Einiges über unnütz baumelnde Arme und das zwischenmenschliche Beziehungsfeld
Ein Kapitel über die Fortsetzung des Abenteuers der Menschwerdung.
Man versuche einmal, sich in unsere entfernten Vorfahren einzuleben, als diese sich aufzurichten begannen. Damals vor vielen Hunderten von Tausenden Jahren, irgendwo in Ostafrika, änderte sich das Klima, und der Wald wurde schütterer. Man mußte immer häufiger von den Bäumen hinunterklettern und die Hände konnten sich immer seltener an die Äste klammern. Beim Überqueren der Zwischenräume zwischen Baum und Baum baumelten die Arme funktionslos im Leeren. Man konnte sich selbstredend beim Überqueren auf die Hände stützen ( wie es die Menschenaffen immer noch tun), aber dies erwies sich mit der Zeit als nicht sehr erfolgreich.
Es schien aussichtsreicher zu sein, die Hände für bisher unvorstellbare Funktionen einzusetzen. Das allerdings erforderte eine Umstellung des ganzen Körpers. Zum Beispiel mußte der vom Skelett geschützte Bauch den Gefahren der Umwelt ausgesetzt werden, und das Zentralnervensystem mußte um- und ausgebaut werden. Ein außerordentliche unbequemes und riskantes Unternehmen. Dies als Parallele zur Notlage, in der wir selbst uns befinden. Denn hier wird unterbreitet, daß auch wir daran sind, uns aufzurichten. Daß auch wir mühsam beginnen, unsere Einstellung zu ändern (jetzt zwar nicht körperlich, sondern kulturell). Die vorgeschlagene Parallele ist eine Metapher: eine Übertragung aus dem Organischen ins Kulturelle. Metaphern sind gefährliche Denkstrategien, denn was in einem Kontext gilt, muß nicht in anderen ebenso gelten. Trotzdem sind Metaphern eine kreative und wahrscheinlich unerläßliche Denkart. Mit dieser Reserve ist der folgende Aufsatz zu lesen.
Bisher leben wir wie Untertanen (als "Subjekte"). Wir haben eine gebeugte Lebensstellung. Wir beugen uns vor einem über uns Stehenden (vor "Gott") und/oder über ein unter uns Liegendes (über die "Dingwelt"). Beide Verbeugungen sind die gleiche : Es geht um ein untertäniges Hinnehmen von Gesetzen. Zwar sind die göttlichen Gesetze in Worten verschlüsselt (alphabetisch) und die Naturgesetze in Algorithmen (numerisch), aber beide sind bindend. Wir Untertanen können versuchen, diese Bindung zu brechen: Wir können uns gegen die göttlichen Gesetze dank Sünde, gegen die Naturgesetze dank Technik empören. Das sind jedoch jämmerliche Spartakusrevolten. Die Rache (Gottes Gerechtigkeit und das ökologische Gleichgewicht) folgt auf dem Fuße. Es ist daher klüger, untertänig zu bleiben, sich als Subjekt hinzunehmen. Sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, wie es denn eigentlich möglich ist, die Gesetze zu brechen. Es ist klüger ("besser"), Gott und/oder die Natur zu lieben, statt sich zu empören.
Jetzt beginnen wir uns doch diesen Kopf zu zerbrechen. Der Verdacht wird nämlich immer dichter, daß wir selbst die uns bindenden Gesetze aufgestellt haben. Allen Frommen und/oder Grünen zum Trotz stellt sich die Frage: Wieso eigentlich sind die über uns verhängten Gesetze in menschlichen Codes verschlüsselt? Warum befolgt "Du sollst nicht töten" die Regeln der deutschen (oder hebräischen) Grammatik, und das Gesetz des freien Falls die Regeln der Arithmetik? Wen wir annehmen, daß die Gesetze übermenschlich sind (transzendent und/oder objektiv), müssen wir dann nicht auch annehmen, daß wir selbst sie umkodiert haben, um sie entziffern zu können? Das allein ist schon beunruhigend. Aber es genügt nicht. Denn jetzt ist zu fragen: Wie sind die Gesetze "ursprünglich" verschlüsselt, oder sind sie gar umkodiert, das heißt chaotisch? Das führt ins Bodenlose. Bevor wir dorthin stürzen, können wir folgende Hypothese versuchen: Wir selbst haben die Gesetze formuliert und aus uns selbst hinausprojiziert, um sie dann dank "Offenbarung und/oder "Entdeckung" wieder zurückzuholen.
