Emil und das Bad im Drachenblut

Der Herrscher

Geschichte einer Verstrickung 6

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Zu Teil 5

"Ich lasse mir nicht das Lebenslicht ausblasen", sagt Jannings am Ende des zweiten Akts von Der Herrscher. Am Anfang des dritten Akts erfahren wir, dass die Kinder tatsächlich auf Clausens Tod spekulieren - nicht unbedingt die leiblichen, aber doch die angeheirateten. Das muss so sein, weil Abstammung und Vererbung im Dritten Reich großes Gewicht beigemessen wurde und das Publikum möglichst nicht auf den Gedanken kommen sollte, dass Clausen an der Misere selber schuld sein könnte, weil er seiner Brut schlechte Gene mitgegeben hat. Da empfahl es sich, die Schwiegerkinder vorzuschalten. In dieser Hinsicht konnte man sich an Hauptmanns Stück halten, wo Clausen völlig klar ist, dass seine Söhne und Töchter zu schwach sind, um es mit dem intriganten Klamroth aufzunehmen. Dem Schwiegersohn ebenbürtig ist höchstens die Schwiegertochter Clothilde, Wolfgangs Gattin.

Alternativlos: Größenwahn und unberechenbarer Machtdünkel

Matthias Clausens Familie hat sich in der Kanzlei von Anwalt Hanefeld versammelt. Hanefeld, ein Schulfreund Wolfgangs, stand erst nur dabei, begleitete dann Klamroth, als Frau Peters und ihre Tochter Inken mit Geld zum Verlassen der Stadt bewogen werden sollten und übernimmt jetzt eine noch aktivere Rolle. Die Kinder und Schwiegerkinder wollen den Vater mit seiner Hilfe entmündigen lassen. Die Anordnung der Figuren im Raum macht deutlich, wo die treibenden Kräfte sind. Klamroth und Clothilde sitzen dem Anwalt gegenüber. Die leiblichen Kinder sind an den Rand gedrängt, mehr Zuschauer als Akteure. Harlan zeigt durch die Inszenierung, dass diesen Vieren nur Nebenrollen zufallen werden, falls der Antrag auf Entmündigung Erfolg haben sollte. So macht man einen Propagandafilm. Die finale Botschaft wird hier schon vorbereitet.

Die Familie hat belastendes Material gesammelt. Die Liste der Vorwürfe ist lang: Verschwendungssucht; willkürliches Verschenken des alten Familienschmucks; Vergeudung des Familienvermögens unter dem unkontrollierten Einfluss einer Geliebten, zu der Clausen in einem Hörigkeitsverhältnis zu stehen scheint; brutaler unmotivierter Bruch mit den eigenen Kindern; usw. usw. "Und jetzt kommen die ernsteren Dinge", sagt der Anwalt und liest vor, während uns die Kamera dazu die Kinder zeigt, die wollen, dass man ihren Vater für verrückt erklärt, und am Schluss die beiden Rädelsführer, die Schwiegerkinder:

Wiederholte plötzliche Tobsuchtsanfälle, Größenwahn und unberechenbarer Machtdünkel sowohl in der Führung des Betriebes als auch im Privatleben, siehe Anlage Sitzungsbericht vom 12.2. dieses Jahres ["letzten Jahres" wäre richtig], wörtliches Zitat Clausens: ‚Mein Wille ist das oberste Gesetz, dem hat sich alles zu fügen, ohne Widerspruch, auch wenn ich dadurch den ganzen Betrieb in den Abgrund steuere.

Bei den "ernsteren Dingen" könnte einem glatt Adolf Hitler einfallen. Propagandistisch wäre dagegen nichts einzuwenden, weil wir längst wissen, dass Clausen den Betrieb eben nicht in den Abgrund steuert (der teils in die Firma investierte und teils in höhere Löhne für die Arbeiter gesteckte Gewinn war beträchtlich) und auch die anderen Vorwürfe völlig haltlos sind. Angesichts dieses Sachverhalts erweist sich als Lügenkonstrukt, was der Anwalt sonst noch in seinem Schriftsatz stehen hat:

So ergibt sich zweifellos das Bild eines Mannes, der nicht mehr im Besitz seiner vollen Geisteskräfte ist, und es bestehen schwerste Bedenken dagegen, dass einem solchen Manne ein Betrieb wie die Clausen-Werke, mit denen das Schicksal von mehr als 20.000 Arbeitern und Angestellten aufs Engste verbunden ist, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert bleiben.

Auf Gedeih und Verderb: Bei einem Arbeitsverhältnis ist das starker Tobak, aber natürlich geht es hier um noch viel mehr als um 20.000 Arbeitsplätze, denn die Clausen-Werke stehen stellvertretend für den Staat, und der war, wie man aus der NS-Propaganda weiß, von bösen Feinden umzingelt. "Wir sind eingeengt, geographisch, wirtschaftlich, politisch. Wir wollen leben!", schreibt Karl Aloys Schenzinger in seinem Superseller Anilin (und verbindet den Aufschrei mit der Forderung nach dem "künstlichen Werkstoff", den Clausen in seinem Labor entwickeln lässt). Die NS-Propaganda ergänzt: Ohne unseren Führer werden wir sterben!

