Ende der Toleranz

Die Idee vom Kampf der Kulturen erhält durch neue islamistische Terroranschläge und neue westliche Selbstverortungen Nahrung. Macht sie Sinn?

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Der TV-Produzent M. Walid Nakschbandi stammt aus Afghanistan und lebt in Deutschland. Er ist Muslim, aber alles andere als froh mit seinem Glauben - zu oft wird seiner Meinung nach der Islam seit einiger Zeit für Dinge missbraucht, die er verabscheut. So hat er diesem Unbehagen Gehör verschafft.

In einem ebenso prägnanten wie kurzen Text, der im Berliner Tagesspiegel und im Hamburger Spiegel veröffentlicht wurde, klagt er sowohl seine eigene religiöse Community als auch die Bevölkerung in Deutschland an: erstere, weil sie zu erheblichen Teilen immer weiter in einen fanatischen religiösen Gewaltkult abzurutschen droht. Letztere, weil sie das nicht sehen will.

Der islamistische Fanatismus, sagt Nakschbandi, ist heute genau so sehr in Frankfurt und Hamburg daheim wie in Riad, Algier oder Kabul, "ein Blick in eine Moschee in Köln-Mülheim, Berlin Neukölln oder Hamburg-Altona beim Freitagsgebet" sei dafür Bestätigung genug. Viele der in Deutschland lebenden Muslime freuten sich über Massaker wie 9-11 und die jüngsten Madrider Anschläge, und es gelte, dieser Bedrohung endlich ins Auge zu blicken.

Es ist ja viel Wahres an diesem Text. In gewisser Weise stellt er eine Ergänzung zu Aussagen Nakschbandis vom September 2000 dar, als er die Deutschen in einem anderen Zusammenhang der Augenwischerei beschuldigte - sie seien nicht in der Lage, die transformierende Kraft der Tatsache zu verstehen, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei ("Weltmeister der Augenwischerei", Süddeutsche Zeitung 19.09.2000).

Außerdem kritisierte er das fruchtlose staatliche Getue zur Eindämmung des Rechtsextremismus im Sommer 2000, das hauptsächlich aus Proklamationen bestand. Und es stimmte: Der kurze "Sommer der Staatsantifa" war ein Flop - wie soll das auch anders sein, wenn die Parole "Nazis morden, der Staat schiebt ab" immer noch jede Berechtigung hat? Heute diagnostiziert er zu Recht, dass die politische Klasse und ein Großteil der Deutschen den Islamismus nicht wahr haben wollen, der in Deutschland nahezu ungehindert seine Geschäfte betreibt.

Auch eine gemeinsame Ursache für beide Fälle von Augenwischerei identifiziert Nakschbandi richtig: Die Schülertugend einer unreflektierten, begriffs- und unterschiedslosen politischen Korrektheit hat damals zu Demonstrationen geführt, bei denen sich sogar die CDU antirassistisch positionierte, heute verdrängt sie im Namen der "Toleranz", dass "Kindern in Hamburg oder in Kalifornien eine fanatischere und intolerantere Version des Islams gelehrt wird, als irgendwo sonst in der islamischen Welt außer in Saudi-Arabien", so das Zitat von Bernard Lewis, einem amerikanischen Islamwissenschaftler.

Politischer Weckruf

Nakschbandi schlägt zu Recht Alarm. So wie die Antideutschen, wenn sie mit ihrer Rede vom "Islamfaschismus" meinen, dass es strukturelle, personelle und ideologische Gemeinsamkeiten des Islamismus mit dem Faschismus gibt - und das schon seit den Tagen des Mufti von Jerusalem. So wie Henryk M. Broder, wenn er sagt, dass der Westen die Parole "Wir lieben den Tod, ihr liebt das Leben!" ernst nehmen sollte, denn sie sei wörtlich gemeint.

Aber Nakschbandis "politischer Weckruf" hat auch ein paar deutliche Mängel. Zwar ist es gut, wenn er implizit die taktische Unterscheidung zurückweist, die George W. Bush in seiner berühmten Rede vom 21.9.2001 traf: die nämlich zwischen den braven, nachbarschaftskompatiblen Muslimen "in the hood" und den bösen Terroristen da draußen. Aber Nakschbandi kritisiert diese feinsäuberliche Trennung nicht deutlich genug. Wer wissen will, was der Islamismus vom Islam hat, muss nur den Koran lesen. Es finden sich in ihm genug Hinweise, dass eben nicht die liberalen Muslime ihn "richtig" interpretieren, sondern die Fundamentalisten.

