Elf Jahre nach dem Friedensnobelpreis: So kontrovers ist EU-Geopolitik inzwischen

Seite 2: Die Rückkehr der "Zeitenwende"

Und wenn schon die deutsche Politik den Blick zurückwendet aufs Jahrhundert des Imperialismus und auf den Eintritt ins Zeitalter der Weltkriege, kann man sich vielleicht einmal an einen unverdächtigen Zeitzeugen halten, an den Schriftsteller Thomas Mann.

Der hat in seinem 1947 erschienenen Roman Dr. Faustus, der eine Abrechnung mit deutschem Ungeist und Unheil im 20. Jahrhundert, aber auch mit Manns eigener deutschnationaler Vergangenheit darstellt, an den mit wehenden Fahnen vollzogenen Übergang in dieses mörderische Zeitalter erinnert.

Der Roman zeichnet ein eindringliches Bild von der fatalen Zeitenwende 1913-14, die damals vom Bürgertum als Aufbruch empfunden wurde, und von der nationalen Hybris, mit der der Deutsche seinen Führungsanspruch gegenüber den europäischen Völker vertrat.

Hier ist ja auch eine ungebrochene Tradition deutscher Intellektueller und Meinungsmacher zu verzeichnen. Aus deren Kreis wurde im Oktober 1914, kurz nach Kriegsbeginn, als die ausländische Presse deutsche Kriegsverbrechen im neutralen Belgien bekannt machte, das "Manifest der 93" veröffentlicht.

"Als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kultur" erhoben hier prominente Figuren wie der Liberale Friedrich Naumann (nach dem die FDP heute ihre Stiftung benennt) "vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten".

Ein besonderes Anliegen war es den Unterzeichnern, die von der Entente geübte Kritik am deutschen Militarismus zurückzuweisen und die betreffenden Vorwürfe als Kampf gegen unsere Kultur zu entlarven. Denn, so das Manifest:

Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt. Zu ihrem Schutz ist er aus ihr hervorgegangen in einem Lande, das jahrhundertelang von Raubzügen heimgesucht wurde wie kein zweites. Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins. Dieses Bewußtsein verbrüdert heute 70 Millionen Deutsche ohne Unterschied der Bildung, des Standes und der Partei.

Die Betonung der eigenen Friedfertigkeit – bei aller Aufrüstung und bei allem Kampf gegen Kriegsmüdigkeit, also bei Bemühungen, die früher unter die Rubrik "Militarismus" fielen – ist eine Konstante geblieben.

Auch soll das Volk treu zu seiner Wehr stehen und sich mit ihr eins fühlen, wie von Bundespräsident Steinmeier immer wieder angemahnt. Natürlich ist heute die weltpolitische Konstellation eine andere, doch in einem ist sich die deutsche Öffentlichkeit treu geblieben: Wenn wir uns "kriegstüchtig" (Pistorius) machen, dann geschieht das aus reiner Friedensliebe, zum Schutz von Werten und so.

Apropos Thomas Mann – so sah einmal das deutsche Schuldbewusstsein nach der Kriegsniederlage 1945 aus:

Der dickwandige Folterkeller, zu dem eine nichtswürdige, von Anbeginn dem Nichts verschworene Herrschaft Deutschland gemacht hatte, ist aufgebrochen, und offen liegt unsere Schmach vor den Augen der Welt, der fremden Kommissionen, denen diese unglaubwürdigen Bilder nun allerorts vorgeführt werden, und die zu Hause berichten: was sie gesehen, übertreffe an Scheußlichkeit alles, was menschliche Vorstellungskraft sich ausmalen könnte. Ich sage: unsere Schmach.

Denn ist es bloße Hypochondrie, sich zu sagen, daß alles Deutschtum, auch der deutsche Geist, der deutsche Gedanke, das deutsche Wort von dieser entehrenden Bloßstellung mitbetroffen und in tiefe Fragwürdigkeit gestürzt worden ist? Ist es krankhafte Zerknirschung, die Frage sich vorzulegen, wie überhaupt noch in Zukunft ‚Deutschland‘ in irgendeiner seiner Erscheinungen es sich soll herausnehmen dürfen, in menschlichen Angelegenheiten den Mund aufzutun?

Tja, ist das noch als Schullektüre tragbar? Nach Astrid Lindgren und Roald Dahl wird man wohl auch Thomas Mann umschreiben müssen...

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