Elektronische Leine zur Kompensation von Schulmisere und mangelnder Fürsorgepflicht der Eltern
Schulschwänzer sollen auf den Pfad der Tugend zurückgeführt werden
"Well we got no choice/All the girls and boys/Makin all that noise/'Cause they found new toys"
Wir wissen nicht, von welchen Spielzeugen Alice Cooper da singt. Handys, PCs oder doch eher Butterfly-Messer und Brechstangen? "And we got no principles/And we got no innocence." Coopers "School's out" fasst zusammen, was inzwischen deutsche Ordnungshüter bewegt und diverse polizeiliche Pilotprojekte auf den Plan rief: Schulschwänzer. Es ist nicht die Rede von jenen, die eine qualvolle Doppelstunde "Bio" blau machen, um ins Kino zu gehen. Es geht nicht mehr um harmlose Pennäler-Streiche à la Feuerzangenbowle oder unsägliche Paukerfilme wie "Wir hau'n die Pauker in die Pfanne" mit Theo Lingen und Hansi Kraus.
Es geht um echte Streiche, vulgo: Verbrechen. Wer die Schule schwänzt, ist - rein statistisch betrachtet - besonders tatverdächtig! Das Deutsche Jugendinstitut in München soll laut Focus herausgefunden haben, dass 33 Prozent der befragten Schulschwänzer kriminell werden. Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, überbringt die schreckliche Botschaft: "
Jugendliche, die massiv schwänzen, sind mindestens vier Mal so kriminell wie ihre Altersgenossen, die regelmäßig die Schule besuchen.
Während die Suche nach Terroristen in Deutschland eher bescheidene Ergebnisse zeitigt, ist die Polizei im ganzen Lande erheblich erfolgreicher bei der Jagd auf Deutschlands neueste Risikogruppe.
Hessen etwa kämpft mit 4.000 notorischen Schulschwänzern. Kultusministerin Karin Wolff wird Anfang 2004 im Lahn-Dill-Kreis die Rückholaktion "Schulschwänzer" starten. Wenn es also demnächst zwei Mal klingelt, ist es nicht der Wecker, sondern der Wachtmeister. Hessen ist kein Vorreiter auf dem polizeibegleiteten Weg zur Schule. Es gibt zwar keinen Nürnberger Trichter, der ja prinzipiell den Schulbesuch überflüssig machen würde, dafür aber bereits seit 1998 in Bayern das Nürnberger Modell, um schulmüde Kids zur Räson zu bringen. Das Modell gilt als recht erfolgreich. Internetcafes und Spielhallen sind seitdem keine Fluchtburg des geplagten Schülers mehr, sondern beliebte Einsatzorte der Polizei, nach wilden Schafen zu suchen.
Wirksamer noch als die polizeilichen Rückholaktionen der diversen Bundesländer könnte aber langfristig der Druck auf die Eltern sein, ihre ungezogenen Kids Mores zu lehren. Immerhin gibt es eine strafrechtliche Handhabe gegen die Vernachlässigung der Fürsorge- und Erziehungspflicht - § 171 StGB:
Wer seine Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer Person unter sechzehn Jahren gröblich verletzt und dadurch den Schutzbefohlenen in die Gefahr bringt, in seiner körperlichen oder psychischen Entwicklung erheblich geschädigt zu werden, einen kriminellen Lebenswandel zu führen oder der Prostitution nachzugehen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Das Amtsgericht Köln verurteilte nach dieser Vorschrift die Eltern von minderjährigen Dieben zu einer Geldstrafe. In Großbritannien kann das pädagogische Versagen noch unangenehmer werden. Dort erfand man die Parenting order. Vordergründig redet die britische Regierung von der Unterstützung der Eltern, um ihre Erziehungsfähigkeiten zu verbessern: "The Government is therefore aiming to increase the parenting support available to all parents to help them to develop better parenting skills." Doch in Wirklichkeit geht es um die Nacherziehung der Eltern selbst, die zwangsverpflichtet werden, ihre Aufzuchtmethoden in einem staatlichen Erziehungs-Crashkurs aufzufrischen. Wer nicht kommt, muss kräftig - bis zur Höchststrafe von £ 1.000 - zahlen. Doch selbst der Verlust einer Sozialwohnung kann dem Vater oder der Mutter blühen, wenn sie ihre Sprösslinge nicht auf den Pfad der Tugend zurückbringen.
In Frankreich wurden bisher Methoden bevorzugt, die eher darauf angelegt sind, Auflagen zu erteilen, um den Kontakt zwischen Eltern und Kindern verbessern. Doch auch hier wird der Wind schneidiger, sodass vielleicht demnächst amerikanische Verhältnisse drohen. In "god's own country" gibt es Teen Help Programme in so genannten Boot Camps, in denen Minderjährige mit allen Regeln der schwarzen Pädagogik - Prügel und Isolationshaft - zu guten Staatsbürgern und freundlichen Mitmenschen erzogen werden sollen. "Does my teen need help?" Die zahlreichen Kritiker drakonischer Erziehungshilfen sind eher der Auffassung, dass die Gulag-Betreiber selbst behandlungsbedürftig sind.
Die Crux des Bildungssystems
Betrachtet man die Vielzahl der hiesigen Maßnahmen, wird deutlich, dass auch in der Bundesrepublik Deutschland die Idee von "Zero Tolerance" um sich greift. Mehr oder weniger folgen die Schulschwänzersanktionen der "Broken Windows-Theorie" (Lames Q. Wilson und George L. Kelling), die nicht viel mehr besagt als "Wehret den Anfängen." Doch repressive Maßnahmen hält zugleich wohl kaum einer für ausreichend, um Schulschwänzer in motivierte Zöglinge zu verwandeln.
