Einsicht und Eingriff

Cell Defense

Die Covid-19-Pandemie im (Vergrößerungs-)Spiegel der Computerspiele

Die vergangenen eineinhalb Jahre haben mehr Menschen als je zuvor zur täglichen Auseinandersetzung mit Medizin, Statistik und den Modi ihrer öffentlichen Berichterstattung gezwungen. Für die meisten wurde der tägliche Blick auf die Fallstatistiken und die ständig wieder kehrenden Phrasen der Nachrichten darüber schon fast zu einem Ritual, das durch Gewöhnung die eigentlich heikle Situation mental entschärft hat.

Neben solche Alltagspraktiken der Deeskalation steuert stets auch die Kulturproduktion Möglichkeiten zur Normalisierung katastrophaler Ereignisse bei. Gefühlte Handlungsunfähigkeit kann so zur symbolischen Aktivität werden und diffuse Bedrohung in comic relief münden - wie die Computerspiele zur Corona-Pandemie zeigen.

Während die Computerspiel-Industrie nach eigener Aussage unter der Pandemie sowohl gelitten hat (ausfallende Promotion-Touren und E-Sport-Events sowie sinkender Hardware-Absatz wegen Bauteil-Engpässen) als auch sich über Umsatzsteigerungen bei verkauften Spielen für Daheimgebliebene freuen durfte, hat die Pandemie den Retrospiel-Szenen zunächst vor allem Preissteigerungen für gebrauchten Hard- und Software beschert.

Wer aber aus Langeweile nicht tief in die Tasche und zu historischer Fertigsoftware greifen wollte, konnte versuchen sich im heimischen Lockdown-Arbeitszimmer an vergessen geglaubte Programmierkünste zu erinnern und selbst Spiele programmieren.

Dies ist auch geschehen und hat zugleich ein Ventil geöffnet, um die Pandemie-Situation spielerisch zu verarbeiten. Dort, wo nicht bereits veröffentlichte, thematisch naheliegende Spiele aus der neuen Covid-Perspektive betrachtet wurden, haben sich die Hobbycomputing-Enthusiasten kreativ mit dem Thema Corona, der Pandemie und ihren kulturellen Begleiterscheinungen beschäftigt - und sowohl für aktuelle Betriebssysteme und Webbrowser als auch für historische Computer Spiele entwickelt.

Die für letzere verwendeten 8-Bit-Homecomputer haben sich aufgrund ihrer spezifischen audiovisuellen Qualitäten immer schon als parodistische Vergrößerungs- und Vergröberungsmedien geeignet.

Retro-Viren

Medizin ist in historischen Computerspielen allerdings noch ein Ausnahme-Thema; dort, wo sie aber thematisiert wird, zeigt sich aber der erwähnte Vergrößerungsaspekt, der auch den Medieneinsatz in der Medizin selbst immer schon begleitet.

Das, was unsichtbar ist, was zu klein, zu schnell oder zu kurzlebig ist, um mit den menschlichen Sinnen erfasst werden zu können, wird durch den Einsatz von Medientechnik sichtbar gemacht, vergrößert, verlangsamt oder festgehalten (gespeichert). Die moderne Medizin wäre ohne derartige Diagnoseinsttumente undenkbar. Computerspiele greifen dieses Dispositiv auf, verdoppeln es in ihren Ästhetiken und verklären es spielerisch.

Retro-Viren, Take-off der Operatoren und Infektionsgebiete (7 Bilder)

Bio Defense

So konnte man etwa beim Spiel "Bio Defense" (Atari 800, UK 1984, Tymak) mit einer Phage durch den menschlichen Körper wandern, um dort bösartige Viren zu vertilgen. Ein ähnliches Thema und Gameplay findet sich im C64-Spiel "Cell Defense" (C64, UK 1984, Human Engineered Software).

Hier muss man einzelne Zellen eines Patientenkörpers vor Virenbefall schützen. In beiden Spielen bekommt der Spieler neben dem Hauptfenster mit der Spielhandlung auch Darstellungen des Körpers, seiner Biowerte und anderer Parameter gezeigt, die den Eindruck medizinischen Handelns illustrierend unterstützen. Nicht grundlos wurde "Cell Defense" deshalb damals schon als "Science Simulation" beworben.

Mitte der 1980er-Jahre wurde vor allem die bekannter werdende AIDS-Pandemie in der Computerkultur reflektiert: Nicht nur die zeitgleiche Emergenz der Computerviren-Schadsoftware, die zu einigen markanten Vergleichen geführt hat, sondern auch Spiele wie "AIDS Fighters" (C64, The Axiom, 1987) zeigen, wie medizinische, kulturelle und technische Sphären einander überlagern und sich durch den Gebrauch gemeinsamer Metaphern gegenseitig durchdringen.

