Elektroschocks für die Kunst

Ein russischer Künstler will mit spektakulären Mitteln für die Kunst- und Meinungsfreiheit in Russland werben

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Um Aufmerksamkeit zu erregen, versuchen Künstler gerne, Spektakuläres zu fabrizieren oder Tabuüberschreitungen zu inszenieren. Das kann mitunter auch so weit gehen, dass Künstler zur Selbstdestruktion greifen, um zu provozieren oder ein Signal zu setzen, oder Menschen auffordern, sie zu quälen oder zu verletzen.

In Deutschland sind etwa die Aktionen von Flatz bekannt, der sich schon mal in einer Galerie mit Darts beschießen ließ oder sich, aufgehängt an einem Seil, als Glockenschwengel gegen Metallplatten donnern ließ. 2007 hatte der aus dem Irak stammende Künstler Wafaa Bilal eine vergleichsweise harmlose Aktion als Protest gegen den Krieg inszeniert. Er hielt sich zwei Wochen lang in einem Raum auf und Internetbenutzer konnten mit einem Paintball-Gewehr und mittels einer Webcam versuchen, auf ihn zu schießen ("Schieß auf einen Iraker").

Nun will ein russischer Künstler, der in Bulgarien lebt, mit einer ähnlichen, über das Internet stattfindenden Aktion gegen die in Russland angeblich ausgeübte Unterdrückung der Kunst, vor allem aber die von Religionsgruppen durchgesetzte Zensur der Kunst. Damit bezieht sich Oleg Mavromati auf seine eigene Erfahrung. Vor 10 Jahren hatte sich der Aktionskünstler in Moskau für einen Film, der nie fertig gestellt wurde, im Freien zwischen dem Kulturinstitut und einer Kirche "kreuzigen" lassen. In dem Film "Öl auf Leinwand" spielte er einen Maler, der erklärte, dass heute nur noch durch solche Aktionen Aufmerksamkeit für die Arbeit als Künstler erzielt werden könne. Und dass doch alle gierig seien, den Künstler auch leiden zu sehen. Er ließ sich zunächst mit Klebeband an ein Holzkreuz fesseln, dann wurden seine Hände mit Nägeln am Kreuz befestigt. Die Performance war übertitelt: "Glaube Deinen Augen nicht!"

Orthodoxe Christen zeigten Mavromati an, seine Wohnung wurde von der Polizei durchsucht und er angeklagt, mit der Aktion Feindlichkeit gegenüber der Religion zu schüren. Das könnte auch mit einer Gefängnisstrafe bis zu 5 Jahren bestraft werden. Mavromati zog es darauf vor, nach Bulgarien ins Exil zu gehen. Angeblich hat er die Kreuzigung öfter "aufgeführt", zumindest auch 2001 erneut in einer Galerie in Moskau.

Am Sonntag hat Mavromati nun seine neue Aktion Ally/Foe gestartet, die jeweils zwischen 19 und 23 Uhr bulgarischer Zeit stattfindet. Der Künstler verspricht, dass es sich nicht um ein Spiel handelt, sondern dass es um die ernsthaften Fragen des fundamentalen Menschenrechts auf Meinungs- und Ausdrucksfreiheit geht. Es handele sich um einen Test, wie die Gesellschaft Freiheit interpretiert.

Mitmachen kann jeder, er muss nur seine Stimme abgeben, eine Email-Adresse angeben und entscheiden, ob Mavromati zu Recht wegen seiner Kreuzigung angeklagt oder ob er unschuldig ist. Wer seine Stimme abgibt, darf dann in den angegebenen Zeiten ein Live-Video mit dem Künstler sehen, der auf die eingehenden Kommentare reagiert. Und die neue Performance, die irgendwie die Entscheidung "demokratisch" an die Internetbenutzer weltweit delegiert, soll es ebenso in sich haben. Entscheiden sich die ersten 100 in der Mehrzahl für schuldig, will der Künstler sich einem Elektroschock mit 100.000 Volt für eine Sekunde unterziehen. Wenn mehr für unschuldig plädieren, macht er dies nicht. Auf der zweiten Stufe würde er sich einem Elektroschock mit 400.000 Volt für 1,5 Sekunden und auf der dritten einem mit 600.000 Volt für 2 Sekunden unterziehen. Die Stromstärke wird allerdings nicht angegeben.

Ein Elektriker und ein Arzt seien anwesend, wenn Mavromati sich einen Elektroschock versetzt. Den ersten hatte er sich schon versetzt, offenbar ohne Schaden zu nehmen. Ab gestern müssen diejenigen, die für schuldig plädieren, allerdings etwas zahlen, angeblich um damit sicherzustellen, dass sie auch ehrlich der Ansicht sind, dass der Künstler bestraft werden müsse. Das wird die Schuldig-Stimmen sicherlich niedrig halten.

Aufmerksamkeit hat er jedenfalls gefunden. Es nehmen tatsächlich viele teil, zumindest gestern Abend haben diejenigen überwogen, die auf unschuldig plädieren. Einer, der für schuldig ist, schrieb: "Anyone stupid enough to do this needs shocked!" Andere sind da noch wenig unfreundlicher: "electrocute the fucker."