Eine neue Sicherheitsarchitektur: "Vor die Lage kommen"

Datenkrake Polizei? - Teil 3

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"Wir müssen vor die Lage kommen", erklärte 2006 Jörg Ziercke, der damalige Chef des Bundeskriminalamts. Der einprägsame Satz stammt allerdings nicht vom ihm, sondern ist ein alter Merkspruch aus der Polizeitaktik. "Vor die Lage kommen" bedeutet nicht mehr, als in einer bestimmten Einsatzlage vorauszusehen, welche Anforderungen die Kräfte bewältigen müssen.

Jörg Ziercke gab dem Merkspruch eine neue Bedeutung, was allerdings außer einer Handvoll Polizisten kaum jemandem auffiel: Statt auf eine konkrete Einsatzlage, die taktisch möglichst gut zu bewältigen ist, bezog er ihn auf eine angeblich permanente Bedrohungslage, verursacht durch Terroristen, aber auch andere Kriminelle. Mit dieser Begründung fordert Jörg Ziercke die Online-Durchsuchung und die Vorratsdatenspeicherung und baute seine Behörde erfolgreich zu einer machtvollen deutschlandweiten Polizei aus.

"Vor die Lage kommen." Polizeiarbeit dreht sich immer stärker um die Begriffe Risiko und Vorbeugung. Diese Entwicklung hat sicher damit zu tun, dass sich mit entsprechender Software Risikoprognosen erzeugen lassen. Aber die "präventive Wende" in der Polizeiarbeit wird weniger vom technischen Fortschritt als vielmehr dem erfolgreichen politischen Agieren der Sicherheitsbehörden angetrieben. Statt bereits begangene Verbrechen aufzuklären, soll die Polizei zukünftige verhindern - und zu diesem Zweck braucht sie angeblich mehr Eingriffsrechte.

Diese Argumentation ist keineswegs neu. Die "präventive Wende" in der Strafverfolgung setzte schon in den 1970er Jahren ein. Seit den 1980er Jahren wandern polizeiliche Befugnisse aus der Strafprozessordnung in die Polizeigesetze. Die Strafprozessordnung dreht sich um die Straftat, die Polizeigesetze um die Gefahr. Entsprechend darf die Polizei immer mehr Maßnahmen ergreifen, um Gefahren abzuwehren, sie soll tätig werden, bevor ein Verbrechen begangen wurde.

Die Ausrichtung von Polizei (und auch Justiz) auf Prävention setzte also lange vor 9/11 ein, aber sie beschleunigte sich im "Krieg gegen den Terror". Die neuen Polizeigesetze in Deutschland sind der bisherige Höhepunkt dieser langjährigen Entwicklung. "Die effizienteste Abwehr von Gefahren ist doch, diese gar nicht entstehen zu lassen", erklärte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann diese Teile des Polizeiaufgabengesetzes.

"Drohende Gefahr"

Der krasseste Ausdruck der präventiven Orientierung ist der Begriff der "drohenden Gefahr". Er findet sich, mit leichten Unterschieden, in den bayrischen, nordrhein-westfälischen und sächsischen Gesetzesentwürfen. "Drohende Gefahr" bedeutet, salopp gesagt: "Hinweise auf konkrete Tatvorbereitungen haben wir nicht, aber dafür Hinweise, dass dieser bestimmten Person eine Straftat zuzutrauen ist."

Diese echte Innovation im bundesdeutschen Polizeirecht stammt ursprünglich aus der Novellierung des Bundeskriminalamtsgesetzes von 2008, verabschiedet von der damaligen Großen Koalition. Das Bundesverfassungsgericht kassierte 2016 das BKA-Gesetz zwar, öffnete aber mit seiner Begründung vorsichtig eine Tür für den neuen Gefahrenbegriff. Wenn ein "überragend wichtiges Rechtsgut" bedroht sei - nicht nur bei einer terroristischen Bedrohung -, dürfe die Polizei zum Zweck der "Straftatverhütung" überwachen.

So wanderte die drohende Gefahr in das neue BKA-Gesetz von 2017 und von dort aus in die Polizeigesetze einiger Bundesländer. Auf der Innenministerkonferenz des letzten Jahres verabredeten die Bundesländer, ihre Polizeigesetze einander anzugleichen und auf den Stand des BKA-Gesetzes zu bringen.

