Emil und der Tuberkelbazillus

Seite 4: "Deutsche Medizin"

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Während Koch nach getaner Arbeit den Mantel anzieht dringt der Mob in das Haus ein. Göhrke bricht die Tür zum Sterbezimmer seiner Tochter auf. Auch die Schlüsselstellen des Films erkennt man daran, dass sie - leicht abgewandelt - wiederholt werden. Zuerst schließt sich Dr. Koch mit dem kleinen Mädchen ein, um die eine oder andere Art von Sterbehilfe zu leisten. Dann schließt er sich mit dem toten Kind ein, um die Leiche zu sezieren. Er handelt dabei als Arzt, als Wissenschaftler und - in seiner Funktion als Physikus - als Repräsentant des Staates. Beide Male verstehen der Waldhüter und seine Frau nicht, was eigentlich geschieht, weil der Film dem Marthelchen ein naives und nicht besonders helles Elternpaar beigegeben hat. Bevor Koch zur Sektion aufbricht will seine Gattin Emmy wissen, ob er die Eltern um Erlaubnis gebeten habe? Koch wirkt traurig. Für ihn ist die Frage ein weiterer Beweis dafür, dass seine Frau nicht an ihn glaubt. "Erlaubt?", gibt er zur Antwort. "Wenn ich darauf warten wollte? Du kennst doch die Menschen mit ihrem idiotischen Aberglauben." Die Botschaft ist klar: Wenn Koch den Göhrkes lang und breit erklären würde, was er zu tun gedenkt, und wenn er vorher ihr Einverständnis einholen würde, müsste das Mädchen unnötig leiden, und der Erreger würde nie gefunden werden. Also verfügt er über den Körper des kleinen Mädchens, wie er es für richtig hält.

In der Gesundheitspolitik leiteten die Nazis gleich nach der Machtübernahme einen Paradigmenwechsel ein, hin zu einer "Deutschen Medizin", in der sich der Schwerpunkt von der Behandlung der Kranken auf die kostengünstigere Prävention verlagerte. Die neue Politik stand unter dem Primat der Eugenik und der Rassenhygiene. Alle Maßnahmen sollten in erster Linie einem rassistisch und sozialhygienisch aufgeladenen Konzept von der Volksgesundheit dienen, nicht der Gesundheit des Individuums. Reichsärzteführer Wagner gab 1934 die Richtung vor, als er sagte, dass es "für jeden deutschen Arzt höchstes sittliches Gebot" sei, "dem Kranken und Schwachen zu helfen". Leider gab es zu "höchstes Gebot" eine Steigerung: "Noch höher steht uns völkisch bewußten Ärzten allerdings die Pflicht, die am ganzen Volkskörper zehrenden Schäden zu beseitigen."

Das "Recht des Menschen auf den eigenen Körper", so Wagner, sei ein "von den marxistischen Gesundheitspolitikern gebrauchtes Schlagwort", das "am besten Geist und Wert der Gesundheitspflege des liberalistischen Systems" kennzeichne. Robert Koch agiert wie einer, der Wagners Text gelesen und besagten "Geist und Wert" über Bord geworfen hat, weil er dem Volkskörper verpflichtet ist, nicht dem Körper eines kleinen Mädchens (oder den Gefühlen seiner Eltern). Es hat etwas Infames, wenn sich der Film das positive Image des Arztberufs zunutze macht, um für eine Politik zu werben, die dabei war, das ärztliche Berufsethos, dem dieses Image zu verdanken war, total umzukrempeln. Wer sich noch mehr gruseln möchte kann es mit der Lektüre der Reden und Aufrufe von Gerhard Wagner probieren, 1943 herausgegeben von Leonardo Conti, Wagners Nachfolger als Reichsärzteführer. Mich würde es nicht wundern, wenn einiges davon Dr. med. Hellmuth Unger geschrieben hätte, Wagners Pressereferent. Viele gesundheitspolitische Aspekte der NS-Ideologie, die man in den von Unger redigierten Ärzteblättern und in der Propagandazeitschrift Neues Volk findet, sind im Bekämpfer des Todes in eine Spielfilmhandlung verpackt.

Nun lässt sich schwer bestreiten, dass die Geschichte der modernen Medizin ohne die Leichenöffnung und die dabei gewonnen Erkenntnisse nicht zu erzählen ist. In christlichen Gesellschaften war die Sektion über Jahrhunderte hinweg ein Tabu. Viele Pioniere der Wissenschaft operierten darum außerhalb der Legalität, bis Ende des 18. Jahrhunderts ein sehr schmerzhafter, lang andauernder Prozess einsetzte, in dem darum gerungen wurde, ob und wie die Medizin mit den Leichen zu versorgen war, die sie für Forschung und Lehre brauchte. In Robert Koch wird aus der Sektion das Vehikel zum Transport einer Ideologie, in deren Zentrum der visionäre Führer steht, der seiner Zeit voraus ist und sich nicht an überkommene, von ihm als falsch erkannte Regeln halten kann. Zum Wohle der Gemeinschaft muss der Führer mitunter harte Entscheidungen treffen, ohne Rücksicht auf sich und andere (vor allem auf die anderen). Zur Erfüllung seiner Mission, sagt Koch einmal zu seiner Frau, würde er auch sie und die gemeinsame Tochter opfern. (Ärgere nur ich mich über Leute, die so etwas für sechsjährige Kinder freigeben?)

