Eine Zeitschrift auf den Server einer Universität zu legen, ist keine große Leistung
Ein Gespräch mit Arnoud deKemp vom wissenschaftlichen Springer-Verlag
Weltweit stehen die wissenschaftlichen Bibliotheken mit dem Rücken an der Wand; aus ihren Regalen verschwindet ein Zeitschriftentitel nach dem anderen. Jährlich zweistellige Preissteigerungen seit Anfang der neunziger Jahre und stagnierende Etats zwingen zu Abbestellungen, die nicht nur die Öffentlichkeit von Wissenschaft in Frage stellen, sondern inzwischen auch konkret die Arbeitsmöglichkeiten der Forscher bedrohen. Warum werden die Zeitschriften nicht billiger, wenn sie in elektronsicher Form angeboten werden? Über die Probleme und Strategien der Publikation wissenschaftlicher Zeitschriften und die Aufgabe der Bibliotheken hat Richard Sietman mit Arnoud deKemp, Bereichsleiter für Marketing beim Springer-Verlag, gesprochen.
Herr deKemp, wie hoch waren Umsatz und Gewinn der wissenschaftlichen Verlagsgruppe Springer im abgelaufenen Geschäftsjahr?
Arnoud deKemp: Dazu machen wir aus geschäftspolitischen Gründen keine öffentlichen Angaben.
Um wieviel Prozent sind die Zeitschriften Ihres Hauses in diesem Jahr gegenüber dem Vorjahr teurer geworden?
Arnoud deKemp: Im Vergleich zu 1998 durchschnittlich um 9,8%. Im Jahr 2000 werden wir unterhalb von 8,5% bleiben, sogar inklusive der Umfangvermehrungen.
Der Offene Brief der Kommission für Erwerbung und Bestandsentwicklung des Deutschen Bibliotheksinstituts vom Januar letzten Jahres enthält kaum verhüllt den Vorwurf der Preistreiberei. Haben Sie schon darauf reagiert?
Arnoud deKemp: Natürlich; sowohl mündlich als auch schriftlich. Ich hatte bereits vor diesem Brief, auf der Buchmesse im letzten Jahr, die Initiative ergriffen und einige Kollegen aus der Verlagsbranche, eine Reihe von namhaften Bibliothekaren und einige Agenturen zusammengebracht. In diesem Frankfurter Kreis sind wir uns alle der Gesamtproblematik bewusst, wie auch über die Rollen, die wir darin einnehmen. Sie kann von keiner der Parteien - Verlag oder Fachgesellschaft oder Bibliothek oder Agentur - allein gelöst werden. In der öffentlichen Erklärung, die wir im Juli verabschiedet haben, steht eindeutig, dass wir in diesem hochkomplexen Zusammenspiel aufeinander angewiesen sind; darin steht aber auch, dass es vielleicht nicht darum geht, dass den Bibliotheken zuwenig Geld zur Verfügung steht. Möglicherweise sind die Mittel deshalb knapp, weil das Geld anderweitig ausgegeben wird.
Preissteigerungsraten von knapp zehn Prozent liegen um ein Vielfaches über dem Anstieg der allgemeinen Lebenshaltungskosten.
Arnoud deKemp: Das ist doch kein tauglicher Maßstab. Man kann nicht sagen, die Lebenshaltung ist 3% teurer geworden, deswegen dürfen Zeitschriften nicht mehr als 3% im Preis steigen. Zeitschriftenpreise sind von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängig. Beispielsweise nimmt der Umfang zu. Allein die Redaktionsvergütungen sind bei uns im letzten Jahr um über 17% gestiegen. Die Professoren, die solche Aufgaben früher im Rahmen ihrer universitären Tätigkeit erledigt haben und dafür ihre Sekretariate einsetzten, müssen mehr und mehr ihre Leistung verrechnen.
Hinzu kommt, dass der Springer-Verlag wie eine ganze Reihe anderer Verlage in den letzten Jahren kräftig in neue Technologien hat investieren müssen. Die Wissenschaftler wollen, dass ihr Material schneller publiziert wird. Das bedeutete für uns Investitionen in Millionenhöhe, um neue Abläufe in unsere Redaktions- und Herstellungsprozesse einzuführen. Aber die größte Investitionswelle liegt anscheinend hinter uns.
