Einstein und die Philosophin
Dank Ilse Rosenthal-Schneider kennt man Ansichten Einsteins, die der Physik zu denken geben müssten - Hinterfragt
Naturkonstanten sind Zahlen, die den Physikern, die sie aus Beobachtungen ermitteln, oft große Rätsel aufgeben. Durch einen glücklichen Zufall sind einige Bemerkungen Albert Einsteins über dieses Grenzgebiet zwischen fundamentaler Physik und Philosophie dokumentiert.
Ilse Rosenthal-Schneider war eine der wenigen Frauen an der Berliner Universität, als sie um 1920 einen Doktorgrad in Philosophie erwarb. Sie war mit Einstein persönlich bekannt, angeblich war er gerade mit ihr ins Gespräch vertieft, als ihn die Nachricht von der Bestätigung der allgemeinen Relativitätstheorie 1919 erreichte, die seinen Weltruhm begründen sollte.1 Von den Unterhaltungen in den 1920er Jahren ist allerdings wenig überliefert.
Wie Einstein floh Rosenthal-Schneider vor den Nationalsozialisten; sie ließ sich nach dem zweiten Weltkrieg in Australien nieder, von wo aus sie die Korrespondenz mit Einstein wieder aufnahm.2 Einstein antwortete offenbar nicht nur aus Höflichkeit auf die klugen philosophisch-physikalischen Überlegungen, und ihr besonderes Interesse galt dabei Naturkonstanten. Die Briefe sind eine einzigartige Quelle zu einem Thema, zu dem sich Einstein sonst nie geäußert hatte.
Rätselhafte Mitteilungen der Natur
Für Nicht-Physiker sei hier angemerkt, dass als Naturkonstanten die verschiedenen Begriffe bezeichnet werden, die bei weitem nicht alle gleich "wichtig" sind. So gibt zum Beispiel die Erdbeschleunigung g mit dem Wert von etwa 9,81 m/s2 nur die Anziehungskraft eines von Abermilliarden von Planeten im Universum an und hat insofern keine besondere Bedeutung.
Anders sieht es dagegen mit der allgemeinen Konstante G im Newtonschen Gravitationsgesetz aus, von deren Wert 0,0000000006673 m³/s2 kg man annimmt, dass er im ganzen Universum gilt. Weil die dabei auftretenden Einheiten Meter, Sekunde und Kilogramm jedoch vom Menschen willkürlich festgelegt sind, hat der Zahlenwert selbst wiederum keine besondere Bedeutung.
Wieder anders liegt der Fall z.B. bei der sogenannten Feinstrukturkonstante in der Atomphysik, deren Kehrwert die Zahl 137,035999... ist. Diese Zahl setzt sich aus anderen Konstanten zusammen3, die man in Labor präzise bestimmen kann, enthält jedoch keine vom Menschen gemachten Einheiten. Die Vorstellung ist daher reizvoll, dass entfernte Zivilisationen diese Zahl ebenfalls messen, und Beobachtungen etwa an entfernten Galaxienkernen lassen wenig Zweifel, dass dort der Wert ebenfalls 137,035999... ist - eine scheinbar magische Zahl!
Einstein hatte eine klare Meinung
Über diese Art von reinen Zahlen war in der Korrespondenz von Rosenthal-Schneider die Rede und Einstein äußerte sich in einem Brief vom 11. Mai 1945 überraschend deutlich:
Ich kann mir keine einheitliche und vernünftige Theorie vorstellen, die explizite eine Zahl enthält, welche die Laune des Schöpfers ebenso gut anders hätte wählen können.
Einstein glaubte nicht daran, dass Natur willkürliche Zahlenwerte produzierte, und hoffte, diese würden eines Tages aus mathematischen Konstanten wie der Kreiszahl Pi 3,14... oder Eulerschen Zahl e 2,718.. berechenbar sein. Er sah es als Aufgabe der theoretischen Physik, physikalisch gemessene Zahlenwerte auch zu berechnen. Andernfalls habe man etwas nicht verstanden. In seinen Worten:
Eine Theorie, die in ihren Grundgleichungen explizite eine nicht rationelle [berechenbare] Konstante enthält, müsste irgendwie aus logisch voneinander unabhängigen Brocken zusammengefügt sein; ich vertraue aber darauf, daß diese Welt nicht so ist, daß man zu ihrer Erfassung einer so häßlichen Konstruktion bedarf.
Originell ist, dass diese Ansicht auch in der Nachkriegszeit noch Konsens war. Richard Feynman, Nobelpreisträger von 1965, ermahnte seine Kollegen einst: "Alle guten theoretischen Physiker hängen sich diese Zahl (137,035999..) an die Wand und zerbrechen sich den Kopf darüber!"
Originell ist aber auch, dass die zeitgenössische Physik sich von dem Anspruch Einsteins so weit entfernt hat. Durch die Beobachtungen der modernen Kosmologie ist in den letzten Jahrzehnten eine ganze Reihe von Zahlen aufgetaucht, die man nur aus Messungen bestimmt. Etwa ein halbes Dutzend Zahlen kann niemand erklären, in der Teilchenphysik sind es sogar noch wesentlich mehr. Nicht nur ist die Berechnung dieser Zahlen bisher nicht gelungen, die meisten Physiker sehen dies gar nicht mehr als das Ziel an. Nach Ansicht Einsteins würde dies bedeuten, dass die moderne Wissenschaft trotz experimenteller Fortschritte sehr viel Unverständnis aufhäuft.
Dr. Alexander Unzicker ist Physiker, Jurist und Sachbuchautor. Sein Buch "Vom Urknall zum Durchknall" wurde 2010 von "Bild der Wissenschaft" als Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet, zwei seiner Bücher sind auch auf Englisch erschienen. In seiner Kolumne "Hinterfragt" bei Telepolis greift er mit einem kritischen Blick Themen rund um die Physik auf.