Dass "AIDS Fighters" unpubliziert blieb, könnte bereits ein Hinweis darauf sein, dass darin das Thema etwas "überambitioniert" gamifiziert wurde (man muss im Spiel mit einem fliegenden Penis dem Wort "AIDS" ausweichen …).

Take-off der Operatoren

Die Corona-Pandemie hat den Themenkomplex Medizin nun abermals und umso stärker in den Fokus der Computerspiel-Produktion gerückt. Die Elaborate hiervon reichen von professionellen Releases für Webbrowser, Windows- und Mac-Betriebssysteme über Aufklärungsspiele bis hin zu Homebrew-Retrogames. Die meisten Spiele zum Thema stammen aber aus der hobbyistischen Beschäftigung mit Computern und geben damit auch intime Einsichten in das Denken und Fühlen ihrer Entwickler - das hier in ästhetische Codes und symbolische Kodierung einfließt.

So trivial die Tatsache ist, dass zur Programmierung/Kodierung eines biologischen Prozesses als Spiel das reale Geschehen in das symbolische Regime alphanumerischer Programmiersprachen übersetzt werden muss, so bezeichnend ist dies vor dem Hintergrund einer Virus-Pandemie: Schon "AIDS Fighters" hatte die Gefahr regelrecht beim Namen herbeizitiert und den Schriftzug "AIDS" als Angreifer auf den Bildschirm geschrieben.

Ähnlich verfährt auch das für die Spielkonsole Atari VCS entwickelte "Covid19" (VCS, Pete Steriotis, 2020). In diesem Space-Invaders-Klon rücken die Worte "CORONA" und "VIRUS" im bekannten Rhythmus vom oberen Bildschirmrand schrittweise nach unten vor, wo der Spieler eine Spritze steuert, welche Projektile (Vakzine) auf die symbolische Gefahr abschießt.

Im Rahmen des jährlichen BASIC Tenliner-Contests ist im Frühjahr 2020 für die Atari-8-Bitter das Spiel "Coronavirus" (Atari 8-Bit, Victor Parada, Chile 2020) eingereicht worden. In diesem "Frogger"-Klon muss der Spieler "Os" vom unteren Bildrand zum oberen bewegen, während Asterisk-Zeichen von rechts nach links über den Bildschirm wandern. Diese darf man auf dem Weg nach oben nicht berühren, sonst endet das Spiel.

Das Sternchen-Symbol, das sonst u. a. als Joker, Genderstern, Emotionsmarker oder Fußnotenzeichen fungiert, versinnbildlicht hier schon wegen seiner "stacheligen" Gestalt das Corona-Virus, was seiner Vieldeutigkeit nun eine weitere Konnotation hinzufügt.

Infektionsgebiete

Die Bewegung von einem sicheren Ort zu einem anderen sicheren Ort durch eine Gefahrenzone hindurch ist vielleicht das eindringlichste Bild dieser wie auch anderer Pandemien. Unsicher sind die Orte, weil sie Infektionsgefahren bergen, weil man Unvorsichtigen, Ungläubigen, Virusträgern oder kontaminierten Objekten begegnen kann.

Diese Zonen-Problematik ist ideal in Computerspielszenarien übersetzbar, wie schon die vorangegangenen Beispiele gezeigt haben. Das Spiel "Covid Breaker" (C64, Naufr4g0, 2020), ebenfalls für den bereits genannten BASIC-Tenliner-Contest entwickelt, transponiert dieses Thema auf das Maze-Genre: "Covid Breaker" verwendet das bekannte "Jawbreaker"-Setup (ursprünglich ein "Pac-Man-Klon") und ersetzt die Verfolger durch grinsende Corona-Viren, denen man beim Einsammeln der Punkte (Pillen?) ausweichen muss.

In "Covid Attack 64" (C64, Kimono, 2020) muss der Spieler Medikamente durch ein Infektionsgebiet transportieren. Das Spiel entstand letztes Jahr auf dem ersten Höhepunkt der italienischen Covid-Pandemie. Die in den Levels untergebrachten Italien-Fahnen lassen keinen Zweifel am situativen Background dieses Platformers.

Spiel-Physik und Gameplay erinnern an die Spiele "Bruce Lee" oder "Goonies", was das Gaming gleichermaßen witzig und schwierig gestaltet. Gegner in diesem Spiel sind - neben herumfliegenden Corona-Viren - clownsartige Figuren, die man nicht berühren darf, weil es sich wahrscheinlich um Infizierte handelt. Ob diese für allzu unbesorgte "Covidioten" stehen, bleibt unklar.

