Emil und der Tuberkelbazillus

Seite 3: Kreuz mit Schlagschatten

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Der Landrat verliert jetzt die Geduld. "Der Fall ist erledigt", herrscht er den Lehrer an, "also bitte kein Wort weiter. Ich habe Ihre Beschwerde zur Kenntnis genommen, und damit Basta. Adieu." Mit diesen Worten dreht er ihm verächtlich den Rücken zu. Dem Lehrer bleibt nichts weiter übrig, als verärgert abzuziehen. "Es ist noch nicht aller Tage Abend", sagt er draußen vor der Tür. Auf die nächste Möglichkeit, dem Physikus eins auszuwischen, muss er nicht lange warten. Während Koch Patienten betreut, Versuchstieren eine Spritze gibt und dann mit seinem Assistenten Fritz von Hartwig zum Haus des Waldhüters fährt, um das Marthelchen zu sezieren, suchen die Eltern Trost bei den Gesundbetern, die glauben, man könne Tuberkulosekranke durch Hallelujahsingen heilen. Von Seiten der Filmemacher ist das ein geschickter Schachzug.

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

"Ich versteh dich nicht", sagt Frau Koch einmal zu ihrem Gatten, der gerade die Instrumente für die Sektion am Marthelchen in seine Arzttasche packt. "Nein, du verstehst mich nicht, weil du eben nicht an mich glaubst", erwidert der Doktor. "Oder … glaubst du doch an mich?" Frau Koch schweigt. Das ist mehr als die Szene einer Ehe, die in der Krise ist, weil die Frau kein Vertrauen zu ihrem Mann hat. Führerfiguren im NS-Propagandafilm fordern regelmäßig den Glauben an ihre Person, ihre Fähigkeiten und ihre Mission ein. Mit dem Glauben, so die Verheißung, kommt das Verstehen, und nicht umgekehrt. Das kennt man eigentlich aus anderen Konzepten als denen der Wissenschaft oder des ehelichen Zusammenlebens. Die Nazis verkauften ihre Ideologie als neue Religion und inszenierten sie auch als solche. Als Schurken boten sich daher die Vertreter von Organisationen an, die ebenfalls in Fragen des Glaubens und der Moral die Zuständigkeit für sich beanspruchten. So konnte man die Konkurrenz desavouieren.

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

Eigentlich würde man erwarten, dass nach dem Lehrer der Pastor auftritt, den Koch beim Sterben des kleinen Marthelchens für überflüssig erklärt hat, weil das Kind auch ohne seinen Segen in den Himmel komme. Diesen Geistlichen Herrn aber werden wir nie zu sehen kriegen. Beim Christentum war besondere Vorsicht geboten, weil sich über Generationen hinweg gewachsene Bindungen nicht in einigen wenigen Jahren kappen ließen. Die Konfrontation der Wissenschaft mit der christlichen Religion findet statt, nur eben nicht zwischen Koch und dem Pastor, sondern zwischen Koch und fanatischen Sektierern. Dadurch sinkt das Risiko, dass sich ein signifikanter Teil der Zuschauer mit Kochs Gegnern identifiziert, und die Filmemacher können hoffen, dass der nur im Dialog erwähnte Pastor per Assoziation ebenfalls als Vertreter des Aberglaubens und nicht des Glaubens wahrgenommen wird, das Christentum mithin als ein Relikt einer dunklen, unaufgeklärten Vergangenheit. Die Nazis hatten es hingegen verstanden, sich als Vertreter des Fortschritts und der Modernität zu vermarkten und ihrer Ersatzreligion einen pseudowissenschaftlichen Anstrich zu geben.

"Licht und Luft und Sonnenschein/lass zum offnen Fenster rein", lautet die goldene Gesundheitsregel des Dr. Koch. Nichts davon gibt es in der Welt der christlichen Fundamentalisten, auch kein Bild des gnädigen Monarchen. Wenn wir zum ersten Mal den von Staatsschauspieler Bernhard Minetti verkörperten Sektenchef sehen sitzt er unter einem großen, grob gezimmerten Holzkreuz, das die Requisite so angebracht hat, dass es einen dunklen Schatten an die Wand wirft. Fritz Arno Wagner zeigt hier, dass er in der Weimarer Republik mit Murnau und Fritz Lang zusammengearbeitet hat und weiß, wie man das Licht setzt und durch harte Hell/Dunkel-Kontraste eine dämonische Stimmung erzeugt. Wagners Kamera fährt die Reihe der singenden Gesundbeter ab, die wirken wie Gestalten aus einem Zombiefilm und verharrt bei Minetti, der sich erhebt und den lieben Brüdern und Schwestern versichert, dass sie allein im Besitz der reinen Lehre seien. Die Maske hat ihm einen Bart angeklebt und ihn als Lenin-Doppelgänger zurechtgemacht. Er begrüßt nun das Ehepaar Göhrke, das den Tod eines Kindes zu beklagen habe, weil es statt auf die Gesundbeter auf einen "Menschenarzt" vertraut habe, "einen Menschenarzt, der seine sündige Weisheit für Wissenschaft ausgibt".