Ein weiterer Faktor ist die Erosion, mit der jeder Verlag zu kämpfen hat. Es gibt auf der Welt keine Zeitschrift, deren Zahl der Abonnenten gleich bleibt. Wir müssen uns sehr viel kräftiger als früher dafür einsetzen, die Abonnementszahlen einigermaßen zu halten; das heißt, die Kosten für Marketing, Verkauf und Vertrieb haben zugenommen. Trotzdem verzeichnen alle Verlage Rückgänge von acht, vielleicht auch zehn Prozent. Und zehn Prozent weniger Abonnenten bedeutet zehn Prozent weniger Erlöse. Das lässt sich nur durch Preissteigerungen auffangen.
Eine teuflische Spirale. Die Bibliotheken stehen vor dem Kollaps.
Arnoud deKemp: Wenn Bibliotheken verstärkt auf Fernleihe, Kopierdienste oder die Dokumentenlieferung mit Subito - das ist ein großes Förderprogramm in Deutschland - setzen und daraufhin die Auflagen dramatisch fallen, dann dürfen sie nicht darüber verwundert sein, dass sich die Lage verschärft. Entweder man stellt Zeitschriften ein, oder man muss sie verkaufen; letzteres geht dann nur zu höheren Preisen.
Ihr Haus bietet bereits 90% aller Zeitschriftentitel auch in elektronischer Form an. Die Lagerhaltungs- und Distributionskosten können damit weitgehend entfallen. Warum wird es dann nicht billiger, sondern teurer?
Arnoud deKemp: Wenn alle Bibliotheken in der Welt zu uns sagen würden, wir verzichten auf die gedruckten Exemplare, dann könnten wir auch eine einmalige Reduzierung der Preise durchführen.
Es sind die Bibliotheken, die auf den Print-Versionen bestehen?
Arnoud deKemp: Darüber gab es heftige Diskussionen. In den Verhandlungen mit fast 50 Bibliothekskonsortien, die Verträge für den Online-Zugang über unseren LINK-Informationsdienst abgeschlossen haben, haben wir festgestellt, dass man auf gedruckte Exemplare überhaupt nicht verzichten kann. Die braucht man zum Browsen in der Bibliothek, zum Ziehen von Kopien, zum Archivieren, usw.
Das Hemmnis sind aber nicht nur die Bibliotheken, sondern auch die Autoren. Sie glauben gar nicht, wie wichtig es für Wissenschaftler ist, Nachdrucke von ihren Aufsätzen zu bekommen. Jeder will heute immer noch Ausdrucke auf schönem Verlagspapier haben, um sie Bewerbungen oder Anträgen für das nächste Forschungsprojekt beizulegen und auch Kollegen und Bekannte zu informieren. Solange wir gezwungen sind, beides zu handhaben, eine gedruckte Ausgabe hoher Qualität und eine elektronische Ausgabe in genauso hoher Qualität, entstehen uns selbstverständlich Mehrkosten.
Die Sie auf die Kunden abwälzen.
Arnoud deKemp: Wir sind der einzige Verlag, der für den elektronischen Volltext keinen Aufpreis verlangt. Auf Titelebene und auf Abonnentenebene ist der Basiszugang kostenlos. Andere Verlage verlangen dafür fünf, zehn oder 15 Prozent. Wenn jedoch ein landesweites Konsortium sagt, wir hätten gern für alle unsere Mitglieder den uneingeschränkten Zugang zu allen Inhalten in LINK - und das auch für die Zeitschriften, die unter 17 Universitäten vielleicht nur einmal oder überhaupt nicht abonniert sind - dann hat das natürlich seinen Preis.
Sie bieten die Print- und Netzversion nur als Paket an, einen Abschied von Gutenberg wird es sobald nicht geben?
Arnoud deKemp: Nicht in absehbarer Zeit. Und wenn, dann nur bei einzelnen Publikationen. Solange wir noch in der gedruckten Welt leben und solange die Buchstaben noch das Wort führen, ist das Printmodell das Hauptmodell. Wir ermöglichen kostenlos den parallelen Zugang zu der elektronischen Version - das ist nicht kostenlos für uns, aber wir stellen es nicht in Rechnung - und erzielen damit eine enorme Wertschöpfung innerhalb des Abonnements. Dazu gibt es dann auch noch multimediale Supplemente, Audio-Files, Videosequenzen, Labormanuale, Computer-Simulationen oder das Farbdia zu der Schwarzweiß-Abbildung im Text.