So ein Verdacht ist außerordentlich ungemütlich. Denn voran können wir uns denn nachher klammern, wie einst die Hände an den Ästen? Doch nicht mehr an Gott und/oder an die Natur (ans Transzendente und/oder Objektive)? Baumeln wir dann nicht im Leeren? Rettungsversuche werden unternommen. Zwar sind die Gesetze menschliche Formeln, aber sie dienen als Brücken in Richtung des nie völlig Erreichbaren (der Transzendenz und/oder des Dings an sich), und sie sind desto besser, je angemessener sie für das Unerreichbare sind. (Zum Beispiel sind Algorithmen für die Dingwelt angemessener als Buchstaben, weil diese Welt unbeschreiblich ist, aber zählbar.) Solche Rettungsversuche haben kleine Erfolgsaussichten. Denn wie kann man anmessen, wenn man nicht weiß, woran man anmißt, und ob es überhaupt etwas gibt, woran man anmißt? Es sind Verzweiflungsakte, nicht mehr Akte eines untertänigen Glaubens.
Und man kann es anders herum versuchen. Wir selbst haben die uns angeblich bindenden Gesetze entworfen. Es gibt nichts, dem wir untertan sind und sein könnten. Wir sind herrliche Subjekte, und daran können wir uns klammern. So ein romantisch-idealistischer Solipsismus ist jedoch leider ebenfalls nicht haltbar. Ein "Subjekt-von-Nichts" ist nämlich ein eckiger Kreis, weil "Subjekt" ein relativer Begriff ist. Er gewinnt erst in Beziehung zu etwas anderem Bedeutung. Das zeigt nicht nur die logische, sondern auch die psychologische und die existentielle Analyse. Das "Ich" (das "Selbst", das "menschliche Subjekt") als Bewußtsein sitzt wie die Spitze eines Eisbergs auf einem Gewebe aus kollektiven mentalen Prozessen. Und man kann sich als "Ich" nur in bezug auf einen "Du"-Sagenden anderen identifizieren. Wir können uns an unserer Subjektivität nicht klammern, denn das ist eine kernlose aus überlagerten Schalen von Relationen bestehende Zwiebel. Mit dem Vertrauen zur Transzendenz und/oder zum Ding geht auch das Vertrauen zur Seele verloren.
Wir sind leider gezwungen, unsere Einstellung zu ändern. Wir können uns nicht mehr verbeugen, sei es vor der Transzendenz, vor den Dingen, sei es auch nur vor und über uns selber. Wir sind gezwungen uns aufzurichten. Aber was heißt denn das eigentlich: "aufrichtig leben"? Es heißt vor allem, sich nicht mehr an irgend etwas klammern wollen. Keinen Anhaltspunkt aus der konkreten Lebenswelt extrapolieren wollen. Aufrichtig einsehen, daß die Lebenswelt ein Kontext von einander kreuzenden und überdeckenden Beziehungsfeldern ist, und daß in ihr nur die Beziehungen konkret sind. Alles übrige wie Transzendenz, Objekt und Subjekt sind nichts als abstrakte ideologische Extrapolationen. Aufrichtig leben, heißt vor allem, die realistische und idealistische Einstellung zugunsten einer relationellen aufzugeben bereit sein. Und das allerdings ist außerordentlich mühsam.
Wenn man nämlich die Welt und sich selbst als eine Vernetzung von Beziehungen ansieht, wenn man "topologisch", "ökologisch", "systemanalytisch" zu sehen beginnt, dann müssen alle überbrachten Kategorien umgedacht werden. Es gibt dann keine "objektive" Erkenntnis mehr, und nicht "absolut" Gutes und Schönes. All dies gewinnt dann einen relationellen, konsensuellen Charakter. Wissenschaft, Politik und Kunst müssen umgedacht werden. Alle Werte erscheinen dann als Projektionen aus einem intersubjektiven zwischenmenschlichen Beziehungsfeld ( aus dem "Gespräch, das wir sind") auf andere Beziehungsfelder (auf "die Welt, die wir besprechen"). Alle Werte, vor allem auch die göttlichen und die Naturgesetze. Sie werden dann alle aus unveränderlichen "ewigen" Formen zu sich ständig verschiebenden Modellen. Wir erkennen uns dann als Knoten in einem netzförmigen Projekt, und die Welt erkennen wir als eine netzförmige Wand, gegen die wir Modelle entwerfen. Wobei noch dazu diese beiden Netze sich immer wieder miteinander vernetzen, schwingen, sich verschieben, in Nichts zerfransen, und sich an anderen Stellen verdichten. So etwa sieht es aus, wenn wir beginnen aufrichtig zu leben.
Als unsere entfernten Vorfahren gezwungenermaßen von den Bäumen in die Steppe hinunterkletterten, sahen sie vor sich die Leere. Offene Horizonte. Das gefährliche Abenteuer der Menschwerdung hatte begonnen. Und zwar so, daß die an den Armen frei baumelnden Hände absurderweise Steine sammelten, um sie zu Kreisen zu ordnen. Mit uns (dank uns, durch uns, trotz uns) tritt das gefährliche Abenteuer der Menschwerdung in eine neue Phase.