Richtung. Offensichtlich will die Union mit solchen Manövern ablenken von ihrem eigenen Versagen, dem Chaos in der Justiz, im BAMF, im Sicherheitsapparat. Die wahren Probleme liegen auf der Hand! Herr Amri hatte fünf Identitäten. Das war den Behörden bekannt! Hier fehlten also nicht, wie behauptet, gesetzliche Grundlagen, sondern es wurde schlicht gepennt und vermutlich sogar vertuscht. Wenn das LKA Berlin Observationen abbricht, die Staatsanwaltschaft darüber aber im Unklaren lässt, ist das schon ein starkes Stück. In einem Wort: Behördenversagen.

Wie soll Deutschland mit Gefährdern umgehen?

Dietmar Bartsch: Einige von denen sind in Deutschland geboren worden und aufgewachsen. Die Forderung, sie abzuschieben, läuft somit ins Leere. Bei der Debatte um Gefährder darf eines nicht aus dem Blick geraten: Befugnisse der Polizei bei der Gefahrenabwehr beziehen sich auf eine konkrete Gefahr, nicht auf eine Person, der man bestimmte Dinge zutraut. Das meine ich mit rechtsstaatlicher Grenze. Eine Guantanamoisierung der Sicherheitspolitik darf es nicht geben. Das betrifft sowohl Schutzhaftphantasien als auch den Glauben, das Problem mit Abschiebungen lösen zu können.

Das sehen viele in Ihrer Partei anders.

Dietmar Bartsch: Auch in meiner Partei gibt es Stimmen, die sagen: Na, wenn die hier Verbrechen begehen wollen, dann weg mit denen. Da habe ich auch Verständnis für, gerade wenn die Menschen von Anschlägen aufgewühlt sind. Aber ich sage auch: Schon jetzt sind konkrete Vorbereitungshandlungen für Gewalttaten strafbar, und dann landen die Leute erst mal im Gefängnis. Danach kann man sie nach geltendem Recht auch abschieben. Klar ist: Abschiebungen auf bloßen Verdacht werden wir niemals mitmachen, da herrscht auch Einigkeit.

Noch einmal nachgefragt: Wie umgehen mit deutschen Gefährdern?

Dietmar Bartsch: Die Polizei muss allen Hinweisen nachgehen, die auf eine drohende Gefahr hindeuten. Dabei muss man denen, von denen die Gefahr mutmaßlich ausgeht, auch auf die Füße treten. Wir sind da für ein offenes Visier: dass den Leuten klar ist, die Polizei hat mich auf dem Schirm. Und nicht, wie es jetzt läuft, dass vor allem die Geheimdienste so lange wie möglich heimlich zugucken, was einer so tut und mit wem er Kontakt hat. Genau so etwas ist bei Amri passiert. Das darf sich nicht wiederholen!

"Die Berichte des Verfassungsschutzamtes sind analytisch dünne Suppe"

Die Linke will alle deutschen Geheimdienste abschaffen. Wie genau stellen Sie sich das vor?

Dietmar Bartsch: Beim MAD fragt man sich ohnehin, was die eigentlich so treiben, erst recht seit Franco A. Einen solchen Dienst braucht kein Mensch. Der Verfassungsschutz hat sich in den vergangenen Jahren wie ein Pilz durch die gesamte Sicherheitsarchitektur gefressen. Er hat sich nach Wegfall seiner Existenzberechtigung, dem Kalten Krieg, mühsam viele neue Aufgaben zusammengesucht. Ein Teil davon ist schlicht Gefahrenabwehr und gehört klar in die Zuständigkeit der Polizei, die kann das viel besser.

Bei der "Frühwarnfunktion" hinsichtlich so genannter extremistischer Bestrebungen sagen wir: Das kann eine unabhängige Beobachtungsstelle, die sich in erster Linie menschen- und minderheitenfeindlichen Entwicklungen widmet und mit NGOs zusammenarbeitet, viel besser. Stichworte: Rassismus, Antisemitismus, antimuslimische Ressentiments, Homophobie und vieles andere mehr. Lesen Sie sich mal die Berichte des Verfassungsschutzamtes durch, das ist analytisch dünne Suppe. Rechtsextreme Bewegungen wie die "Reichsbürger" oder die "Identitären" tauchen da nicht mal auf.

Herr Bartsch, gab es in diesem Jahr einen Tag, an dem Sie nicht gefragt wurden, wie es denn nun aussehe mit Rot-Rot-Grün?

Dietmar Bartsch: Ich wäre schon zufrieden, wenn es Tage gäbe, an denen ich nur einmal danach gefragt werde. Keinmal?! Ach, das müssten eigentlich Feiertage sein (lacht).

So schlimm?

Dietmar Bartsch: Na ja, wir sehen, dass der konservativ-liberale Block seit Monaten versucht, mit diesem Thema Ängste zu schüren. Dagegen wehre ich mich, indem ich immer wieder sage: Ich kämpfe für die Linke und einen Politikwechsel auf Bundesebene, Punkt.

Was antworten Sie denen, die sagen, die Chancen für Rot-Rot-Grün seien nach dem Parteitag in Hannover rapide gesunken?

Dietmar Bartsch: Das ist Unsinn. Es wurden keine Türen zugeschlagen, und wenn, dann sind diese nicht verschlossen. Wie hoch die Chancen für Rot-Rot-Grün sind, wird das Wahlergebnis am 24. September zeigen. Ich bin gespannt, ob die Chancen durch die Bundesparteitage von Grünen und SPD in den kommenden Tagen größer werden. Fragen Sie doch mal Martin Schulz oder Cem Özdemir dazu, mir haben Sie auch in diesem Interview schon wieder mehr als eine Frage zum Thema gestellt.

Das werden wir tun, ja. Apropos Martin Schulz: Tat Ihnen der SPD-Chef in den vergangenen Wochen manchmal leid?

Dietmar Bartsch: (Pause) Mit Martin Schulz ist die Möglichkeit für einen Politikwechsel größer geworden, er hat die SPD aus dem 20-Prozent-Ghetto befreit. Jetzt bekommt er ordentlich Gegenwind, so ist das manchmal. Aber bis zur Bundestagswahl wird noch einiges passieren. Und ja, es gibt deutliche Kritikpunkte am derzeitigen Kurs der SPD, aber ich habe den Damen und Herren keine Ratschläge zu geben. Zugleich erwarte ich allerdings, dass die Sozialdemokraten dazulernen und uns nicht ständig erzählen, was wir zu tun hätten.