Die seit jeher umtriebige C64-Scene hat das Corona-Thema auch in Computer-Demos verarbeitet: als Bild ("Corona 2020", Seanser, 2020) oder in mit SID-Musik unterlegten Animationen, die die Pandemie-Situation kommentieren, Gesundheitstipps ( "Covid-19 Survival GuidecOvId-19 [ex]::https://csdb.dk/release/?id=188807", Excess, 2020) enthalten. Gerade weil große und kleine Demo-Parties (wie die "X" oder die "Revision") in diesem und dem letzten Jahr nicht stattfinden konnten, haben die Scener ihren Frust in derartige Grafiken gepixelt.

Comic Relief

Der deutsche CPC-Emulator-Entwickler DevilMarkus hat sich mit einem eigenen Beitrag "Corona Zombies" (Amstrad CPC, DevilMarkus, D 2021) für Amstrads 8-Bit-Computer in das Covid-Thema eingeschrieben. Sein mit aufwändigen Paratexten versehenes Spiel beauftragt den Spieler eine herannahende Horde Infizierter mit Hilfe von Vakzin-Projektilen am oberen Bildschirmrand zu halten - ein schier aussichtsloses Unterfangen.

Auch dieses Spiel ist in BASIC programmiert, setzt für die Sprach-Samples und Begleitmusik aber Maschinensprache-Routinen ein. Fast aufwändiger als das Spiel selbst ist der Prolog gestaltet, bestehend aus dem Plakatmotiv zum gleichnamigen Zombiefilm und mehreren Texttafeln, die in die Background-Story einführen:

In the year 2020 a virus called Covid19 was released in Wuhan and quickly ran over the whole world. The world noticed that this virus was a pandemic with unknown results for mankind. It became unstoppable. The population got sich and medial help became almost impossible. Million people died. There was no hope … Then the real disaster took its course … Millions of zombies grouped to hords. Can you fight them? - We have the year 2021. The civilisation has been infected by Covid-19. You are the only survivor with vaccine. Can you heal the world? Use A, D to move, press Space to fire vaccine and hold back the infected zombies.

Das Crossover aus medizinischer Katastrophe und Zombie-Apokalypse ist ein sattsam bekanntes Motiv des Endzeitkinos ("Rabid", "Crazies", "28 Days later" usw.) und wurde dort schon als Sinnbild für die Ohnmacht der Gesunden im Angesicht von Legionen Infizierter interpretiert. Zombies, als die anthropomorphisierte Krankheit an sich, scheinen auch hier die ideale Verkörperung der eskalierenden Erkrankungszahlen seit dem Frühjahr 2020 zu sein.

Comic Relief und Computerviren (9 Bilder)

Corona Zombies

Und hält man sich dann noch die Horden blindwütig Klopapier, Nudeln und Handdesinfektionsmittel kaufender Supermarktkunden vor Augen, ist das Romero-Szenario tatsächlich gedanklich nicht mehr weit entfernt.

Für Sinclairs ZX Spektrum ist Ende März vergagenen Jahres mit "Corona Capers" (UK 2020, Jim Waterman) das wohl komplexeste Spiel zum Thema entstanden. Es handelt sich dabei um einen Verbund aus vier Minispielen, in denen der Spieler den Ausbruch der Pandemie in ihrem Ursprungsland China verhindern soll.

Niemand geringeres als Donald Trump hat ihn damit beauftragt. Und so muss er (1. Spiel) mit Hilfe einer China-Karte zunächst den ersten Einsatzort lokalisieren und anfliegen, wo er dann (2. Spiel) in einer Suppenküche infizierte Fledermäuse durch Abschuss mit der Armbrust daran hindern soll, in die Suppe zu fallen. An einem anderen Ort (3. Spiel) hilft er dann Forschern dabei die RNA des Virus zu isolieren und zu identifizieren, bevor er (4. Spiel) nach Wuhan fliegt, um dort gegen den Endboss Corona-Chan anzutreten. Gelingt ihm der Einsatz nicht, wird er von "God-Emporer" Trump zusammengebrüllt.

"Corona Capers" ist ein mit reichlich Zynismus und politischem Humor angereichtes aber auch ziemlich abwechslungsreich und vergleichsweise aufwändig inszeniertes Spiel. Sowohl der Spielplot als auch die dargestellten Situationen und Personen weisen auf eine markant-kritische Haltung gegenüber den Tatsachen beim damaligen Ausbruch der Pandemie und ihrer Verarbeitung durch die Medien hin.