So gesehen (und man kann es gut so sehen, das ist hier der Punkt), ist der Koran ein furchtbares Buch. Das sind z.B. die Bibel oder das tibetanische Totenbuch auch, aber die Bibel ist im Westen durch die Gewalt der Aufklärung gebändigt, das tibetanische Totenbuch in Tibet eher durch bloße Gewalt.

Schönwetterideale

Wenn Nakschbandi ausruft: "Sie [die Islamisten, MH] wollen unsere Ideale zerstören!", dann ist zu fragen, welche das sind und in wessen Namen er hier spricht. Handelt es sich um die Ideale der abendländischen Aufklärung? Dann muss festgestellt werden, dass wir es dabei offensichtlich mit Schönwetteridealen zu tun haben, die von den Institutionen und Staaten, die sie angeblich garantieren, bedenkenlos storniert werden, wann immer es opportun scheint. Der "Westen" hatte noch nie Nachhilfeunterricht in Barbarei nötig, Ideale hin oder her. Ein Blick in die Abschiebeknäste Deutschlands belegt das. Das Hochhalten fakultativer Ideale dient in diesem Zusammenhang bestenfalls der Selbststilisierung.

Noch weniger sinnvoll wäre es, auf das christliche Europa als Gegenpol zum islamistischen Fundamentalismus zu rekurrieren. Wie gesagt, die Bibel ist gebändigt, aber es gibt nicht die geringste Garantie dafür, dass das Christentum sich wesentlich von den Taliban unterscheiden würde, wenn seine Funktionäre könnten, wie sie wollten.

Und einen Grund, weswegen sein "Weckruf" wahrscheinlich niemand wecken wird, übersieht Nakschbali geflissentlich: den tiefsitzenden europäischen Antisemitismus. Im abgestuften System der Rassismen, das im Seelenhaushalt Europas eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, hat der Islam oder der "Araber" eine besondere Stellung - man mag sie nicht, die muslimischen Heiden, schon seit Tours und Poitiers, den Assassinen und den Türken vor Wien. Aber dass sie die Juden nicht mögen, dass sie heute den "Zionismus bekämpfen", dafür ist man ihnen schon fast wieder dankbar. Diese Dankbarkeit drückt sich in vielem aus, von den speziellen Beziehungen Deutschlands zum "arabischen Raum", bis zu der Subventionierung antisemitischer Schulbücher in palästinensischen Schulen durch die EU. Von den Philosemiten, die in ihrer Mehrzahl genau das labberige Toleranzideal vertreten, das Nakschbandi krisitiert, ist sowieso keine klare Grenzziehung gegenüber dem politischen Islam zu erwarten.

Statt billiger Toleranz Religions- und Aufklärungskritik

Die falsche Toleranz, die hauptsächlich auf Gleichgültigkeit und Uninformiertheit beruht und über die die Intoleranten am lautesten lachen, sollte also so schnell wie möglich aufgegeben werden. Aber es macht nicht den geringsten Sinn, sie durch einen idiotischen Kampf der Kulturen zu ersetzen.

Statt dessen wäre wichtig: eine wirksame Religionskritik, die darauf besteht, dass Spiritualität Privatsache ist, und die Religionen in Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Macht- und Gewaltverhältnissen betrachtet, mit denen sie in Wechselwirkung stehen - also die Säkularisierung auch des Westens im Auge behält.

Eine Aufklärungskritik, die die "westlichen Ideale" beim Wort nimmt und ernsthaft nach der Gesellschaft fragt, in denen sie wirklich stattfinden können. Eine Islamkritik, die in ihrer Wucht jenem Text namens "Against the Dictatorship of Allah" gleichkommt, einem Dokument von 1978 (!), in dem sich exilierte pakistanische Surrealisten unmissverständlich zu ihrer Herkunftskultur äußerten. Mit einem Wort, einen entschlossenen Angriff auf die verblödeten Alternativen, die uns tagtäglich von den Medien vorgesetzt werden, damit wir nicht an Alternativen denken.

Walid Nakschbandis "Weckruf", so wie er ist, bleibt ein Teil des Verblödungsprozesses, ob er will oder nicht. Zum Glück leben wir (noch) in einer Gesellschaft, in der wir schlauer sein können als sein Text. Nutzen wir die Chance.