Kommt dafür dann demnächst das Pay-per-View, bei dem der Wissenschaftler künftig jeden einzelnen Zugriff aus seinem Forschungsbudget bezahlen muss?
Arnoud deKemp: Das gibt es im Prinzip jetzt schon. Wir machen das mit dem FIZ Karlsruhe im Programm AUTODOC, bei Chemical Abstracts mit ChemPort, und wir führen Versuche mit der Deutschen Telekom über die Plattform Global Learning durch, wo der Bezug von Dokumenten über die monatliche Telefonrechnung abgerechnet wird. Daneben haben wir seit vielen Jahren Verträge mit fünf großen Kopielieferdiensten wie Adonis, Cisti in Kanada, oder UMI, die noch sehr stark mit Mikrofiches arbeiten. Diese Dienste liefern mit unserer Zustimmung Kopien von Dokumenten, auch von elektronischen, an weitere Kunden. Das ist nicht das große Geschäft, aber es könnte ein attraktives Nebengeschäft werden.
Das Abonnementmodell insgesamt steht nicht zur Disposition?
Arnoud deKemp: Nein. Denn die Subskription bietet eine Reihe von Garantien, zum Beispiel die Qualität und die Kontinuität für bestimmte Wissensgebiete. Nehmen Sie die Kinder-Radiologie oder die Lebensmitteltechnologie: Da will jeder, der in diesem engdefinierten Bereich tätig ist, informiert sein. Man abonniert um sicher zu sein, dass man kontinuierlich über die neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten wird. Abonnements garantieren die Lieferung, die Verlage die Produktion, die Herausgeber die Qualität, und die Autoren wissen um die Wichtigkeit der ausgewählten Beiträge. Die Bibliotheken wiederum haben die Garantie, dass zu einem kalkulierbaren Preis im Rahmen fester Budgets geliefert wird. All das wäre beim Einzelbezug von Dokumenten in Frage gestellt.
In den USA haben sich mit E-Biomed, HighWire Press und SPARC bereits Initiativen formiert, die Electronic Publishing als Hebel zur Lösung der Zeitschriftenkrise propagieren. Sehen Sie davon Ihr Geschäftsfeld bedroht?
Arnoud deKemp: Überhaupt nicht. SPARC beispielsweise wurde mit sehr viel Aplomb angekündigt. Wenn man sich jetzt anschaut, was nach einem Jahr daraus geworden ist, dann gibt es, glaube ich, zwei oder drei Zeitschriften, die unter dem SPARC-Regime entstanden sind. Die Zeitschriften sind zum Teil von der American Chemical Society initiiert worden - eine Gesellschaft übrigens, die sonst bekannt ist für sehr starke Preiserhöhungen.
Es sind ja nicht nur die kommerziellen Verlage, sondern gerade die wissenschaftlichen Vereinigungen haben, soweit ich das beurteilen kann, kräftigst die Preise angehoben. Deshalb ist es bei all der Kritik, die aus Amerika kam, schon überraschend zu sehen, dass ausgerechnet eine der Gesellschaften, die in der Oberliga mitspielt, sich an SPARC beteiligt.
Sie sehen keine Notwendigkeit, in irgendeiner Form auf die Herausforderung zu reagieren?
Arnoud deKemp: Nein. Ich bin lange genug im Verlagsgeschäft, um die Wiederholung von solchen Versuchen zu sehen. Das sind fast so etwas wie Kondratjew-Zyklen. In Wellen von sieben oder acht Jahren wird immer mal wieder gesagt, wir machen das selbst. Im Endeffekt kommt es dann aber auf ein paar Dinge an, die sich als so wichtig herausstellen, dass man das dann wieder aufgibt oder abgibt.
Entscheidend sind doch Kontinuität und Qualität, auch das Marketing. Wenn eine Publikation am Ende von vier Hiwis abhängt, die lange Semesterferien haben und vielleicht nicht immer zur Verfügung stehen, dann läuft das nicht. Eine Zeitschrift auf den Server einer Universität zu legen, ist keine große Leistung. Aber die Inhalte zu filtern, einheitlich zu strukturieren und bekannt zu machen, kostet immer noch Kraft und Einsatz.
