Ende der Sowjetunion: Mythen und Fakten
Am 26. Dezember 1991 löste sich die Sowjetunion auf. Der Vorgang gilt heute als logische Konsequenz mehrerer Entwicklungen. Was wirklich zum Ende der UdSSR führte, überrascht.
Der sich abzeichnende Zerfall der Sowjetunion wurde am 8. Dezember 1991 konkret, als in einem aus heutiger Sicht überraschenden Bündnis die Präsidenten von Russland, der Ukraine und Belarus gemeinsam vereinbarten, dass die Sowjetunion als völkerrechtliches Subjekt nicht mehr existieren würde.
Am 21. Dezember beschlossen dann Staatsoberhäupter von elf Sowjetrepubliken, dass die Existenz der Sowjetunion beendet sei, und gründeten am selben Tag die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Vier Tage später, am 25. Dezember, erklärte dann der Staatspräsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow seinen Rücktritt.
Am Abend wurde in Moskau über dem Kreml symbolträchtig die sowjetische Fahne eingeholt und durch die russische Flagge ersetzt. Am folgenden Tag beschloss der Oberste Sowjet schließlich die Auflösung der Sowjetunion.
Gründe und Hintergründe
Oftmals wird heute im Westen vom "Zusammenbruch der Sowjetunion" gesprochen, der allgemein als logisch, zwangsläufig und unvermeidlich angesehen wird, als etwas zu Selbstverständliches, das keiner weiteren Untersuchung bedarf.
Hatte nicht der Kampf des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan gegen das "Reich des Bösen", das Wettrüsten und der Nato-Doppelbeschluss den Feind des Kalten Krieges in die Knie gezwungen?
Belegte nicht der Kollaps der Wirtschaft und die Auflösung der UdSSR das Scheitern des Kommunismus, den Sieg des Kapitalismus, der USA? Und nicht zuletzt: Hatten nicht die zahlreichen nationalen Unabhängigkeitsbewegungen zur Implosion des 120-Ethnien-Staates geführt?
Geschichte im Rückspiegel
Vorab fällt bei all den genannten und bekannten Erklärungen auf, das sie ein wunderbares Beispiel für das immer wieder anzutreffende Motiv sind, bedeutende historische Ereignisse als eine logische Folge dieser oder jener Ursache zu interpretieren.
Obwohl kaum jemand auch nur wenige Monate vor dem Ende der UdSSR eben dieses vorausgesagt hatte, standen nach dem Eintreten des Ereignisses zahllose Experten Schlange, die eloquent eine mehr oder minder zwingende Kausalkette aufzeigten, die zur Auflösung des Landes am 26. Dezember 1991 geführt haben soll.
Vladislav Zubok, der seit Jahren als Professor für Internationale Geschichte an der London School of Economics lehrt, schöpft in seinem aktuellen Buch "Collapse", das leider bisher nicht ins Deutsche übersetzt ist, aus dem reichen Fundus einer extrem umfangreichen 30 Jahre dauernden Recherche und dekonstruiert zahlreiche Mythen über das Ende der Sowjetunion.
Damit der Umfang dieses Artikels nicht gesprengt wird, werden im Folgenden jeweils die entscheidenden Schlussfolgerungen Zuboks als Diskussionsanregung präsentiert.
Wettrüsten
Das öfter zu hörende Argument, das Wettrüsten zwischen USA und UdSSR, das Ronald Reagan vehement vorangetrieben hatte, habe Schritt für Schritt die Sowjetunion wirtschaftlich entkräftet und sei somit das entscheidende Mittel im Kampf des Kalten Krieges gewesen, um Frieden zu schaffen, hält Zubok zufolge einer detaillierten Überprüfung nicht stand:
Entgegen der alten Darstellung haben die Offensive von Ronald Reagan, der Druck des Kalten Krieges und die unbezahlbaren Kosten der Verteidigungsausgaben die sowjetische Führung nicht zu Reformen gedrängt; die Einsicht in deren Notwendigkeit datiert aus den frühen 1960er Jahren. Die westliche Macht wuchs entsprechend mit den Phasen der sowjetischen Krise und des Untergangs.
