Elf Jahre nach dem Friedensnobelpreis: So kontrovers ist EU-Geopolitik inzwischen

Offiziell legt die EU Wert auf Frieden. Tatsächlich stärkt sie Aufrüstung. Die Frage nach der wahren Natur der Union wird immer brisanter, meint unser Autor.

Vor elf Jahren erhielt die EU den Friedensnobelpreis mit der Begründung: "Die Union und ihre Vorgänger haben über sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung beigetragen. Seit 1945 ist diese Versöhnung Wirklichkeit geworden."

Trotz dieser Auszeichnung verläuft das Geschehen in der EU nicht immer harmonisch, wie jeder weiß (siehe Brexit, Haushaltsstreitigkeiten, Asylreform, Nahostkonflikt...). Die heutige Friedensförderung konzentriert sich vor allem auf Aufrüstung und die Herstellung von Kriegstüchtigkeit an Orten, wo die Militarisierung bisher nicht vollständig durchgegriffen hat.

Selbst die Führungspersonen der EU – einschließlich der weiblichen Chefs – scheinen Schwierigkeiten zu haben, ohne Heuchelei Putin die Schuld zuzuschieben, der angeblich die europäische Friedensordnung zerstört haben soll. Diese Ordnung, die nach 1980 zum Schauplatz eines umfassenden Aufrüstungsprogramms wurde und nach 1990 hoffnungsvoll gen Osten strebte, nachdem die Sowjetmacht im Rüstungswettlauf kapituliert hatte.

Bereits in den 1990er Jahren mischte die EU auf Drängen Deutschlands den Balkan auf und leitete schließlich mit einer beeindruckenden Nato-Friedensmission – ohne Rücksicht auf das Völkerrecht – die aktuell in der Endphase befindliche Eroberung des Ostblocks ein. Nun muss nur noch der Erfolg der EU-Sanktionen gelingen, wie Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) bei der Verabschiedung des Ersten von bald zwölf Sanktionspaketen verkündete: "Russland ruinieren".

Ein Vasall, der keine Abhängigkeit akzeptieren möchte

Skeptische Beobachter, wie der britische Politologe Anatol Lieven, der kürzlich bei Telepolis zu Wort kam, teilen nicht die Aufbruchsstimmung.

Sie verweisen auf Gutachten der Denkfabrik Europäischer Rat für Auswärtige Beziehungen.

In der aktuellen Lagebeurteilung wird dort von einer "Vasallisierung" der EU gesprochen, die anstelle der Entwicklung eines eigenständigen (deutschen) Europas zur Großmacht eher eine Degradierung erwarten lässt.

Es gibt eine Tendenz bei US-Amerikanern, sich selbst zu beglückwünschen dafür, Europa im Zuge des Ukraine-Kriegs der US-Strategie unterworfen zu haben.

Andere Persönlichkeiten wie die Politik-Professorin Ulrike Guérot, ehemals Leiterin der genannten Denkfabrik, beschwören unter Verweis auf die kulturelle Tradition des Abendlands eine "EUtopie, die humanistisch, antifaschistisch, antimilitärisch, internationalistisch und antikapitalistisch ist".

Da sie mit der Forderung endet, Europa müsse "alles tun, um diesen Krieg sofort zu beenden", wurde sie an einer deutschen Universität für nicht mehr tragbar erklärt. In Telepolis wurden die zweifelhaften Gründe, die von der Universitätsleitung genannt bzw. leicht erkennbar vorgeschoben wurden, bereits diskutiert.

Im Kontext der geistigen Lage seit der "Zeitendwende" ist hierzulande klar geworden: Eine Europavision, die auch noch eine Aussöhnung mit Russland einschließt, wird nicht toleriert. Antifa-Experten wissen darüber Bescheid.

Es wird betont, dass man zwar unbedingt für die europäische Integration sein soll, weil (Post-)Faschisten und Rechtspopulisten dagegen sind und der Nationalstaat angeblich ausgedient hat. Dennoch wird das Projekt eines geeinten Europas, das sich nach Osten orientiert, ohne die USA zu fragen, als faschistisch dargestellt.

Als Beweis wird angeführt, dass Carl Schmitt damals den Ausschluss der "raumfremden Macht" USA gefordert hat und Politiker wie Chrupalla und Höcke heutzutage keinen Krieg mit Russland wollen, sondern günstiges Erdgas zum Nutzen des deutschen Standorts importieren möchten. Dies wird als vermeintlich faschistisch kritisiert.

Es wird darauf hingewiesen, dass das Europa der EU eine – bis an die Zähne bewaffnete – Festung ist und weit entfernt von einer allgemeinen Aussöhnung mit anderen Völkern ("Seid umschlungen Millionen…").

Die europäische Zivilgesellschaft von Brot für die Welt bis Pro Asyl ist maßlos enttäuscht darüber, dass im Inneren ein emotional aufgeladener Kampf gegen irreguläre Migration geführt wird, im Mittelmeer der Tod Tausender hingenommen und die Lage durch die Funktionalisierung der Anrainerstaaten noch verschärft wird.