E-Biomed zielt auf eine hohe Visibilität im Netz. Dahinter steckt erstmals der Versuch, alle Veröffentlichungen eines Fachgebiets unter einer Portal-Site zu bündeln.
Arnoud deKemp: Das ist ja nicht das erste Mal. Denken Sie an den Physik-Server von Paul Ginsparg in Los Alamos, der mit Zuwendungen der NSF unterhalten wird. Dort sind inzwischen mehr als hunderttausend Preprints abrufbar. Im Prinzip ist ein Großteil der nicht offiziell publizierten Physikliteratur dort vorhanden. Nachdem das ein paar Jahre läuft, ist doch interessant, dass über 90% des dort vorhandenen Materials offiziell in Zeitschriften publiziert ist. Warum? Weil das ganze Procedere, das ganze System noch immer darauf basiert, dass die Autoren in einer Zeitschrift veröffentlichen möchten, damit sie später zitiert werden können.
Die Zeitschriften braucht man noch für die Archivierung?
Arnoud deKemp: Nein, nicht für die Autoren; sie bekommen ihre Nachdrucke. Es ist eher die Tatsache, dass jemand sagen kann, ich habe in der renommierten Zeitschrift ABC publiziert, und andere Kollegen zitieren mich, weil ich darin publiziert habe. Das Zitieren, das Belegenkönnen, in dieser angesehenen Zeitschrift mit einer namhaften Redaktion und einem strengen Peer-Review-System 'durchgekommen' zu sein, gilt als Ausweis der Qualität. Das ist den Autoren wichtig.
Strenges Peer Review lässt sich ja auch mit E-Journals verwirklichen. Einer Ihrer Kollegen sagte einmal, 'Wenn wir die Autoren verlieren, sind wir tot'. Sie müssen noch nicht um die Autoren kämpfen?
Arnoud deKemp: Ganz im Gegenteil. Der Druck auf die Verlage, mehr zu publizieren - mehr Hefte, mehr Seiten, neue Zeitschriften - ist immens und hält an.
Einige US-Universitäten verlangen bereits von ihren Professoren, dass sie das Copyright an ihren Veröffentlichungen behalten und nicht den Zeitschriftenverlagen übertragen. Verändert das nicht die Geschäftsgrundlage?
Arnoud deKemp: Das ist für uns kein großes Thema. Das Urheberrecht liegt ohnehin immer bei den Autoren; wir nehmen im Auftrag der Autoren lediglich ein Vervielfältigungs- und Schutzrecht wahr. Das heißt, wir sind Auftragnehmer, die darauf achten, dass die Urheberrechte der Autoren nicht durch Kopieren oder Verfälschungen verletzt werden.
Die Initiativen, das Copyright bei den Autoren zu belassen, zielen auf die Möglichkeit, die Arbeiten separat im Internet veröffentlichen zu können.
Arnoud deKemp: Bei Springer haben wir seit längerer Zeit die Regel, dass den Autoren freigestellt bleibt, die finale Version ihrer Arbeit auch selbst auf einem Server abzulegen. Wir sehen das realistisch. Die Autoren haben in der Universität oder in der Firma die Arbeit gemacht. In Amerika gehört das ohnehin der Firma, und was mit öffentlichen Geldmitteln gefördert wurde, ist Public Domain; in Europa sind die Handhabungen etwas anders. Entscheidend ist: Der Autor ist geistiger Inhaber dieser Arbeit. Wir multiplizieren das, wir machen das bekannt, wir vervielfältigen das, wir machen eine elektronische Version daraus - aber der Autor darf bei uns die Arbeit in der finalen Form selbst auflegen, wenn er darauf hinweist, dass sie in der Zeitschrift soundso publiziert ist, und dass die offizielle Publikation über den Verlag auch die Version ist, die von den Referatediensten und Abstract Services indiziert und abstrahiert wird. Bei unserem Programm 'Online First' gilt das noch stärker, weil wir für diese Publikationen Digital Object Identifiers registrieren lassen. Man muss unterscheiden: Es gibt eine Publikation und es gibt die Kommunikation. Sie können nie im Leben einem Autor verbieten, seinen Aufsatz selbst an Fachkollegen zu schicken. Dazu erhalten sie von uns bisher schon Gratisvordrucke oder sie bestellen sogar weitere zu Selbstkostenpreisen - das sind manchmal Hunderte von Exemplaren. Ob die Kommunikation nun gedruckt oder elektronisch erfolgt, solange man auf die offizielle Publikation hinweist, ist das kein Thema.