Als die Reformen zu scheitern begannen und das Parteiregime zerfiel, wuchs diese Macht enorm. Ende 1988 knüpften Gorbatschow, Schewardnadse und ihre Entourage wieder an die alte russische Tradition an, den Westen als Partner in einem grandiosen Projekt zu sehen – diesmal der Modernisierung der Sowjetunion.
Die innenpolitischen Probleme der Sowjetunion und der plötzliche Zusammenbruch der kommunistischen Regime Osteuropas führten 1989 dazu, dass Gorbatschow seine Rolle als Architekt einer neuen internationalen Ordnung mit der Notwendigkeit verband, um ausländische Kredite und Hilfe zu bitten.
Gleichzeitig wurde der Westen für viele in der russischen Opposition zu einem Modell der "Normalität", in dessen Namen sie das sowjetische System und den Staat zerschlagen wollten. Und Ende 1990 begannen selbst die konservativsten und geheimnisumwitterten Teile der sowjetischen Eliten, den Westen um Hilfe für ihre Reformen und ihr Überleben zu bitten. Im Sommer 1991 wurde die Erwartung eines neuen Marshallplans unter den sowjetischen Eliten fast allgemein.
Scheitern der kommunistischen Wirtschaft
Auch die weitverbreitete These, der Kapitalismus habe sich schlicht als das überlegene Wirtschaftssystem erwiesen, sodass logischerweise das kommunistische Pendant die weiße Fahne hissen musste, findet sich durch Zuboks Untersuchung nicht bestätigt.
Es waren vielmehr gerade die Art der Wirtschaftsreformen in der UdSSR, die zum Ende führten: "In den 1980er-Jahren leitete die sowjetische Führung unter Michail Gorbatschow nach fünfzehn Jahren des Widerstands gegen jegliche Reformen wirtschaftliche und politische Veränderungen von großem Ausmaß ein.
Die Ideen und Entwürfe, die diesen Reformen zugrunde lagen, waren jedoch verhängnisvollerweise veraltet, wirtschaftlich fehlerhaft und führten zur Zerstörung der bestehenden Wirtschaft und des Gemeinwesens von innen heraus.
Die Architekten der Reformen, allen voran Michail Gorbatschow, waren nicht in der Lage, ihr Scheitern zu erkennen und ihren Kurs zu ändern. Gleichzeitig ermöglichten sie es neuen Akteuren, aus den Trümmern des alten Systems hervorzugehen, die das Chaos erben sollten."
Gorbatschow
Der letzte Generalsekretär der KPdSU und erste Staatspräsident der Sowjetunion ist im Westen – und natürlich gerade in Deutschland – aufgrund seiner historischen Leistung ein Held, vermutlich sogar die entscheidende Person bei der Ermöglichung der Deutschen Wiedervereinigung und der friedlichen Beilegung des Kalten Krieges, die in Moskau und nicht in Washington eingeleitet wurde (man erinnert sich vielleicht noch, dass anfangs im Westen Gorbatschows Abrüstungsvorschläge mit Misstrauen begegnet wurde und Helmut Kohl 1986 dessen Reformanstrengungen gar mit der Nazi-Propaganda von Goebbels verglich.)
Zuboks Recherche führt ihn zum Ergebnis, dass Gorbatschow geradezu eine tragische Persönlichkeit ist:
Gorbatschows Führung, sein Charakter und seine Überzeugungen trugen wesentlich zur Selbstzerstörung der Sowjetunion bei. Er verband ideologischen Reformeifer mit politischer Zaghaftigkeit, schematischen Messianismus mit praktischer Abgehobenheit, visionäre und atemberaubende Außenpolitik mit der Unfähigkeit, entscheidende innenpolitische Reformen zu fördern. Diese Eigenschaften machten ihn einzigartig in der sowjetischen Geschichte. Seine Abneigung gegen Zwang und Gewalt war jedoch typisch für seine Generation und wurde von vielen, selbst von Konservativen, geteilt.