Die "ernsteren Dinge", sagt Anwalt Hanefeld, werden das Gericht zumindest bewegen, ein Verfahren einzuleiten. "Und wenn er jetzt schnell ein Testament zugunsten dieser Person macht?", fragt Clothilde. Das wäre ungültig, beruhigt der Anwalt. Damit haben wir erfahren, dass Clothilde schon an Clausens Tod denkt, den sie billigend in Kauf nimmt, wenn nicht gar anstrebt. Jetzt muss der Antrag auf Entmündigung noch unterschrieben werden. Klamroth will als Erster, wird von Hanefeld ausgebremst. Zuerst sollen die leiblichen Kinder unterschreiben, das macht sich besser. Nacheinander treten sie heran, setzen ihre Namen unter das Dokument, und es ist, als sprächen sie letzte Worte am offenen Grab des Vaters. "Es muss wohl sein", seufzt Sohn Wolfgang. Tochter Bettina, die Frau mit dem Mutterkomplex, sagt: "Mutter, es geschieht für dich". Tochter Ottilie, die Hypochonderin, bricht wie immer in Tränen aus. Nur Egert, Clausens Jüngster, verweigert im letzten Moment die Unterschrift und verlässt das Anwaltsbüro. "Das wird dir noch leid tun, mein Junge", droht Klamroth, und Wolfgang ruft seinem Bruder ein "Feigling!" hinterher.

Harlan und Harbou packen so viel Uneinigkeit in diese Szene wie nur möglich. Darum sagt jetzt Hanefeld, dass die Unterschriften einiger Direktoren wünschenswert gewesen wären. "Hoffnungslos", erwidert Klamroth. "Die machen sich ja in die Hosen, wenn sie nur an den Alten denken." Was das bedeutet haben wir schon bei der Direktoriumssitzung erlebt: die feinen Herren werden kuschen und sich auf die Seite des Stärkeren schlagen, sobald der Wind sich dreht. Wenigstens er selbst darf endlich unterschreiben, der Schwiegersohn und Direktor in Personalunion. Klamroth sieht sich fast am Ziel: "So. Und jetzt dauert’s nicht mehr lange, dann diktiere ich die Bedingungen." Clothilde schaut ihn durchdringend an, und sofort rudert er zurück: "Öh, ich mein’ natürlich … wir alle zusammen." "Das will ich auch stark hoffen", erwidert seine Schwägerin, und wir wissen, dass sich diese beiden bis aufs Messer bekämpfen werden, sobald es etwas zu verteilen gibt.

Auch Hanefeld ist nicht so uneigennützig, wie er tut. Klamroth will der Vormund seines Schwiegervaters werden, aber der trickreiche Anwalt schafft es, dass er selbst für diesen Posten vorgeschlagen wird. Klamroth wird sich nicht nur mit seiner geldgierigen Schwägerin herumschlagen müssen, sondern auch mit diesem Anwalt, falls die Entmündigung gelingt. Immer, wenn sich Gruppen von Menschen mit an sich ähnlich gelagerten Interessen treffen, inszeniert dieser Film ein sich anbahnendes oder bereits erfolgtes Zerwürfnis. Einzige Ausnahme: die Betriebsfeier, bei der alle Arbeiter und Angestellten ihrem Führer Matthias Clausen zujubeln, dem Mann der Tat. Während Klamroth nicht einmal die Verwandtschaft kontrollieren kann setzt der Firmengründer eisern seinen Willen durch. Der Film gibt das Führerprinzip als alternativlos aus, indem er Klamroth als Möchtegern-Herrscher karikiert und jedes theoretisch für die Leitung der Clausen-Werke in Frage kommende Kollektiv als Ansammlung unfähiger Schmarotzer desavouiert. Immer wenn mehr als zwei Leute gemeinsam um einen Tisch sitzen kriegen sie ihr Fett weg: erst die Direktoren, dann die Kinder als Familie, jetzt die Kinder als Konfliktpartei, verstärkt durch Anwalt Hanefeld. Keiner von Clausens Kontrahenten hat das Format, ihm offen und ehrlich zu begegnen. Klamroth streicht dem Labor heimlich das Geld, als sein Schwiegervater nicht in der Firma ist. Wolfgang lässt das Gedeck für Inken Peters entfernen, bevor sein Vater ins Zimmer kommt. Das Entmündigungsverfahren wird eingeleitet, als der Betroffene außer Landes ist.