Die Figur des Gefährders

Das zentrale Sicherheitsproblem, dem mit den Novellierungen der Polizeigesetze begegnet werden sollen, ist der sogenannte Gefährder. Gegen ihn können künftig Aufenthaltsgebote oder -verbote ausgesprochen werden. Er darf mit einer elektronischen Fußfessel überwacht oder lange in Präventivgewahrsam genommen werden. Auch sein Vermögen kann ihm die Polizei vorübergehend entziehen, und natürlich darf seine Kommunikation überwacht werden.

Die Figur des Gefährders kommt aus den Sicherheitsbehörden. Rechtlich ist sie kaum bestimmt. Der Gefährder hat noch keine Straftat begangen, aber sich verdächtig gemacht. Wolfgang Schäuble gehörte zu den ersten, die den Ausdruck für islamistische Terroristen (und solche, die es werden wollen) verwendeten. Mittlerweile wird der Begriff nicht mehr ausschließlich für politisch motivierte Verdächtige benutzt, sondern auch für Sexualstraftäter oder Fußball-Hooligans. Konkret bedeutet die Einschätzung, Gefährder zu sein, zunächst, in einem entsprechenden Register der Polizei geführt zu werden. Wie man den Verdacht wieder los wird, ist unklar.

Mit Salafisten und Dschihadisten muss niemand Mitleid haben, aber diese Tendenzen sind Alarmsignale. Wenn sich Polizei und Justiz weniger mit Straftaten und konkreten Verdachtsmomenten beschäftigen als mit angeblich gefährlichen Personen und ihren Eigenschaften, müssen Anhänger einer liberalen Rechtsordnung nervös werden.

Die Polizeigesetze der Länder und das BKA-Gesetz sind eine Zäsur. Sie verschaffen der deutschen Polizei nicht nur neue Befugnisse für die Überwachung, von denen das Verfassungsgericht möglicherweise einige wieder kassieren wird. "Polizeiliche Einschätzungen und Anhaltspunkte wie Lebenslauf, Religion oder Kontaktpersonen werden maßgeblich für die Entscheidung, ob die Polizei in Grundrechte eingreift", erklärt der Kriminologe Tobias Singelnstein und kommentiert: "Das größte Problem eines solchen Präventionsstrebens ist seine potenzielle Grenzenlosigkeit. Ursachen für Gefahren gibt es unendlich viele; und man kann ihnen immer noch früher und immer noch umfassender begegnen."

Das institutionelle Gefüge der deutschen Sicherheitsbehörden verschiebt sich

Wie kann die Polizei abstrakte oder drohende Gefahren kämpfen, die später möglicherweise konkret werden, möglicherweise aber auch nicht? Das geht nur, wenn sie möglichst viel über die Verdächtigen herausfindet, und das wiederum geht nur mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Die Arbeit der Kriminalpolizei, besonders des Staatsschutzes, sieht der Praxis eines Inlandsgeheimdienstes immer ähnlicher. Die Datenhaltung soll außerdem vereinheitlicht und der Datenaustausch erleichtert werden.

Das organisatorische Gefüge der bundesdeutschen Sicherheitsbehörden - die "Sicherheitsarchitektur - verschiebt sich. Ein Merkmal dieses Gefüges war das sogenannte Trennungsgebot. Nach ihrem Sieg über die Nazis wollten die Alliierten dafür sorgen, dass in Deutschland nie wieder ein Polizeistaat entsteht. Deshalb verfügten sie 1949, die Bundesrepublik dürfe zwar eine Behörde gegen umstürzlerische Bestrebungen einrichten, aber diese Stelle - der Verfassungsschutz - solle lediglich Informationen sammeln. Polizeiliche Eingriffsrechte wie Verhaftungen oder Hausdurchsuchungen wurden dem Inlandsgeheimdienst nicht zugebilligt. Außerdem legten die Siegermächte fest, dass Behörden des Bundes den Polizeistellen der Länder keine Weisungen geben dürfen.