Nationalitätsfrage
Eine weitere weitverbreitete Überzeugung der Erklärung des Endes der Sowjetunion besteht darin, dass die Reformpolitik Gorbatschows den Unabhängigkeitsbestrebungen der 120 Ethnien Raum und Luft zum Atmen gegeben habe, die dann Schritt für Schritt zu zahlreichen Unabhängigkeitserklärungen ehemaliger Sowjetrepubliken und damit zum Ende der UdSSR führten.
Zubok kommt zu einem anderen Schluss:
Es war jedoch die Schwäche der Kremlführung, nicht die Stärke der "russischen Opposition", die der Hauptfaktor der Systemkrise war, die das Land auseinander riss. Im März 1991 waren etwa 20 Prozent der Menschen in den Kernrepubliken der Union der Meinung, dass es besser wäre, in getrennten Republiken als in einem gemeinsamen Staat zu leben.
Diese Minderheit wurde im August zur Mehrheit, am deutlichsten in der Ukraine, aber auch in der Russischen Föderation. Dies war in erster Linie nicht das Ergebnis eines plötzlichen nationalen Erwachens. Vielmehr war es eine Entscheidung für Recht und Ordnung, eine Distanzierung von der grotesken Unfähigkeit der zentralen Behörden und dem Vakuum der Zentralmacht.
Wie ein junger Wissenschaftler es ausdrückte, war nach dem August 1991 "der Zusammenbruch der Hierarchie nicht die Folge eines umfassenderen "Zusammenbruchs" des sowjetischen Systems, sondern stellte vielmehr den systemischen Zusammenbruch selbst dar.
In einfachen Worten ausgedrückt, wurde das sowjetische System weitgehend durch das interne Tauziehen demontiert und zerstückelt.
Blick nach Westen
Ein für Zubok wichtiger Aspekt findet bei der retroperspektiven Erklärung des nahezu friedlichen Zusammenbruchs einer Weltmacht meist keine Berücksichtigung:
Mit atemberaubender Naivität, so unglaublich es vielen damals und später auch erschien, wollten die russischen Führer vom Westen anerkannt, legitimiert, angenommen und integriert werden. Ohne solche Erwartungen, die einer ideologischen Revolution gleichkamen, kann man die Geschichte der Implosion der Sowjetunion von innen heraus nicht verstehen.
Sieg des Westens
Der damalige US-Präsident George W. Bush hatte sich lange – was heute häufig übersehen wird – geweigert, an Diskussionen über einen Sieg des Westens über den ehemaligen Feind zu beteiligen. Im Wahljahr 1992 sprach er aber aus, was die felsenfeste Überzeugung der meisten Menschen im Westen war, und verkündete:
Das größte Ereignis, das in meinem Leben, in unserem Leben, in der Welt geschehen ist, ist dies: Durch die Gnade Gottes hat Amerika den Kalten Krieg gewonnen.
Diese Gewissheit war Zubok zufolge hochgradig problematisch. Er schreibt:
Im Westen wurde der Zusammenbruch der Sowjetunion mit dem glücklichen Ende des Kalten Krieges, dem Sieg über den Kommunismus, dem Triumph liberaler Werte und der Erwartung ewigen Friedens und Wohlstands gleichgesetzt. Vor allem herrschte große Erleichterung darüber, dass der geopolitische Rivale und militarisierte Riese verschwunden war.
Die Auflösung der Sowjetunion, so schrieb der Historiker Odd Arne Westad viele Jahre später "beseitigte das letzte Überbleibsel des Kalten Krieges als internationales System".
So viel zu Gorbatschows Bemühungen, das Image der Sowjetunion zu verändern! Unter den westlichen Staats- und Regierungschefs fehlten der politische Wille und die Vorstellungskraft, die beispiellose und historische Chance zur Konsolidierung der Demokratie in Russland zu ergreifen.