Zu Gast beim Duce

Clausen und Inken haben eine Kraft-durch-Freude-Reise für Besserverdiener angetreten, sind im Mittelmeerraum unterwegs. Harlan, Jannings, dessen Frau Gussy Holl, Marianne Hoppe und ein Kamerateam reisten auch. Ende Januar 1937 trafen sie in Rom ein. Jannings wurde dort von Mussolini empfangen, was der Film-Kurier (3.2.) seinen Lesern sogleich berichtete. Noack schreibt, dass die kleine Gruppe dann zu Außenaufnahmen nach Pompeji fuhr. Aber was man im Film sieht sind die Ruinen der dorischen Tempel von Paestum, einst Stätte einer griechischen Kolonie in Italien. Ich glaube nicht, dass Harlan und Jannings das eine Ruinenfeld mit dem anderen verwechselten. Ruine ist nicht gleich Ruine. 1934 hatten die Nazis damit angefangen, den nach dem Vorbild der Akropolis in Athen gestalteten Königsplatz in München ("Isar-Athen") zum Aufmarschplatz für die "Hauptstadt der Bewegung" umzubauen. Auf dem "Königlichen Platz", wie er jetzt hieß, inszenierten sich die Herrscher des Dritten Reichs als die Nachfolger der alten Griechen, um ihr politisches Projekt zu legitimieren und Nazideutschland als End- und Höhepunkt einer Entwicklung darzustellen, die im antiken Griechenland begonnen hatte, der Wiege der europäischen Kultur.

Der Herrscher

Auf dem Ruinenfeld von Paestum findet man die am besten erhaltenen griechischen Tempel außerhalb von Griechenland. Wenn Clausen und Inken Peters da lustwandeln ist es mehr als eine Bildungsreise. Im Kontext des Dritten Reichs war das eine politische Botschaft. Damit - und wohl auch mit der werbewirksamen Mussolini-Audienz - erklärt sich, warum die Tobis bereit war, diesen Italientrip des Filmteams zu finanzieren. Noack zufolge spielten Zeit und Geld angeblich keine Rolle und man reiste nach "Pompeji", damit die Kamera mal an die frische Luft kam und sich der Zuschauer von der klaustrophobischen Atmosphäre der im Studio gedrehten Szenen erholen konnte. Dafür hätten die Filmschaffenden auch zum Wannsee oder nach Bayern fahren können (nach Berchtesgaden vielleicht?), wo sich Clausen ein nie zu sehendes Schloss gekauft hat (ein funktionsloses Überbleibsel aus Hauptmanns Stück). Es mussten aber griechische Tempel sein. Wenn man das begriffen hat kann man anfangen zu verstehen, wie die NS-Propaganda funktionierte: nicht in Form von ein paar Dutzend Filmen, die aus unbekannten Gründen heute noch verboten sind oder von drei durch den Minister angeordneten Szenen (Buchloh), sondern als komplexes Bezugssystem aus Zeitungsartikeln, Büchern, Filmen, Wochenschauen, Aufmärschen und vom Rundfunk übertragenen Reden, dessen einzelne Elemente sich wechselseitig mit Bedeutung aufluden und nie für sich allein standen.

Institutionen wie die Murnau-Stiftung und das Bundesarchiv hätten den Zugriff auf einen riesigen Schatz an historischem Filmmaterial und wären eigentlich prädestiniert dafür, mustergültige DVD-Editionen auf den Weg zu bringen und endlich den Blick für Zusammenhänge zu schärfen. Beim Herrscher ließe sich da sehr viel machen. Die Nazis präsentierten sich eben nicht als kulturlose Barbaren, sondern dockten ebenso geschickt wie selektiv an ein abendländisches Wertesystem an, das sie für ihre Zwecke ausschlachteten. Das half ihnen dabei, ihr Projekt so zu verkaufen, dass auch Skeptiker und Andersdenkende sich der Illusion hingaben, dass aus den Trümmern der alten Welt eine neue entstehen würde, für die einzutreten sich lohnen könnte. Ob Leute wie Harlan und Jannings in diesem Kontext willfährige Helfer oder nützliche Idioten waren, oder etwas von beidem, hängt davon ab, wie viel Naivität auf der einen und wie viel kritisches Reflektionsvermögen auf der anderen Seite man ihnen zugesteht (bzw. unterstellt). Jedenfalls fuhren sie nicht als Privatpersonen oder nur der Kunst lebende Filmschaffende nach Paestum, sondern im Auftrag eines Regimes, das im Mai 1933 auch auf dem Münchner Königsplatz eine große Bücherverbrennung organisiert hatte (vertreten durch den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund).

In Rom schüttelte Jannings nicht einem dicken Glatzkopf in Operettenuniform die Hand, sondern einem Diktator, der sich nach einem blutigen Kolonialkrieg für die Annexion Äthiopiens feiern ließ. Hitler und Mussolini hatten kürzlich die "Achse Berlin-Rom" verkündet. Das geschah vor dem Hintergrund der Einmischung beider Länder in den Spanischen Bürgerkrieg. Es ging da nicht zuletzt um die Sicherung von der Rüstungsindustrie benötigter Rohstoffe und um Verträge mit dem Putschisten Franco, die nichts mehr wert gewesen wären, wenn die Republikaner gewonnen hätten. Durch den historischen Zusammenhang wird ersichtlich, dass die Entwicklung synthetischer Rohstoffe durch die Clausen-Werke eben nicht der Überwindung kriegerischer Konflikte dient. Die Forschungsarbeiten in Clausens Labor begleiten den blutigen Bürgerkrieg in Spanien und schaffen die Voraussetzungen für einen noch viel verheerenderen Krieg, der im September 1939 beginnen würde.

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