Unerschütterlicher Glaube

Mit frisch entnommenem Lungengewebe tritt Dr. Koch aus dem Zimmer mit der Leiche und tadelt den Waldhüter wie ein ungezogenes Kind: "Göhrke, was machen Sie denn?" Der schuldbewusste Göhrke (das ist der Mann, dessen Tochter der Held des Fortschritts gerade aufgeschnitten hat) kann Kochs Blick nicht standhalten und senkt die Augen. Der Sektenchef ist härter im Nehmen, Koch aber auch nicht gewachsen. "Wir sind gekommen, den Teufel auszutreiben", geifert der Gesundbeter. "Der einzige Teufel, der hier auszutreiben wäre, ist eure hirnverbrannte Dummheit", sagt Koch. "Sie versündigen sich an den Auserwählten des Herrn!", brüllt der Sektenführer. "Auserwählte des Herrn?", fragt Koch verächtlich. "Ein Krebsschaden seid ihr, den man ausbrennen sollte." Der Gesundbeter droht mit seinem Gott, und der Waldhüter will wissen, was der "Herr Doktor" mit seinem Marthelchen gemacht hat. "Gehen Sie zu ihr hinein, Göhrke", sagt der Herr Doktor milde. Die Göhrkes gehen in das Zimmer, und der Doktor hat einen letzten Satz für die Gesundbeter übrig: "Und ihr, habt Ehrfurcht vor dem Tode." Das hatten wir schon mal. In der ersten Marthelchen-Szene schickt Koch die Eltern in das Zimmer mit der Leiche ihres Kindes, das gerade einen schönen Tod gestorben ist. Frau Göhrke ermahnt er, nicht laut und hysterisch zu werden, denn: "Mit Toten muss man sanft umgehen, die wollen ihren Frieden haben." In der zweiten Marthelchen-Szene kommt er wieder, um das Mädchen zu sezieren. Dann schickt er die Eltern hinein zur frisch vernähten Leiche, als wäre damit alles gut. Die Dreistigkeit ist atemberaubend; die Kunstfertigkeit, mit der dieser Film das durchzieht, durchaus eindrucksvoll.

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

Was der Herr Doktor tut ist wohlgetan, weil er, die Führergestalt, im Besitz der einzig selig machenden Wahrheit ist. Man muss nur an ihn glauben wie sein Jünger Fritz von Hartwig, der Koch nun durch die Reihen der erstarrten, entgeistert dreinblickenden Gesundbeter folgt. "Das ist der Satan", schreit der Sektenführer Koch in seiner Impotenz hinterher. An den Satan glauben christliche Fanatiker (andere Christen gibt es in dem Film nicht), nicht das Licht des Fortschritts in die Welt bringende Wissenschaftler. Also folgt eine Laborszene, in der Koch Gewebeproben untersucht und ideologisch aufgeladene Wissenschaftssätze wie diese sagt: "Ein winziges Stück Lunge, zerstört von Tuberkulose. Hier liegt das Rätsel, das ich lösen will. Wenn diese Krankheit einen Erreger hat, so ist dieser Erreger ein Lebewesen so unvorstellbar klein, dass es selbst im Mikroskop von seiner Umgebung nicht zu unterscheiden ist. […] Nur wenn ich den Erreger im Gewebe färben kann, dann wird er sichtbar." Die Färbung ist "das Letzte und das Schwerste." Fritz stellt voll Erstaunen fest, dass das schon der 160. Versuch ist. "Der 161. Versuch mit Blau, mein Junge", korrigiert Dr. Koch. Nur mit Methylenblau. Die anderen Farbversuche, die gehen in die Tausende." Hier könnte man sich kurz fragen, woher Koch das Gewebe für seine Versuche hat. Wie legal oder illegal war die Beschaffung? Wie viele Göhrkes gibt es im Kreis Wollstein, dessen Amtsarzt unermüdlich den Tod bekämpft und dabei keine Opfer scheut?

Robert Koch, der Bekämpfer des Todes

Wir sind jetzt aber dazu aufgerufen, den schier "übermenschlichen Fleiß" (Fritz) des Dr. Koch zu bewundern. "Welch eine Unsumme von Arbeit", staunt der Assistent. Koch gibt ihm eine Weisheit für die Zukunft mit: "Du wirst nur soviel mehr im Leben sein, als du mehr arbeitest als andere Menschen." Fleißig kann letztlich jeder sein. Damit es an der Spitze kein Gedrängel gibt, braucht der Führer ein Alleinstellungsmerkmal. Er ist ein Genie, was aber nicht direkt gesagt wird, weil das die Bescheidenheit verbietet. Fritz formuliert es so: "Sie sprechen immer nur von Arbeit, von Ihrem großen Können sprechen Sie nicht." Man muss also einen übermenschlichen Fleiß haben, ein Genie muss man sein, und noch etwas gehört dazu, um ein echter Führer zu sein: "Ein Glaube, der unerschütterlich ist", sagt Dr. Koch. "Auch wenn die kleingläubigen Seelen um uns herum uns nicht verstehen können oder, was noch schlimmer ist, uns nicht verstehen wollen." Wer inzwischen unter den ewigen Glaubensbekenntnissen stöhnt: Der Überdruss kommt von der Häufung, für die ich mich hier entschieden habe. Im Film ist der Glaube an den Führer geschickt verteilt.