Allein schon die stereotyp dargestellten Situationen im Spiel-China präsentieren ein Zerrbild, das vor etwas mehr als einem Jahr beinahe täglich in den Tweets des "God-Emporer" Trump zu lesen war. Lässt sich aus den zuvor vorgestellten Spielen ein eher indirektes Bild der "Mentalitätsgeschichte der Pandemie" ableiten, so liefert "Corona Capers" eine ziemlich unverstellte Sicht auf die Ereignisse.

Computerviren

Aber nicht nur für historische Computer, sondern auch für jüngere Systeme sind Spiele zum Thema entstanden. Im Oldenburger Computermuseum wurde kürzlich das Spiel "Stay Safe" vorgestellt, das zwar ursprünglich in einem ortsansässigen Freizeitzentrum für Nintendos Konsole NES programmiert wurde, aber auch als Online-, Android- und PC-Spiel zu bekommen ist.

Bei "Stay Safe" handelt es sich um ein Maze-Game, bei dem der Spieler mit seiner Figur Alltagsmasken einsammeln muss, während er Infizierten und riesigen umherfliegenden Corona-Viren ausweichen muss. Die Aufgabe wird von Level zu Level kniffliger, weil es immer mehr Masken einzusammeln und immer mehr Gefahren auszuweichen gilt. Den Entwicklern zufolge hat das Spiel einen didaktischen Impetus: die AHA-Regeln sollen damit spielerisch eingeübt werden.

Es könnte übrigens sein, dass die Windows-Version von "Stay Safe" mit dem Hinweis startet, dass es sich bei dem Spiel selbst um ein Virus (nun allerdings ein Computervirus) handeln könnte: "Sollte ein Virenprogramm anschlagen, kann die Warnung verworfen werden. Die Inhalte sind sicher und deren Verwendung deshalb unbedenklich", schreiben die Entwickler dazu im ihrem How-To. Eine beinahe schon ironische Verdopplung des Infektionsmotivs auf die oben genannten Verschränkung von HI- und Computerviren in den 1980er-Jahren.

Mancher glaubte damals, sich (bzw. seinen Computer) schon schon durch die bloße Berührung einer infizierten Disketten mit einem Computervirus anstecken zu können. Und Viren wurden zumeist über Spieldisketten verteilt. Nicht nur Spiele, wie die hier genannten sind damit immer zugleich Wagnis und Spaßversprechen und Arbeit an kulturellen und individuellen Angstmotiven.

Das Browser Game "Corona World" (Online, Bohemian Browser Ballett, D 2020), das es ebenfalls als Programm zum Download für Mac und Windows gibt, holt das politische Motiv noch einmal aus dem globalen Zusammenhang zurück auf die Alltagswelt der Spieler in Zeiten des Lockdown: Man übernimmt die Rolle einer Krankenschwester, die nach ihrer 18-Stunden-Schicht feststellt, dass ihr heimischer Kühlschrank leer ist und sie deshalb einkaufen gehen muss.

Ihr Weg zum Supermarkt führt sie durch die Straßen einer Stadt im Lockdown: Während sie über die überall herumstehenden E-Scooter stolpert, umherlaufenden infizierten Passanten und feiernden Teenager-Gruppen ausweichen muss, sammelt sie Seife, Alltagsmasken und Toilettenpapierrollen ein.

Aus den Fenstern der Häuser applaudieren ihr dabei die Menschen und an den Häuserwänden finden sich Graffiti - abwechselnd Kleinanzeigen für Klopapier, Verschwörungstheorien zu G5-Handymasten oder "Danke Merkel"-tags. Treffender lässt sich der Alltag im Frühjahr 2020 eigentlich kaum zusammenfassen.

Der Platformer "Corona World" (über?)zeichnet die damalige Situation comicartig, was sich schon am Grafik-Stil des Spiels zeigt. Entwickelt wurde es von der Comedy-Truppe "Bohemian Browser Ballett" rund um den Satiriker Schlecky Silberstein. Koproduziert hat das Spiel das Online-Content-Netzwerk FUNK von ARD und ZDF. Dieser Entstehungshintergrund "domestiziert" damit natürlich auch die Komik als augenzwinkernde Aufklärungsarbeit für jugendliche und junggebliebene Online-Spieler.

Dass die Spielfigur eine Krankenschwester ist, fällt im Gameplay nicht ins Gewicht. Sie bewegt sich wir wir alle damals durch Standardsituationen der Covid-19-Pandemie. Diese dürften selbst in ihrer kürzelhaften Darstellung wohl niemandem unbekannt sein. Zusammen mit den auch hier überall herumfliegenden, bis zur Kenntlichkeit vergrößerten Corona-Viren steckt das Spiel die Grenzen dieser neuen Normalität ab: Corona ist gekommen, um zu bleiben. Es ist überall und die Gesunden müssen ihren Alltag um diese Erkenntnis herum neu strukturieren - Game-based social learning.