Wo liegt aus Ihrer Sicht die Zukunft der Fachinformationszentren - als Zwischenhändler?
Arnoud deKemp: Das ist eine interessante Frage. Es gibt eine Reihe alter und neuer Zwischenhändler, oder alter Zwischenhändler mit neuen Rollen. Ich behaupte, als Anbieter von bibliografischen Informationen nehmen die Fachinformationszentren eine sehr wichtige Rolle wahr. Denn in dieser Übergangsphase, wo sehr viel noch gedruckt und längst nicht alles elektronisch vorhanden ist - und wenn, dann nur die neuesten Hefte und jüngsten Jahrgänge - ist es für das Retrieval außerordentlich wichtig herauszufinden, ob ein bestimmter Aufsatz gedruckt und/oder elektronisch verfügbar ist.
Man sucht nach Autoren, man sucht nach Titeln, nach bestimmten Daten oder Fakten; und das nicht bei den proprietären Diensten der Verlage oder Fachgesellschaften, sondern in den riesigen Beständen, die die gesamte Literatur in einem bestimmten Fachgebiet abdecken. Insofern werden die bibliografischen Datenbanken - und das sind eigentlich 99% der Aktivitäten der Fachinformationszentren - noch an Gewicht gewinnen.
Dies gilt umso mehr, wenn sie die Metadaten vernetzen. Wir nennen das 'Deep-Linking' und sind da mit dem FIZ Karlsruhe sehr aktiv. Dort sind wir mit dem Programm AUTODOC soweit, dass wir einzelne Dokumente in elektronischer Form liefern. Von einem bei der Suche gefundenen Abstract kann man sich 'durchklicken': Das geht dann vom FIZ Karlsruhe zu Springer LINK; man kann sich es da noch einmal im Kontext des Originals der Zeitschrift ansehen und, sofern man ein Passwort besitzt, im Volltext anschauen oder ausdrucken. Wenn man kein Passwort besitzt, kann man sich das einzelne Dokument über FIZ Karlsruhe elektronisch bestellen. Bisher musste man von dem bibliografischen Dienst zu einem Bestelldienst gehen; dann wurde in der Bibliothek das Heft aus dem Regal geholt, eine Fotokopie angefertigt und die per Fax oder per Post zugeschickt. Das dauert einige Tage bis Wochen.
Nun würden die Fachinformationszentren über Abstracts und bibliografische Informationen hinaus die Volltexte gern direkt anbieten. Wenn die Autoren das Copyright behalten, könnten sie das doch auch ohne weiteres tun. Dann würde sich die Distribution an den Verlagen vorbei entwickeln.
Arnoud deKemp: Die Gefahr sehe ich nicht, weil das ja auch eine Frage der Organisation ist. Zeitschriften sind 'community organizers'; sie sind das Organ einer Fachgesellschaft oder ein Sprachrohr für bestimmte Wissenschaftsgebiete. Sie gewährleisten die redaktionelle Qualität extern durch ein unabhängiges Herausgebergremium ausgewählter Experten und durch das anonyme Peer Reviewing - der Verlag lehnt ja keine Beiträge ab, sondern das machen die Herausgeber mit ihren anonymen Peer Reviewern, aber er organisiert die Abwicklung.
Der Mehrwert liegt in der Dienstleistung?
Arnoud deKemp: Ja. Bei einer Zeitschrift mit einer Ablehnungsquote von 80% haben wir 180% der Arbeit, denn auch die abgelehnten Artikel bedeuten Arbeit für uns: Wir müssen jeden Beitrag registrieren, beantworten, an den Herausgeber weiterleiten, an die Peer Reviewer, die Kommentare wieder zurücknehmen, darüber mit den Autoren korrespondieren, usw. Insofern ist es wirtschaftlich undenkbar, dass ein Fachinformationszentrum direkt mit hunderttausend Autoren im Kontakt steht. Das wäre einfach nicht zu organisieren.