Die Schule, die einst ein "psychosoziales Moratorium" (Jürgen Habermas) gewährte, d.h. den Ernst des Lebens für später aufhob, verliert ebenso wie die Eltern immer stärker die Kontrolle über den lernunwilligen Nachwuchs. Ursachen dafür gibt es viele. Die Kluft der Generationen wird größer. Der Zusammenhalt in den Klassen wird durch stärkere Gruppen- respektive Gangbildungen verdrängt. Lernstoff und Didaktik halten nicht Schritt mit dem medial radikal veränderten Alltag der Schüler. Die Schule wird als antiquierte Agentur der Elterngeneration beargwöhnt.
Die Motivationswüste "Schule" steckt dabei selbst in einem Dilemma. Einerseits kassiert sie nach Pisa schlechte Noten für ihre Bildungspflänzchen. Andererseits ist ein rigides Leistungsprinzip gegenüber Schulschwänzern und Lernunwilligen Gift, weil erst mal die spielerische Freude am Lernen (wieder)geweckt werden müsste. Die Crux dieses Bildungssystems ist generell mehr denn je ein Leistungsprinzip, das längst nicht mehr auf die Logik von schulischen Leistungen und späterem Erfolg verweisen kann. Die Berufs- und Ausbildungsaussichten der Kinder werden immer schlechter. Warum also überhaupt lernen?
Die Grundfrage Jean-Jacques Rousseaus, des ersten modernen Pädagogen, der bekanntlich seine eigenen Kinder im Waisenhaus erziehen ließ, lautete: "Wozu ist das nützlich"? Und diese Antwort muss nach dem Aufklärer "erfahren" und nicht diskursiv vermittelt werden. Rousseau war mit diesem Ansatz auch ein Vertreter der leicht modifizierten Broken-Windows-Theorie. Danach riet er, Kinder, die Fensterscheiben zerschlagen, in solch luftigen Räumen schlafen zu lassen. Und wenn sie es gar zu toll trieben, sollte man die Kids in fensterlose Räume sperren, damit sie am eigenen Leibe spüren, warum intakte Fensterscheiben eine nützliche Sache sind.
Elektronische Bindungen sollen die sozialen ersetzen
Unsere nun vorgeblich wach gewordenen Bildungs- und Ordnungspolitiker verfallen auf andere Lösungen. Nach Auffassung von Christdemokraten und Liberalen soll das "Wunder von Bern" von Sönke Wortmann (Ein Tor für Deutschland) in den Schulen gezeigt werden. Die "Aufbruchsstimmung der Fünfzigerjahre" (Cornelia Pieper, FDP-Generalsekretärin) soll demonstriert werden, "um der jungen Generation diese Zeit nahe zu bringen" (Thomas Rachel, Bildungspolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag).
Ob Schulschwänzer sich von diesen Kinolehren der Geschichte beeindrucken lassen werden, dürfte höchst zweifelhaft sein. Denn gerade die Zeit, in der wir leben, hat mit jenen Tagen so herzlich wie eher unherzlich wenig zu tun. Und wer garantiert, dass die zu Wirtschaftswunderstimmungen verleiteten Kids nicht das schöne Bildungserlebnis hinterher wieder mit Tarantinos "Kill Bill" zunichte machen (Ein Lied vom Tod)?
Der Innenminister Brandenburg, Jörg Schönbohm, bekannt für seine offenen Worte in ordnungspolitisch dräuenden Fragen, baut weniger auf Motivation als auf Lenins Wort: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Schönbohm rät mit Zustimmung einiger Christdemokraten zu elektronischen Fußfesseln für extrem kriminelle Schulschwänzer.
Die elektronische Fußfessel könnte eine vorbeugende wie abschreckende Möglichkeit sein, um die Gesellschaft vor extrem kriminellen Schulschwänzern zu schützen. Und diese vor sich selbst.
Das ist vorbehaltlich der stigmatisierenden Nebenwirkungen sicher eine effektive Methode, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Wenn in Gesellschaften mit schwacher Sozialkontrolle die sozial-emotionalen Bindungen fehlen, muss man eben auf elektronische zurückgreifen.
Schönbohms fesselnder Vorschlag ist selbstverständlich bei den üblichen Wohlmeinenden aus diversen Kultusministerien und vor allem bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) auf massive Kritik gestoßen. Auch unser Placet könnte Schönbohms Rosskur allenfalls dann finden, wenn sie denn auch für andere gesellschaftliche Risikogruppen anempfohlen würde. Etwa bei öffentlichen Spesenrittern aus Parlamenten und Verwaltung, beispielsweise beim Auswärtigen "Shopping" Ausschuss des Bundestages, wären Fußfesseln probate Mittel, um das "whereabout" unserer Volksvertreter während ihrer Dienstflüge und Konferenzen jederzeit überwachen zu können. U
nd seien wir mal ganz ehrlich: Würden nicht auch die horrenden Scheidungsraten auf Vorkriegsniveau fallen, wenn Seitensprünge dank Fußfessel sofort aufgedeckt würden. Wer erst mal den Geist der Überwachungsgesellschaft geatmet hat, weiß, dass Kontrolle ein Spiel ohne Grenzen ist.