Eingesperrt aufgrund von Armut: Reformdebatte um Ersatzfreiheitsstrafen
Bisher müssen Menschen, die zum Beispiel wegen Fahrens ohne Ticket Geldstrafen nicht zahlen können, für ein Vielfaches der "Schadenssumme" in den Knast. Zu 15 Prozent gelten sie als suizidgefährdet. Das BMJ will die Strafen halbieren.
Im Zuge der Pandemiebekämpfung wurde der Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen immer mal wieder ausgesetzt, um die Fluktuation in den Gefängnissen zu senken.
Eine Debatte über den Sinn des Einsperrens von Menschen, die zu erheblichen Teil wegen Fahrens ohne Fahrschein verhängte Geldstrafen nicht zahlen können, schwelt schon länger. Nicht nur, weil pro Tag und Person in den Haftanstalten Kosten anfallen, die den regulären Preis von Monatstickets für den öffentlichen Nahverkehr übersteigen, sondern auch, weil damit im Grunde Armut bestraft wird – und weil rund 15 Prozent der Betroffenen als suizidgefährdet gelten. Das geht aus einer Stellungnahme des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen von 2019 hervor.
Auch Gefängnisdirektoren wollen nur ungern die Verantwortung für Menschen in psychosozialen Notlagen übernehmen, die wegen klassischer Armutsdelikte ohne echte "kriminelle Energie" einsitzen. Manche kritisieren die Rechtslage daher zum Teil offen:
Wir haben dort einen Teil Suizidversuche, teilweise auch leider vollendete Suizide. Weil das Menschen sind, die einfach hilflos sind, die nicht mehr weiterwissen, und die dann hier in einer Haftanstalt in einem Umfeld sich befinden, das nicht geeignet ist, mit diesen Menschen zu arbeiten.
Uwe Meyer-Odewald, Direktor der JVA Berlin-Plötzensee, im August 2022 gegenüber dem SWR
Gefahr bekannt, Gefahr gebannt?
In der JVA Brandenburg an der Havel nahm sich am 20. September ein 35-Jähriger das Leben, der dort nach Angaben des Justizministeriums in Potsdam seit dem 1. Juli "Ersatzfreiheitsstrafen mehrerer Staatsanwaltschaften anderer Bundesländer" verbüßt hatte. "Der Gefangene zeigte psychische Auffälligkeiten und wurde ärztlich behandelt. Hinweise auf eine Suizidgefahr wurden im Vorfeld seines Suizids jedoch nicht festgestellt", teilte das Ministerium am 21. September mit.
Ein 46-Jähriger, der sich im Februar während einer Ersatzfreiheitsstrafe in der JVA Attendorn das Leben genommen hatte, war dagegen laut einem Bericht der Westfalenpost zuvor "als psychisch instabil und suizidgefährdet" eingestuft worden. "Auf Grundlage dieser Einschätzung unterlag er besonderen Sicherungsmaßnahmen", hieß es in dem Bericht – diese Sicherungsmaßnahmen seien auch eingehalten worden. Dennoch konnte der leblos aufgefundene Mann nicht erfolgreich reanimiert werden.
Im Durchschnitt sitzen Gefangene, die Geldstrafen nicht bezahlen konnten, ersatzweise 40 bis 60 Tage in Haft – wenn sie keine Lohnersatzleistungen oder Renten beziehen, sondern sich zuvor mit prekären Jobs über Wasser gehalten haben und bisher nicht obdachlos waren, kann das ihre finanziellen Probleme verschärfen und im schlimmsten Fall zum Verlust der Wohnung führen. Wenn sie ohnehin depressiv sind und sich von allen Seiten bedrängt fühlen, kann die Haftsituation aber auch unabhängig von solchen Folgen als unerträglich empfunden werden.
Obdachlos sind beispielsweise in Berlin laut Statistik "nur" 40 Prozent der Betroffenen. 30 Prozent haben demnach keinen Schulabschluss und dementsprechend schlechte Chancen auf Jobs, von denen sie die Strafen abstottern könnten.
Reformbedarf sieht selbst Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), der im Juli vorgeschlagen hat, die Ersatzfreiheitsstrafen zu halbieren. "Der Umrechnungsmaßstab von Geldstrafe in Ersatzfreiheitstrafe in § 43 StGB wird so geändert, dass statt einem zukünftig zwei Tagessätze einem Tag Ersatzfreiheitsstrafe entsprechen", heißt es in dem Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums (BMJ). Außerdem soll es leichter werden, die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe durch das Ableisten gemeinnütziger Arbeit ganz abzuwenden.
Beides wäre allerdings keine Lösung für psychisch schwer angeschlagene Menschen, die nicht arbeitsfähig sind und bei denen im Ernstfall nicht einmal besondere Sicherungsmaßnahmen gegen die Suizidgefahr helfen.
"Freedom Day" für 40 Gefangene
Die spendenfinanzierte Initiative Freiheitsfonds hat es sich zur Aufgabe gemacht, Betroffene freizukaufen. Nach eigenen Angaben befreite sie an einem "Freedom Day" im Oktober 40 Personen in zehn Bundesländern durch Übernahme der restlichen Geldstrafen. Eine weitere Aufgabe sieht die Initiative in der Öffentlichkeitsarbeit für die Abschaffung des Straftatbestands der "Beförderungserschleichung" beziehungsweise des "Erschleichens von Leistungen".
In den Monaten Juni, Juli und August dürften zumindest weniger "Schwarzfahrer" hinzugekommen sein, denen demnächst eine Verurteilung und bei Zahlungsunfähigkeit die Ersatzfreiheitsstrafe droht – denn das Neun-Euro-Monatsticket für den öffentlichen Nah- und Regionalverkehr konnten sich bedeutend mehr Menschen leisten als die üblichen Tarife.
Eine vergleichbar günstige bundesweite Nachfolgeregelung lässt aber noch auf sich warten. In Hamburg ist stattdessen ein 49-Euro-Ticket im Gespräch; in Berlin wird bisher nur für das letzte Quartal dieses Jahres ein 29-Euro-Ticket angeboten.
Hilfe bei Suizidgedanken
In einer akuten Krise können Sie sich jederzeit kostenlos an die Telefonseelsorge unter der Nummer 0800-111 0 111 oder den Notruf 112 wenden. Krisendienste und Beratungsstellen in Ihrer Nähe finden Sie auf der Internetseite der Deutschen Depressionshilfe. Hilfe bei der Suche nach einem Therapieplatz bieten die Kassenärztliche Vereinigung Ihres Bundeslandes und die Patientenservice-Nummer 116 117.