Wagen Sie eine Prognose, wie sich die Arbeitsteilung in dem Fünfgestirn von Autoren, Fachgesellschaften, Fachinformationszentren, Wissenschaftlichen Bibliotheken und Verlage unter dem Einfluss des Electronic Publishing verschieben werden?
Arnoud deKemp: Die Frage lässt sich kaum in einem Satz beantworten. Im Moment hat jeder seine Rolle, aber keiner ist damit so recht zufrieden. Ich denke, dass das Zusammenspiel im Prinzip darauf aufbaut. Große Brüche kann sich keiner leisten. Die bibliografischen Datenbanken und die Fachinformationszentren werden nicht obsolet werden; sie werden sich mit dem Volltext vernetzen und zum Teil ihr Material nicht mehr selbst erfassen, sondern von den kommerziellen Verlagen bekommen. Springer liefert schon in größerem Umfang Abstracts und Inhaltsverzeichnisse an Fachinformationszentren; damit sind sie um Monate schneller als früher.
Aber auf die eigentliche Veröffentlichung müssen die Autoren nach wie vor Monate warten.
Arnoud deKemp: Das ist das 'Fensterbank-Problem' der Verlage: Manche Publikationen liegen quasi druckreif auf der Fensterbank, können aber noch nicht erscheinen, weil es einen Stau des Materials gibt oder weil die Herausgeber ein Themenheft vorbereiten. Das ist von vielen Wissenschaftlern kritisiert worden. Als erster Verlag in der Welt haben wir den großen Schritt gewagt und setzen Digital Object Identifiers, DOI, ein für ein Verfahren, das wir 'Online First' nennen. Dabei legen wir die Aufsätze, die schon die ganze Prozedur - Herausgeber, Peer Reviewing, copy editing, Umbruch, Imprimatur des Autors - durchlaufen haben und nur noch darauf warten, dass der Herausgeber oder die Redaktion ein Heft zusammenstellt, bereits auf den Server. Der Artikel hat zwar noch keine Heftzuweisung und keine Seitennumerierung, er liegt auch noch nicht im PDF-Format der späteren Druckfassung vor, sondern als HTML-Datei, aber mit dem DOI ist er eindeutig identifizierbar, auffindbar und zitierbar.
Für jeden Artikel haben wir damit quasi einen Handle an dem Objekt. Der DOI ist ein persistent Identifier, so etwas wie eine ISBN für elektronische Dokumente. Er wird bei der International DOI-Foundation in Washington registriert. Dort entsteht ein riesiges Register, das die Wissenschaftsverlage gemeinsam aufbauen und mit Metadaten verknüpfen. Wenn sie künftig in der Quellenangabe oder Fußnote einer elektronischen Veröffentlichung den DOI anklicken, werden sie automatisch zu der Fundstelle weitergeleitet, wo der Artikel aufgelegt ist.
Bedeutet das den Einstieg der Verlage in die Archivierung der wissenschaftlichen Veröffentlichungen?
Arnoud deKemp: Ja. Wir stehen in interessanten Diskussionen, zum Beispiel mit der Deutschen Bibliothek in Frankfurt. Es ist hocherwünscht, dass die Deutsche Bibliothek die nationale Archivfunktion auch für elektronische Publikationsformen übernimmt. Aber es ist vielleicht nicht notwendig, dass sie dafür sofort alle elektronischen Dokumente einsammelt. Man kann sich vorstellen, dass die Inhalte bei uns liegen, aber dass zwischen dem Katalog der Deutschen Bibliothek und unserem Angebot eine DOI-Funktion besteht. Und wenn wir irgendwann ältere Jahrgänge nicht mehr auflegen wollen, weil die nicht mehr gefragt werden, dann können wir sie in Frankfurt bei der Deutschen Bibliothek deponieren. Das einzige, was dann geändert werden muß, ist die URL, die hinter dem DOI steht.
Wie lange halten Sie denn die elektronische Information auf Ihrem Server für den Archivzugriff bereit?
Arnoud deKemp: Im Moment haben wir alles im Archiv, was uns elektronisch vorliegt. Das sind bei manchen Zeitschriften fünf Jahrgänge, bei anderen vier oder drei; für neue Zeitschriften ist das Material vielleicht erst wenige Monate alt.
Gibt es schon Überlegungen, wie groß der Zeitraum künftig sein wird?