Das Trennungsgebot ist eine Lehre aus der Geschichte: Um Staatsterror und Willkür zu verhindern, wurden Nachrichtendienst und Polizei getrennt. Das sollte verhindern, dass dem Staat eine übermächtige "politische Polizei" zur Verfügung steht. Außerdem wurden Staatsschutz und Inlandsgeheimdienst bewusst dezentralisiert, um eine zu starke Machtkonzentration zu verhindern. Praktisch flossen natürlich immer Informationen zwischen den Bundesländern und dem Bund hin und her (meistens allerdings eher her).

Am Trennungsgebot - beziehungsweise der angeblichen "föderalen Zersplitterung" - wird seit langem gesägt. Vor den Koalitionsverhandlungen 2009 kursierte ein Papier aus dem Bundesinnenministerium, in dem gefordert wurde, dem Verfassungsschutz polizeiliche Eingriffsrechte zu geben. Innenminister Wolfgang Schäuble hatte zuvor innerhalb seines Ministeriums die Abteilung P (Polizei) und die Abteilung V (Verfassungsschutz) in der neuen Abteilung ÖS (Öffentliche Sicherheit) vereinigt und die Fachaufsicht über das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz zusammengefasst.

Das Bundeskriminalamt spielt eine immer wichtigere Rolle, wird in der Sicherheitsarchitektur immer zentraler. Ähnliche Bestrebungen gibt es beim Verfassungsschutz. Ende 2017 forderte Hans-Georg Maaßen, der Präsident des Bundesamtes, ein "länderübergreifendes Direktionsrecht … in besonderen Lagen". Außerdem schlug er vor, das Bundesamt könne das Internetmonitoring "zentral und phänomenbereichsübergreifend" übernehmen. Die Verfassungsschutzämter der Länder teilen sich bisher ihre Überwachungs- und Analysearbeit auf. Wie diese Arbeitsteilung aussieht, ist nicht bekannt.

Transparenz hier, Geheimhaltung dort

Wer kontrolliert die Kontrolleure? Die Antwort auf diese alte Frage lautet: in Deutschland jedenfalls niemand. Die Datenschutzbehörden sind schon personell nicht in der Lage, die Ermittlungspraxis der Polizei wirksam zu überwachen. Die parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste ist zahnlos, selbst manche Abgeordneten in den Untersuchungsausschüssen klagen darüber, dass sie sich von den Nachrichtendiensten an der Nase herumführen lassen müssen, weil sie Informationen nicht oder nur sorgfältig ausgewählt erhalten. Das Innen- und Eigenleben der Apparate lässt sich von außen nicht nachvollziehen, zum Teil nicht einmal von den Innenpolitikern, denen sie formal untergeordnet sind.

So verschiebt sich das Kräfteverhältnis zwischen Exekutive und Bürger. Während das Verhalten der Bevölkerung zum Zweck der Gefahrenabwehr immer besser durchleuchtet werden darf, bleiben die Sicherheitsbehörden intransparent wie eh und je. Eigentlich erstaunlich, wie wenig wir erfahren! Die jährliche "Sonderstatistik" des BKA über Staatsschutzdelikte wird als Verschlusssache behandelt. Ebenso geheim ist der Haushalt des Verfassungsschutzes; lediglich die Gesamtsumme wird veröffentlicht. Die Zuschüsse für das Bundesamt haben sich in den vergangenen fünf Jahren fast verdoppelt. Im Jahr 2013 betrug er 206 Millionen Euro, im Jahr 2017 lag er bei 391 Millionen Euro. Was um Himmels Willen macht das Amt mit den zusätzlichen Millionen?

Tendenzen, denen nicht allein mit "mehr Datenschutz" begegnet werden kann

Gegen das bayrische Polizeiaufgabengesetz demonstrierten einige Zehntausende Menschen. Auch in anderen Bundesländern wie Niedersachsen oder Sachsen gibt es Protest; die neuen Polizeigesetze sind trotz allem nicht wirklich populär. Aber die Kritik richtet sich typischerweise gegen einzelne Maßnahmen, die als übertrieben empfunden werden.

Dass die Polizeigesetze einfach so durchgehen würden, haben wahrscheinlich nicht einmal ihre Verfasser in den Innenministerien erwartet. Gegen die präventive Wende helfen keine "Nachbesserungen", sondern nur politische Forderungen, die die Sicherheitsbehörden einer öffentlichen Kontrolle unterwerfen. Die Debatte über die innere Sicherheit muss grundsätzlicher werden.