Energiekrise: Deutschland droht zum Schlusslicht in Europa zu werden
OECD-Studie zeigt: Hohe Energiepreise treffen Deutschland im europäischen Vergleich besonders hart. Mit prekärer Energieversorgung ist auch im nächsten Jahr zu rechnen. Wird Deutschland zum kranken Mann Europas?
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) versucht, den Menschen in Deutschland Zuversicht zu geben. Gestern sagte er: Das Land könne die Energiekrise im Winter überstehen, wenn Unternehmen und Haushalte an einem Strang zögen.
Auf absehbare Zeit sei nicht mit Energielieferungen aus Russland zu rechnen, so Scholz; aber die Situation sei beherrschbar. Schließlich sei das Ziel fast erreicht, die Gasspeicher noch vor dem Einbruch des Winters zu 95 Prozent zu befüllen.
Im europäischen Vergleich steht die Bundesrepublik damit noch gut da, denn auf dem Kontinent wird es voraussichtlich Gasmangel geben. In diesem Jahr stehen auf dem Kontinent etwa 15 Prozent weniger Gas zur Verfügung, als für einen durchschnittlichen Winter benötigt werden, berichtete Reuters am Dienstag. Ohne den Verbrauch zu drosseln, könnten Stromausfälle und Rationierungen drohen.
Die fehlenden Gaslieferungen über die Nord-Stream-Pipelines haben große Lücken bei der Versorgung des Kontinents hinterlassen, auch wenn bereits Erdgas aus anderen Quellen geliefert wird.
Die Situation könnte sich noch verschlimmern, wenn der Streit zwischen dem russischen Energieriesen Gazprom und dem ukrainischen Pipeline-Betreiber Naftogaz eskaliert. Die russische Seite hatte damit gedroht, Naftogaz mit Sanktionen zu belegen, was auch die Gaslieferungen über die Ukraine beenden würde.
Fehlendes Erdgas aus Russland kann nicht komplett ersetzt werden
Die europäischen Länder haben zwar ihre Importe von Flüssiggas (LNG) erhöht und haben auch die notwendige Infrastruktur ausgebaut, doch nun müssen sich die Europäer auf dem Weltmarkt behaupten.
Und hier könnte die Konkurrenz größer werden, heißt es bei Reuters, wenn das als La Nina bekannte Wetterphänomen die asiatische Nachfrage wieder ansteigen lässt. Unweigerlich würden dadurch die Preise zulegen. Verschärft werden dürfte diese Entwicklung, wenn auch in China die Wirtschaft wieder Fahrt aufnimmt, die durch die restriktive Coronapolitik in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Bislang können die zusätzlichen Lieferungen aus anderen Ländern nicht die weggebrochenen Gasimporte aus Russland ersetzen. Über die Leitung in der Ukraine kommen aktuell rund 86 Millionen Kubikmeter pro Tag. Im letzten Jahr lieferte Russland im Schnitt 360 Millionen Kubikmeter pro Tag nach Nordwesteuropa. Das entspricht einem Rückgang von 76 Prozent, sagten Analysten der Bernstein Group gegenüber Reuters.
Bleibe das Angebot auf diesem Niveau, dann stehe Europa vor einem Defizit von 155 Millionen Kubikmetern pro Tag, erklärten die Analysten weiter.
Die EU-Länder haben zwar vereinbart, den Energieverbrauch um bis zu 15 Prozent zu senken; aber das hilft nur über den Winter. Im kommenden Jahr könnten die Versorgungsprobleme zunehmen, worauf auch der Vorsitzende der Internationalen Energie-Agentur (IEA), Fatih Birol, in einem aktuellen Interview mit der italienischen Zeitung La Repubblica hinwies.
Nach Schätzungen der IEA werden die europäischen Lagerbestände bis Februar 2023 von 90 Prozent auf etwa 20 Prozent absinken. Um über den nächsten Winter zu kommen, müssten die Speicher wieder aufgefüllt werden; aber unklar sei, wie das geschafft werden solle.
Birol betonte, dass in diesem Jahr noch aus Russland kommendes Gas geholfen habe. Unterstützend kam auch hinzu, dass sich Chinas Wirtschaft in einem Abschwung befand und somit LNG-Mengen frei wurden. Im nächsten Jahr könnte sich das wieder ändern.
OECD: Deutschland wird zum kranken Mann Europas
Für Deutschland können hohe Energiepreise zum ernsten Problem werden. Die Industrie sorgte bislang für hohe Einkommen und machte Deutschland zur Exportnation. Billige Energie aus Russland war der Garant für den deutschen Erfolg. Das ändert sich mit hohen Energiepreisen, wie eine aktuelle Analyse der OECD zeigt.
Die Analyse der OECD ist eindeutig: Deutschland – lange Zeit Europas Wachstumsmotor und Stabilitätsanker – fällt zurück. Nicht nur ein bisschen, sondern bis ans Ende der großen Industrie- und Schwellenländer. 2023 werde Deutschland das Land mit der tiefsten Rezession und der höchsten Inflation.
Business Insider
Deutschland steht vor radikalen Veränderungen, heißt es bei Business Insider. Ein Ökonom der Deutschen Bank wird mit den Worten zitiert:
Wenn wir in etwa zehn Jahren auf die aktuelle Energiekrise zurückblicken werden, könnten wir diese Zeit als Ausgangspunkt für eine beschleunigte Deindustrialisierung in Deutschland betrachten.
Die aktuelle Gaskrise könne der "strukturelle Gamechanger für den Industriestandort Deutschland sein" und für sein exportorientiertes Geschäftsmodell. Die Wucht der steigenden Energiepreise treffe nicht nur energieintensive Großindustrien, sie bedrohe auch tausende mittelständische Betriebe, die nur überleben können, wenn sie die steigenden Preise auch weitergeben können.
Das macht noch einmal deutlich: Deutschland befindet sich in einer Sackgasse. Denn die Verluste an Wohlstand lassen sich nicht dauerhaft über Entlastungspakete vom Staat kompensieren.
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