Was soll das heißen, "Menschenarzt"? Warum muss Minetti es zweimal sagen und den "Menschenarzt" dabei noch besonders betonen? Hätten die Göhrkes für ihre Tochter einen Tierarzt holen sollen? Da muss man erst mal nachdenken. Gemeint scheint zu sein, dass die Gesundbeter nur Gott als Arzt akzeptieren. Trotzdem wird man stutzig, wenn man die Euthanasieromane von Hellmuth Unger gelesen hat. Unger kombiniert "Mensch" gern mit anderen Substantiven, wenn es um sein Spezialthema geht, den "Gnadentod". Hat er hier seine Spur hinterlassen? In Heimkehr nach Insulinde wird Dr. Glen als "Menschenhelfer" aktiv, wenn er die tödliche Morphiuminjektion verabreicht. In Sendung und Gewissen gibt Dr. Terstegen dem blinden Jagdhund Pluto, einem "wahren Menschenhund", den Gnadenschuss, um sodann von seinen Patienten zu erzählen, denen er "den Gnadentod gewährt" habe, weil sein Berufsethos dies von ihm verlange. Was für Tiere recht ist, sagt der Roman, kann für leidende Menschen nur billig sein (in des Wortes doppelter Bedeutung - der Kostenfaktor war bei der Euthanasie im Nazireich ein gewichtiges Argument).

Aggression und Aberglauben

Der fanatische Sektenführer gerät schließlich außer Rand und Band. "Den leibhaftigen Satan habt ihr in euer Haus gelassen!", brüllt er die Göhrkes an. "Austreiben muss man ihn! Mit Feuer und Schwefel!" Der Waldhüter brüllt mit und will den Teufel aus seinem Haus werfen. Der Mob rennt in den Wald. Wir bleiben zurück und sehen das Kreuz und den dunklen Schatten, den es wirft. Steinhoff hat sich entschieden, von da auf eine Einstellung in der Hütte des Waldhüters zu überblenden. Durch die Überblendung beginnt die nächste Szene mit einem Bild, das die beiden nun aufeinander prallenden Welten zeigt. Die eine Welt ist die des Aberglaubens, symbolisiert durch das Kreuz des Christentums und den Schatten, den es auf die Menschen wirft. Die andere Welt, symbolisiert durch eine Petroleumlampe, bringt Licht ins Dunkel. Es ist das Licht des Fortschritts und der Wissenschaft. Im Schein der von Fritz gehaltenen Lampe seziert Koch das Marthelchen. Er entnimmt Lungengewebe und gibt es in ein Reagenzglas, lässt sich Nadel und Faden reichen. Beim Vernähen der Schnitte ist draußen der Gesang der Gesundbeter zu hören.

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

Im sicheren Bewusstsein ihrer Sendung macht die Führerfigur im NS-Film keine Kompromisse, ein Führer hat keine Angst vor der Konfrontation mit seinen Feinden, und charismatisch ist er natürlich auch. Andere würden schleunigst das Weite suchen, wenn der Mob kommt. Robert Koch desinfiziert erst mal seine Hände, knöpft sich das Jackett zu und sagt zu Fritz: "Aufhängen müsste man die Kerle. Ängstigen die Menschen mit ihrem Hokuspokus zu Tode." Kochs Ärger ist verständlich. Fanatiker machen den Leuten in Wollstein Angst, behindern die Wissenschaft und stören ihn bei der Sektion. Aber muss man sie gleich aufhängen, die Kerle? Was soll so ein Dialog in einem Arztfilm? Der Satz ist nicht einfach so dahingesagt. Er ist Teil einer Strategie der verbalen Radikalisierung. Durch eine aggressive, Feindbilder transportierende Sprache bereiteten die Nazis den Nährboden für ihre Ideologie auf. Je empfänglicher eine Gesellschaft für Vorurteile und Ausgrenzungsangebote ist (oder durch die permanente Wiederholung gemacht wird), umso wirkungsvoller ist das.

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

Es geht los mit einer Szene, in der Koch im Labor sitzt und Antwort auf die Frage seiner nicht an ihn glaubenden Frau gibt, ob er etwa mit seinem Mikroskop die Menschen retten könne? Durchaus, sagt der geniale Forscher: "Das ist die Hoffnung meines Lebens. Ja begreifst du denn nicht, Frau? Weshalb sitze ich denn hier Nächte und Nächte, am Mikroskop, weil ich endlich wissen will, was das ist, Tuberkulose. Junge blühende Menschen werden davon befallen, leiden, werden elend sterben. Warum? Wo steckt der Feind? Wie sieht er aus? Mit welchen Waffen kann ich ihn bekämpfen? Das muss ich wissen, das muss ich herauskriegen, dafür opfere ich meine Zeit, meine Kraft, meine Nerven …"

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

Wenn Koch von seiner Forschungsarbeit spricht könnte man meinen, man sei in einem Kriegsfilm gelandet. Dabei sind die Sprachebenen so austauschbar wie die Feindbilder. Handwerklich ist das sehr gut gemacht. Einmal ist der zu bekämpfende Feind der Tuberkuloseerreger. Dann sind die Gesundbeter die Feinde, weil sie Koch daran hindern wollen, befallenes Lungengewebe zu entnehmen und den Erreger unter dem Mikroskop aufzuspüren. Mag sein, dass der echte Robert Koch bei der Beschreibung seiner Tätigkeit so aggressiv von "Bazillen", "Erregern" und "Parasiten" sprach wie Jannings im Film. Im Dritten Reich waren das Schlüsselworte in biologistischen Sprachmustern, an deren gebetsmühlenartiger Wiederholung und Reduzierung auf scheinbar eindeutige Feindbilder sich sehr gut die Wechselwirkung zwischen einer Rhetorik der Gewalt und konkreten politischen Verhaltensweisen studieren lässt.

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