Die weit verbreitete Ansicht war, dass der postsowjetische Raum zu groß und unberechenbar für eine Integration in die westliche Umlaufbahn sei. Es war realistischer und pragmatischer, die niedrig hängenden Früchte des Sieges über den Kalten Krieg zu pflücken, vor allem in Osteuropa und im Baltikum.
Verpasste Chance?
Hieraus ergibt sich für Zubok eine grundlegende Frage: Inwiefern wurde mit dem Ende des Kalten Krieges eine historisch einmalige Gelegenheit vertan? Oder mit anderen Worten: Warum blieb dieser Frieden nicht von längerer Dauer? Der Frieden nach dem Ende des Kalten Krieges, der für eine kurze Zeit gar das Ende der Kriege an sich nicht mehr vollkommen utopisch, sondern vielmehr zum Greifen nah erscheinen ließ:
Hätte der von den USA geführte Westen versucht, die Sowjetunion zu "bewahren", hätte es eine Chance zum Überleben gegeben. Aber der Westen investierte nicht in die kollabierende Sowjetunion, und viele in Washington wollten sie aus Sicherheitsgründen auflösen.
Westliche Führer, Experten und Meinungsmacher konnten nicht begreifen, wie ihre sowjetischen Gegner plötzlich zu eifrigen Partnern und sogar zu Bittstellern werden konnten. Nach jahrzehntelanger Rivalität im Kalten Krieg betrachteten die Amerikaner das interne sowjetische Tauziehen weiterhin durch eine binäre Brille: "Kommunisten" gegen "Demokraten", "Reformer" gegen "Hardliner" und so weiter. Nur wenige Experten hatten das Wissen und die Geduld, die Nuancen zu erkennen.
Der Kongress, Think Tanks und viele Mitglieder der Bush-Administration behandelten die Sowjetunion weiterhin als ein "böses Imperium", das nicht reformiert werden konnte. Die osteuropäische und baltische Diaspora, die republikanische Rechte und die liberalen Demokraten mussten ihren Brüdern und Freunden in der Sowjetunion helfen; sie setzten sich für Antikommunismus und Separatismus ein.
Die Bush-Regierung zog es aufgrund ihrer Unsicherheit vor, sich von der sowjetischen Politik und den Reformen fernzuhalten. Doch innenpolitische Lobbyarbeit, die nationale Sicherheit und die schiere Intensität des revolutionären Wandels zwangen die US-Politiker dazu, Partei zu ergreifen.
Unabhängig davon, ob Bush und seine Leute daran teilnehmen wollten oder nicht, blickten alle Akteure des sowjetischen Dramas, von den baltischen Nationalisten bis zu den Mitgliedern der Junta, auf "Amerika" als entscheidenden Faktor, der ihr Verhalten und ihre Entscheidungen beeinflusste."
Folgen verzerrter Überzeugungen
Für Zubok ist die heutige Situation, die Lage in Russland, der Ukraine-Krieg, nicht ohne eine vorurteilsfreie Untersuchung des Endes der UdSSR, wirklich verständlich:
Putins Russland wurde im Westen als eine untergehende, aber revisionistische und gefährliche Macht abgetan. Westliche Kommentatoren begannen zunehmend, über ein "ewiges Russland" zu schreiben. Ein oberflächliches Bild eines Landes, das nie europäisch war oder eine "wahre" Demokratie erlebt hat, das für immer im Despotismus verhaftet blieb und seinen Nachbarn gegenüber immer feindlich eingestellt war.
Ich hoffe, dieses Buch zeigt, dass diese Sichtweise falsch ist. Es ist nicht die Schuld vieler Russen, dass der Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus in ihnen die Sehnsucht nach einer stabilen, starken Staatlichkeit geweckt hat und sie den Slogans von Freiheit und liberaler Demokratie eher skeptisch gegenüberstehen.
Die wirtschaftliche Katastrophe und die sozialen Traumata des Zusammenbruchs der Sowjetunion erklären nicht, geschweige denn rechtfertigen, was viele Jahre später geschah. Sie weisen jedoch auf die Möglichkeit großer Umschwünge und historischer Überraschungen zehn oder zwanzig Jahre später hin.