"Schieß auf einen Iraker"
Ein irakischer Künstler hat sich für sechs Wochen in einem Raum in Chicago eingeschlossen und lässt Internetbenutzer mit einem Paintball-Gewehr auf sich schießen, um auf die Situation der Menschen im Irak aufmerksam zu machen
Vor einiger Zeit gab es große Aufregung über die Idee eines Texaners, Menschen aus der Ferne über das Internet die Möglichkeit zu bieten, mit einem ferngesteuerten Gewehr und Kameras auf Jagd zu gehen und auf wirkliche Tiere zu schießen (Das erste Tier wurde online zur Strecke gebracht). Ablehnung entstand schnell über diese für Zivilisten umgesetzte Praxis des Militärs, mit Drohnen oder anderen Robotern aus der Ferne auf Menschenjagd zu gehen. Schnell wurden in vielen US-Staaten Gesetze eingeführt (Töten aus der Ferne), um die Internetjagd auf Tiere zu verbieten.
Nachdem das auch in Texas untersagt wurde, verlegte sich John Lockwood auf Internet-Paintball, scheint damit aber keinen großen Erfolg erzielt zu haben. Möglicherweise war der aus dem Irak stammende Künstler Wafaa Bilal von Lockwoods interaktiver Internet-Installation angeregt worden. Seit zwei Wochen lebt Bilal jedenfalls Tag und Nacht in einem Raum der Flatfile Galleries in Chicago, während permanent ein Paintballgewehr und eine Webkamera auf ihn gerichtet sind (die Videotagebücher findet man hier). Die "Ausstellung" ermöglicht es Internetbenutzern an einer Art Milgram-Experiment teilzunehmen, denn jeder kann, wenn er dies wünscht, mit dem Gewehr auf den Künstler schießen. Damit kann er ihn zwar nicht wirklich verletzen, aber, gerade wenn die Gelatinekugeln das Gesicht treffen, doch Schmerzen zufügen. Er kann aber auch mit dem Künstler über einen Chat in Kontakt treten.
Eigentlich hatte Bilal vor, seine Installation "Schieß auf einen Iraker" (Shoot an Iraqi) zu nennen. Seiner Galeristin war dies aber doch zu direkt und zu politisch. Nun heißt sie verhaltener Domestic Tension und macht doch ebenso das Anliegen des Künstlers deutlich, dessen jüngerer Bruder 2005 in Nadschaf von einem amerikanischen Soldaten erschossen wurde. Kurz wurde auch sein Vater getötet. Bilals Medienprojekt mit hohem persönlichen Einsatz ist eine eminent politische Arbeit als Kritik des Irak-.Kriegs und dessen Folgen, gleichzeitig stellt es wichtige Fragen über das Verhältnis von Nähe und Ferne, von Wirklichkeit und Virtualität, und ist eine typische Form, wie in der von Medien bestimmten Aufmerksamkeitsökonomie die knappe Ressource Aufmerksamkeit gewonnen wird.
Bilal will mit seiner Kunstaktion die alltägliche Bedrohung der Menschen im Irak nach dem Einmarsch der Amerikaner aufmerksam machen und gleichzeitig einer Kunst den Weg ebnen, die den traditionell distanzierten Betrachter zum Beteiligten in einer Form macht, die man aus Computerspielen kennt. Das eingesperrte und überwachte Leben in einem "Container", das Bilal einen Monat lang führt, hat allerdings nichts mit den bekannten Reality-TV-Programmen zu tun, sondern macht die Situation deutlich, die das Leben von vielen Irakern seit Jahren bestimmt. Aufgrund der Gefahr, die bei jedem Schritt droht, verlassen sie ihre Wohnungen und Häuser nur, wenn es wirklich notwendig ist. So würde nun auch seine Familie im Irak leben müssen, die keine Chance habe, das Land zu verlassen. Er will daher mit seiner Kunstaktion auch seiner Familie und den Menschen im Irak näher sein und sie unterstützen.
Auf Ton hat Bilal verzichtet, um damit für den Internetbenutzer ebenso weit entfernt zu sein, wie das für die Amerikaner die Iraker sind:
I want it to be far removed. I want it to be video game-like. That's how we see this war, as a video game. We don't see the mutilated bodies or the toll on the ground.