Gediegene Darstellung

Von seiner Umgebung nicht zu unterscheiden ist er also, der Erreger. Da könnte einem der "getarnte Jude" einfallen, das liebste Feindbild der NS-Propaganda. Das Zerrbild vom "Juden", der als Parasit einen Wirtskörper sucht, Völker wie das deutsche befällt und zerstört wie der Tuberkuloseerreger die Lunge des kleinen Marthelchens wurde dem Publikum im Dritten Reich als Antwort auf die Frage präsentiert, wer für das Böse auf der Welt verantwortlich und zu bekämpfen war. Dabei muss es nicht unbedingt der Jude sein. Das Wort "Erreger" ist ein Platzhalter für gerade aktuelle Feindbilder. Robert Koch, der Bekämpfer des Todes erreicht dadurch eine gruselige Form der Zeitlosigkeit. Am Tod und am Zerfall eines Körpers, eines Staates oder einer Gesellschaft kann in diesem Szenario der eine Feind genauso schuld sein wie der andere.

Das Wort "Jude" kommt im Dialog des Films nicht vor. 1939 war das auch nicht nötig. Im NS-Staat wurde so intensiv und flächendeckend gegen die Juden gehetzt, dass ein durchschnittlicher Zuschauer vermutlich nicht viel Phantasie brauchte, um die Verbindung herzustellen. Genau so war es von Goebbels gewünscht. In den Köpfen des Publikums sollten sich Assoziationen einstellen, die suggeriert und nicht ausbuchstabiert wurden, weil das die Wirkung steigerte. Junge Menschen schauen zu einer großen deutschen Forscherpersönlichkeit auf. Die Kräfte des Aberglaubens und des Ewiggestrigen müssen überwunden werden, damit die jungen Menschen nicht an einer schrecklichen Krankheit sterben. Durch Fleiß und harte Arbeit kommt man voran. Das waren die Gleitmittel, mit deren Hilfe dem Publikum die Propaganda eingeführt wurde.

Die Anziehungskraft der von Robert Koch propagierten Tugenden überdauerte die Naziherrschaft. Anfang der 1950er, als die FSK eine damals noch gekürzte Fassung des Films freigegeben hatte, wurden spezielle Vorstellungen für die deutsche Jugend angesetzt. Der Evangelische Filmbeobachter (7.2.1952) lobte, dass der Bekämpfer des Todes "zu jenen Werken" gehöre, "die in gediegener Gestaltung unter absolutem Vorrang der Einzeldarstellung großer Schauspieler eine Fülle von lebendigen historischen Überlieferungen eindrücklich rekonstruiert haben. Besonders für Jugendliche sind diese Filme unentbehrlich und zusammen mit einer sachlichen Auswertung und Ergänzung im Gespräch sind sie Bildungsmaterial von höchstem Wert. Erwachsene und Jugendliche ab 12 oder 13 sehen den Film mit Gewinn." Fragt sich nur: Mit welchem und für wen? Bei der sachlichen Auswertung ließ sich immerhin ergänzen, dass man trotz gegenteiliger Behauptungen des Dr. Koch doch einen Pastor brauchte, um in den Himmel zu kommen und nicht alle Christen Fanatiker in Leninmaske sind. Das verlangte schon der Gedanke an die künftigen Einnahmen durch die Kirchensteuer.

Mit welchem "Gewinn" sah man Robert Koch im Dritten Reich? Die Leute kamen sicher nicht mit dem Gefühl aus dem Kino, jetzt die Juden vernichten zu müssen wie vielleicht bei Jud Süß. Aber ihnen wurde das Bild einer Welt vermittelt, in der man entweder zu den Bösen gehört oder einem Führer folgt, an dessen Person und Mission man glauben muss, auch wenn man nicht alles davon versteht - einem Führer, der gegen menschliche Feinde kämpft und gegen Lebewesen, die sich im (Volks-)Körper einnisten und von ihrer Umgebung so schwer zu unterscheiden sind, dass man sie erst aufspüren und enttarnen muss, ehe man ihrem tödlichen Treiben wirkungsvoll begegnen kann. Auf diese Weise grub sich etwas in das Unbewusste ein, wurde ein Fundament gelegt, auf dem ein Film wie Jud Süß, der die Bazillen durch Juden ersetzt, weiter bauen konnte. So stelle ich es mir zumindest vor. Wie es genau war, wird sich nicht mehr in Erfahrung bringen lassen. Man kann nur spekulieren und versuchen, die Spekulationen durch historische Quellen abzustützen.

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