Nächster Balkankrieg in Sicht?
Seit dem Ukraine-Krieg hat die militärische Lösung neues Gewicht bekommen. Jetzt gibt es Kräfte, die im Kosovo Schluss mit einer Appeasement-Politik machen wollen. Kommentar.
Solange man im Westen glaubt, von der Vorstellung ausgehen zu dürfen, dass Russland den westlichen Waffenlieferungen nicht standhalten kann und schließlich dem endgültigen Untergang geweiht sein dürfte, scheint man auch andernorts die Entscheidung suchen zu wollen.
Da greift man gerne das Erbe der Jugoslawienkriege wieder auf, bei welchen es den westlichen Staaten nicht gelungen ist, die Serben auf Linie zu bringen, obwohl man mit Camp Bondsteel nahe Ferizaj im Kosovo einen um die 7.000 Mann starken militärischen Stützpunkt errichtet hat.
Dieser weckt nicht nur vom Namen und der Infrastruktur her Erinnerungen an die Aktivitäten der US-Armee in Südostasien, sondern stand zudem nach dem Jahr 2000 im Ruf, ein "Guantanamo-ähnliches Gefangenenlager" zu beherbergen.
Kyiv Post veröffentlicht Brief an die Balkan-Beauftragten
Es verwundert nicht wirklich, dass dieser Brief in der Ukraine veröffentlicht wurde, mag er doch aufzeigen, dass auch die Verbündeten Russlands sich nicht mehr der Hoffnung auf Diplomatie hingeben sollen, weil ihnen bei Unbotmäßigkeit gegenüber den westlichen Vorstellungen nur der militärische Weg übrig bleiben könne.
55 Außenpolitikexperten, darunter auffallend viele von den Britischen Inseln und aus dem Baltikum, warnen vor einer Bedrohung des Friedens auf dem Balkan und fordern ein Ende der Appeasement-Politik gegenüber dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić.
"Die jüngsten Entdeckungen von Waffenlagern im Norden des Kosovo und Berichte über anhaltenden Waffenschmuggel über die Grenze zwischen Serbien und dem Kosovo verdeutlichen die Gefahr einer weiteren Eskalation", heißt es in dem in Kiew veröffentlichten Brief.
Der Kosovo sei ein souveränes Land und eine funktionierende Demokratie. Serbien müsse dafür zur Rechenschaft gezogen werden, dass es versuche, die demokratischen Wahlen im Kosovo zu stören.
Die Autoren sind für Abschreckungsdiplomatie, was auch immer das sein soll, um die im Westen erkannte aktuelle Krise zu lösen. Man fordert die Wiederherstellung von Ausgewogenheit und Verhältnismäßigkeit im Umgang mit Kosovo und Serbien, ohne dass man diese näher erläutert.
Die Verfasser des Briefes glauben in der derzeitigen Politik des Westens einen Mangel an Druck auf Serbien zu erkennen sowie einen Mangel an Unparteilichkeit. Man solle sicherstellen, "dass wir keine auf Belgrad ausgerichtete Politik für den Balkan verfolgen", hält der Brief ebenso fest.
Wie nimmt man dem Westen die Scheu vor einer Neuauflage der Balkankriege?
"Seit Monaten wird bereits das Regime von Vučić vor allem von den US-Diplomaten Christopher Hill, Gabriel Escobar, Dereck Chollet und James O'Brien auf verschiedene Art und Weise unterstützt. Und dies, obwohl die serbische Regierung ein wichtiger Verbündeter des Kreml ist", stellt der österreichische Standard fest.
Offensichtlich sei auch, dass die USA nicht mehr an eine Demokratisierung der Region glaubten, weil sie nicht in demokratische Kräfte investierten, die seit Monaten in Serbien auf die Straße gehen, sondern in autoritäre Nationalisten.
Durch die aktuelle US-Politik werde die Region immer instabiler, weil die völkischen Nationalisten, die ein Großserbien, Großalbanien und Großkroatien schaffen wollen, sich durch die US-Politik bestärkt fühlten.
Diese Entwicklung laufe auf Kosten der kleineren Länder wie Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Bosnien-Herzegowina. Dies gehe aktuell sogar so weit, dass Gabriel Escobar, der US-Gesandte für den Balkan, die gleichen Sätze sage wie der russische Botschafter in Bosnien-Herzegowina.
Als kürzlich die neuen kosovarischen Bürgermeister im von Serben bewohnten Nordkosovo ihre Ämter beziehen wollten, griffen militante serbische Extremisten die Nato-geführten KFOR-Truppen an. Die westliche Seite zog dafür nicht Belgrad zur Verantwortung. Westliche Diplomaten beschuldigten die kosovarische Regierung unter Albin Kurti, daran schuld zu sein, weil sie die Bürgermeister in ihre Ämter geschickt habe.
Konsequenterweise wurde die kosovarische Regierung auch vom Westen abgestraft. Die Teilnahme des Kosovo an der Nato-Übung Defender Europe 23 wurde abgesagt. Und die EU-Staaten vereinbarten am 14. Juni einstimmig "umkehrbare und vorübergehende Maßnahmen" gegen die kosovarische Regierung.
Die Verfasser des in Kiew veröffentlichten Briefes lehnen die aktuelle Entwicklung auf dem Balkan grundsätzlich ab und forcieren militärische Mittel anstelle eines diplomatischen Ausgleichs.
Immerhin stünde bei einem Zerfall des Kosovo möglicherweise auch die Existenz von Camp Bondsteel auf dem Spiel und damit der mit Abstand größten US-Truppenpräsenz auf dem Balkan.