Allerdings hört Bilal, wenn Schüsse abgefeuert und die Kugeln an die Wand klatschen.
Bilal wurde 1966 in Bagdad geboren und ist dort in einer schiitischen Familie aufgewachsen. Obgleich er schon damals Künstler werden wollte, so schreibt, sei er gezwungen worden, Geografie zu studieren. Er habe aber auch im Studium Bilder gemacht. Weil sie gegenüber dem Hussein-Regime kritisch waren, sei er mehrere Mal festgenommen worden. Nach dem Golfkrieg 1991 habe er sich aufgrund des Versprechens des damaligen US-Präsidenten Bush, den Irakern zu helfen, wenn sie Saddam stürzen, im Widerstand engagiert. Er habe sich vor Ausbruch des Krieges nicht einziehen lassen und konnte nach Kuwait fliehen. Von dort wurde er in ein Flüchtlingslager in Saudi-Arabien abgeschoben, in dem es auch schlimm zugegangen sei, und konnte von dort 1992 schließlich in die USA gelangen, wo er seit 2001 an der School of the Art Institute of Chicago lehrt.
Die Menschen schießen mit der Farbmunition, nicht unbedingt auf Bilal, manchmal auch nur auf die Lampe, das Bett oder die Wand. Tausende haben schon abgedrückt. Entsprechend sieht es bereits in dem Raum aus, der zu Beginn sauber und weiß war, während er jetzt schmutzig gelb aussieht. Dort, wo die Farbe auftrifft, zieht sich ein breites Band an der Wand durch den ganzen Raum. Das Gewehr lässt sich nur nach links und rechts bewegen, nicht nach oben und unten. So kann Bilal, wenn er sich auf das Bett legt und zu schlafen versucht oder gebückt herumgeht, nicht getroffen werden. Im Zimmer gibt es auch Schilde aus Plexiglas, mit denen sich der Künstler schützen kann. Die Kamera lässt sich auch nicht mehr wirklich bedienen, wenn zwei und mehr Internetbenutzer sie zu steuern versuchen. Sie kämpfen dann miteinander, wobei die Kamera mit dem Gewehr hin – und herschwenkt.
Wenn Bilal aus dem Schutzraum, gewissermaßen aus seiner Green Zone, heraus- und ins das Schussvisier eintritt, scheinen die Internetzuschauer loszufeuern:
"Some of them are very obsessed, like in hunting mode. They will just sit until I make a mistake.
Wollen die Schützen nur spielen? Verstehen Sie die Jagd als Computerspiel, auch wenn sie auf einen wirklichen Menschen schießen? Macht es Spaß, endlich nicht mehr nur mit virtuellen Waffen auf virtuelle Figuren zielen zu können, sondern aus der Ferne – und geschützt durch die Anonymität und aus dem Dunklen des Internet-Zuschauerraums – ein wirkliches Gewehr zu bedienen, um mit wirklicher, wenn auch nur Paintball-Munition auf einen wirklichen Menschen zu schießen? Gibt es hier auch Emotionen, die mit dem Krieg im Irak zu tun haben? Werden tatsächlich distanzierte Zuschauer zu involvierten Beteiligten, die nicht nur als Kunstrezipienten, sondern auch als politische Subjekte aus ihrer Passivität heraustreten?
Man könnte auch fragen, was mit einer solchen Schussanlage, die durch den virtuellen Raum in den realen Raum reicht, ausgelöst wird. Werden sie aufgerüttelt, um sich dafür einzusetzen, die Gewalt zu beenden? Oder werden sie zu Gewalt ermuntert? Noch ist es ja fast ein Computerspiel, bei dem fast nichts passieren kann. Oder ist Bilals Medienaktion vielleicht die Vorlage für eine "Snuff"-Installation, bei der Internetnutzer gegen Geld mit scharfer Munition auf einen Gefangenen gegen entsprechendes Geld schießen können?
Bilal jedenfalls sagte am 13. Tag des auf sechs Wochen angelegten Kunstprojekts:
At this point, I look forward to when this gun is silent and when all the guns are silent.