Es wird auch beklagt, dass eine Europäische Friedensfazilität mittlerweile friedliche Kriege finanziert, wie beispielsweise die Aufrüstung der Ukraine mit 3,6 Milliarden Euro.

Vielleicht wäre es angebracht, von gängigen Täuschungen Abschied zu nehmen. Statt sich damit zu beschäftigen, welche Versäumnisse den Aufbruch des EU-Projekts zur Friedensmacht behindern und wie dem mit neuen Visionen beizukommen wäre, sollte geklärt werden, was das Projekt eigentlich ist.

Bei nüchterner Betrachtung könnte man zu dem Schluss kommen, dass es sich schlicht und ergreifend um das Agieren einer aufstrebenden imperialistischen Macht im Schafspelz handelt.

Die "Rückkehr des Imperialismus"

Einen Diskussionsbeitrag in diesem Sinne bringt jetzt die Zeitschrift Konkret in ihrer aktuellen Ausgabe: "Make Europe Great Again" (Nr. 12, 2023, Autoren: Renate Dillmann und Johannes Schillo). Er setzt die in der Nr. 11 begonnene Bilanz der neueren Imperialismusdiskussion fort ("Imperialismus revisited"). Dort hieß es:

Er ist wieder da – der Imperialismus, der alte Wiedergänger. Heute taucht er in Russland und China auf. Kanzler Scholz konstatierte bei seiner Rede vor den Vereinten Nationen mit Blick auf den Ukraine-Krieg "blanken Imperialismus".

Und deutsche Medien kommen, unterstützt von den einschlägigen "unabhängigen" Denkfabriken, bei ihren bekannt präzisen Analysen zu dem Ergebnis, dass das außenpolitische Verhalten der Volksrepublik China nicht anders als "klassisch imperialistisch" einzustufen ist – so unisono die FAZ, der Deutschlandfunk und die Bundeszentrale für politische Bildung.

Auch die Osteuropaforschung und andere Wissenschaften stehen nicht an, hier unverzüglich ihren Beitrag zu leisten.

Deutsche Experten verfertigen dazu Definitionen, die punktgenau den russischen Neoimperialismus erfassen, während die US-Dominanz auf dem Globus als eine einzige Schutzmaßnahme vor einem seit der Zarenherrschaft feststellbaren slawischen Expansionsdrang erscheint. Alles in allem zeigt sich also: "Deutsche Kriegsmoral auf dem Vormarsch" (vgl. Wohlfahrt/Schillo 2023).

"Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt" – so beginnen jetzt die aktualisierten Verteidigungspolitischen Richtlinien der BRD (BMVg 2023). "Die internationale Ordnung wird in Europa und rund um den Globus angegriffen", heißt es weiter.

Passend dazu hat das Auswärtige Amt in der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie festgehalten, dass hier natürlich an erster Stelle Russland gemeint ist, das mit seiner "imperialen Politik Einflusssphären" (AA 2023) einzurichten versucht. So muss auch die Sicherheitsstrategie im Fall von Putins Angriff auf die Ukraine "die Rückkehr des Imperialismus nach Europa" (AA 2023) konstatieren.

Dass der Krieg bereits vor einem Vierteljahrhundert mit der Bombardierung Serbiens – unter Mitwirkung Deutschlands – nach Europa‚ zurückkehrte; dass der Zusammenschluss (West-)Europas unter der Ägide der Pax Americana – wie man im Konkret-Beitrag nachlesen kann – von Anfang an ein imperialistisches Konkurrenzprojekt war; dass die Einigung zu einem europäischen Bund "unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung" (Reichskanzler Bethmann-Hollweg) schon bei Weltkrieg Nr. 1 und dann ebenfalls bei Nr. 2 im Programm war, all das muss man vergessen, wenn man den Aufwuchs der heutigen BRD zur "Führungsmacht" (Scholz) als Ausdruck von Friedfertigkeit feiert.

Was hier als Bedrohungsszenario entworfen wird, ist dabei das Spiegelbild der eigenen Anstrengungen, mit der EU Einflusssphären zu schaffen und gegen Kontrahenten oder Rivalen abzugrenzen.

Natürlich wird dies – Stichwort interner Streit – von konkurrierenden europäischen Nationalstaaten praktiziert, die selber ihre jeweiligen Interessen verfolgen, sich auch über die Rolle von Führung und Gefolgschaft nicht einig sind. Gerade soll z.B. ein deutsch-italienischer Aktionsplan Italien auf gemeinsame strategische Leitlinien mit Deutschland – gegen Frankreich – festlegen.

Aber in einem Punkt besteht Einigkeit: Wenn sich die 27 Staaten von sehr unterschiedlichem Kaliber zusammenschließen und auf dem Globus mit einer Stimme sprechen, dann können sie gegenüber anderen eine viel größere Wucht, sprich: außenpolitische Erpressungsmacht entfalten; dann lässt sich die immer wieder beschworene Abhängigkeit, die die Beteiligung am Weltmarkt mit sich bringt, als Waffe gegen Konkurrenten viel effektiver nutzen.

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