Arnoud deKemp: Nein, die gibt es nicht, weil das alles noch Neuland ist. In einigen Fachgebieten, zum Beispiel in der Mathematik, sind ältere Jahrgänge sehr gefragt, in anderen Bereichen dagegen kaum. Es ist durchaus vorstellbar, dass wir auch einen Archivspeicher aufbauen, solange solche übergeordneten Lösungen wie mit der Deutschen Bibliothek noch nicht realisiert sind. Die Kosten für zusätzliche Platten sind im Moment nicht mehr das Problem.
Eher wohl der Aufwand für die ständigen Hard- und Software-Updates.
Arnoud deKemp: Wir haben von Anfang an auf bekannte Standards wie PDF gesetzt; das ist ein de-facto-Industriestandard und wird überall in der Welt als sichtbare Druckausgabe akzeptiert. Darüber hinaus haben wir uns bei Springer stark auf SGML konzentriert und dafür seit vielen Jahren Dokumenttypen entwickelt, durch die wir eine sehr hohe Strukturierung in unseren Dokumenten erreichen. SGML ist Plattform-übergreifend und Technologie-unabhängig.
Der AT&T-Mathematiker Andrew Odlyzko, ein ausgewiesener Analytiker der Veränderungen im wissenschaftlichen Publikationswesen, ...
Arnoud deKemp: Und ein guter Freund von mir.
...vertritt neuerdings die These, dass die Verlage künftig die Funktionen der Bibliotheken übernehmen werden, weil deren Fixkostensockel so hoch ist, dass Verleger dieselbe Leistung - Archivierung und Zugriff - elektronisch billiger anbieten können. Dann könnten die Bibliotheksetats sinken, und die Verlage dennoch die Umsätze steigern. Können Sie sich dieser Vision anschließen?
Arnoud deKemp: Das ist keine Vision, sondern eine ganz klare Schlussfolgerung aus der Kostenentwicklung namhafter Universitätsbibliotheken in Amerika. Hochinteressant! Er hat die Erwerbungsetats der Bibliotheken in den letzten Jahren mit der Entwicklung der Gebäude-, Personal- und Verwaltungskosten verglichen und dabei festgestellt, dass der Verwaltungsaufwand rapide angestiegen ist, die Erwerbungsetats dagegen kaum. Das beschreibt er zurecht als eine gefährliche Schere. Sie dokumentiert, dass die Bibliotheken sehr bürokratisch arbeiten, und durch ihre Verwaltung eigentlich eine Behinderung für die Grundversorgung mit Literatur und Information darstellen.
Er hat dies sogar als 'Starrsinn' charakterisiert, worin ich mich ihm nicht anschließe - es gibt auch sehr gute Bibliotheken. Doch wenn die Bibliotheken etwas Gutes tun wollen, würden sie einfach alles einstellen und die Verlage mit ihren elektronischen Angeboten hereinholen. Dann würde alles sehr viel schneller gehen. Teilweise passiert das natürlich schon. Die Tatsache, dass wir mit fast 50 Bibliothekskonsortien Verträge für den uneingeschränkten Zugang zu LINK abgeschlossen haben, zeigt ja, dass viele Bibliotheken längst entdeckt haben, worin ihre neue Rolle im Umgang mit elektronischen Informationsquellen besteht: Sie lizenzieren, sie prüfen die Qualität, sie machen das Angebot bekannt, sie schulen nicht nur ihre eigenen Mitarbeiter, sondern auch die Nutzer, sie legen Links zwischen OPAC und anderen elektronischen Katalogen und Volltext-Inhalten. Aber solange die Bibliotheken auch noch die gedruckten Exemplare beibehalten möchten oder müssen, wird sich nichts ändern.
Das ist ihre Überlebensgarantie?
Arnoud deKemp: Nun ja, es gibt schätzungsweise 250 000 Periodika in der Welt, und die werden längst nicht alle elektronisch sein. Das wäre eine Illusion.
Mit welchen Umsatzsteigerungen rechnen Sie im kommenden Geschäftsjahr?
Arnoud deKemp: Mit etwa zehn Prozent.
Arnoud deKemp ist Bereichsleiter für Marketing, Sales und Corporate Development im wissenschaftlichen Springer-Verlag, der in diesem Jahr von der Bertelsmann Fachinformation übernommen wurde.