Engine of Justice

Vom Telepolis-Forum schnurstracks in die Hauptverhandlung

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Karl Kraus rotiert mit wutlodernder Fackel im Grab, Peter Panther kratzt gegen den vermoderten Sargdeckel und auch in der Gruft von Alfred Polgar ist leises Wimmern zu vernehmen. Wie konnte es nur dazu kommen?

Harald Neuber berichtete in Telepolis über das ungeklärte Massaker in Masar-i-Scharif (Das Massaker, das nicht sein darf), das immer noch heftige, unbeantwortete Nachfragen der Weltöffentlichkeit auslöst (Vorwürfe gegen US-Armee weiter ungeprüft). Im Forum kommentierte "Engine_of_Aggression", dass es die Richtigen getroffen habe: "Warum sollen Massaker immer nur an den Guten angerichtet werden und der Bodycount des Abschaums kommt unterm Strich besser weg!"

Holger Voss, ohne Nick und Visier, meinte: "Stimmt. Deshalb wurde es dringend Zeit, dass nach all den Massakern, die von den USA oder im Auftrag der USA begangen wurden, endlich mal Leute den Mut hatten, ein Massaker am wahren Abschaum, an US-AmerikanerInnen zu verüben." Der überzeugte Kriegsgegner Voss fügte noch selbstpersiflierend hinzu: "In unserer überkritischen Zeit werden tödliche Aktionen gegen ZivilistInnen oft als falsch wahrgenommen, gerade von Pazifisten und solchem Pack", nebst dem klärenden Zusatz für den verdutzten Leser: "Ach ja: Wer Sarkasmus findet, der/die möge ihn bitte weiterverwenden."

War das jetzt moralisch-sarkastischer Anschauungsunterricht, eine Tit for Tat-Offensive oder die Billigung der Terroranschläge? "Engine_of_Aggression" drohte mit der Staatsanwaltschaft, ohne wohl eine Selbstanzeige wegen "Bodycount des Abschaums" in Erwägung zu ziehen. Nun hat der "Abschaum", so er denn noch lebt, ohnehin keine Lobby hier zu Lande. Über die mutmaßlich in Containern der Nordallianz elendig Verreckten soll nicht gesprochen werden...

Nach der anonymen Strafanzeige kam das Ermittlungsverfahren, dann zackig der horrende Strafbefehl in Höhe von 1.500 Euro (!), Einspruch von Holger Voss, Hauptverhandlung am 08. Januar 2003 vor dem Amtsgericht Münster, nicht dem Königlich-Bayerischen Amtsgericht also.

Die Mühlen der Justiz konnten diesmal so schnell mahlen, weil die Internetverbindungsdaten des Beschuldigten vom Internet-Provider T-Online angeblich über Monate aufbewahrt und den Ermittlungsbehörden - nach Aussage von Voss - ohne richterlichen Beschluss zur Verfügung gestellt wurden. Datenschutzrechtlich wird der Fall dadurch pikant, dass Voss Flatrate-Nutzer ist. Die Provider-Praxis, auch Informationen über solche Nutzungen längerfristig zu speichern, wird von Datenschützern seit längerem angezweifelt, da Zwecke der Abrechnung dies keinesfalls rechtfertigen. Den Logfile-Eintrag mit der IP-Adresse hatte Heise Online auf Beschluss des Amtsgerichts Hannover übermittelt.

Freie Meinungsäußerung ist ein schützenswertes Grundrecht in einem demokratischen Rechtsstaat

Die Anklagebehörde hat die gesetzliche Verpflichtung, auch die entlastenden Umstände zu Gunsten des Angeschuldigten zu sammeln, aber die Staatsanwaltschaft in Münster wurde da wohl nicht fündig, wenngleich es doch aus dem Posting nur so sprudelte. Der "unbefangene Leser" könnte die schlimmen Worte als Billigung der Terroranschläge verstehen, obwohl doch offensichtlich gerade umgekehrt der befangene Leser sie missverstehen wollte. Der vossische "Sarkasmus-Tag", die ironische Wortwahl und ein hermeneutischer Erste-Hilfe-Koffer hätten bereits genügt, die rote Akte zu schließen, bevor sie überhaupt angelegt wurde. Doch wohl gerade nicht, kommt das Js-Aktenzeichen der Ankläger ja immerhin aus der guten alten Zeit der Inquisition.

Bereits die oberflächliche Interpretation des Schlagabtauschs macht klar, dass Holger Voss mit gleicher Münze zurückzahlen wollte, was die Aggressionsmaschine - nomen est omen - in das Fadenkreuz genommen hatte. Eine harte Währung zwar, aber dafür "1.500 Peitschenhiebe"? Wer die explosiven Gepflogenheiten zahlreicher Online-Foren kennt, weiß, dass hier zwar mit harten, aber eben virtuell gepolsterten Bandagen gestritten wird. Die Diskursfigur des "Trolls", der wütende Rede und Gegenrede, Eifer und Unruh provoziert, weil Brand stiften vor einsamen Monitoren nun mal mächtig Spaß macht, gehört genauso zu den virtuellen Waldbewohnern wie manch argloser Hobbit, der seine two cents in den kursierenden Meinungsklingelbeutel wirft. Wie treu sind die Gefährten? Von Verleumdungen abgesehen, sollte virtuell bleiben, was in erhitzten Diskussionen oft bis weit nach Mitternacht so verzundert wird. Nicht moderierte Listen sind ein Forum der freien Meinungsäußerung. Wer das nicht aushält und die Polizei ins virtuelle Home holt, sollte zukünftig gefälligst draußen bleiben.

Die Ankläger benötigen wohl nicht nur im politisch korrekten Münster noch ein wenig praktischen Anschauungsunterricht, um zwischen Krieg, flaming-war und Geplänkel zu unterscheiden. Schickt unvernetzte Staatsanwälte und Richter in die Online-Selbsterfahrungsgruppe! Immerhin trainiert die Justiz ja auch Kampftrinken, um sich ein besseres Bild von alkoholbedingten Steuerungsmängeln zu machen. Das fröhliche Online-Leben, der unbeschwerte Umgang mit "political correctness", die virtuelle Meinungsfreiheit hat mitunter schroffe Abgründe, die deshalb noch lange nicht zum Abfahrtslauf in den Gerichtssaal werden dürfen.

Für Verschwörungspraktiker eröffnet sich freilich auch hier ein weites Feld für Nachermittlungen. Präsident Bush wird jedenfalls nachgesagt, dass er sich über kritische Darstellungen seiner Politik in der Öffentlichkeit mächtig ärgere... und wer weiß, hinter manchem "nick" verbirgt sich vielleicht ein "tricky dick" (Philip Roth) und der Rest der coolen Gang.