Entflammende Wörter: Wenn Hass metastasiert
In den USA sind die Sprachwege von der Vereinfachung zum Vorurteil und vom Angstbild zur Feindbild-Rhetorik kürzer geworden. Vor allem unter Trump
Seit diesem Präzedenzfall wissen alle künftigen US-Regierungen, wie unendlich weit sie gehen können. Sie lernten während der 45. Präsidentschaft neue, brachial ausgeweitete Grenzbereiche kennen, national wie international. Viele der autokratischen Machthaber weltweit blickten gebannt in die USA und lernten. Denn an den USA konnten sie ermessen, wie weit sie das demokratische Gefüge in ihren eigenen Ländern überdehnen können, ohne die breite Zustimmung zu verlieren.
Der hohe Preis sprachlicher Toxizität
Die USA wurden zum neuen globalen Testlabor, in dem die Zugfestigkeit, Elastizität und das Überdehnen gesellschaftlicher Strukturen live und gleichsam am lebenden Organismus erprobt wurden. Verbale Übertretungen, superlativische Ausdrucksweise und ins Monumentale gesteigerte Sprache markierten den Beginn der 45. US-Präsidentschaft. Mit toxischer Sprache und deren Folgewirkungen ging das vierjährige Sprachentgleisungs-Kontinuum zu Ende.
Die politische Sprache Washingtons verfiel in jene Form von Armut, in der 140 Zeichen bereits als politische Position galten. Vier Jahre lang war kaum jemand aus den Reihen der Republikaner auszumachen, der den Mut und den Willen hatte, dem Präsidenten Einhalt zu gebieten. Zu klar stand das ökonomische und machtpolitische Kalkül zu Gunsten der GOP im Vordergrund. Die Republikaner haben mit der 45. Präsidentschaft historische Schuld auf sich geladen, indem sie den politischen Schaden zuerst entstehen, dann metastasieren und schließlich zum Normalzustand werden ließen.
Sprachdeformation durch Umcodierung
Im Lichte der jüngsten Ereignisse und deren traurigem Höhepunkt, dem sprachlich geschürten Angriff auf ein Symbol der Demokratie in Washington, wird auch ein Defizit sichtbar: das historische Glück der USA, und damit gleichzeitig der Mangel, niemals im eigenen Land mit der Sprache der Diktatur umgehen zu müssen, wie das Europa vor 80 Jahren tun musste.
Denn erst vor wenigen Jahrzehnten, als der Zivilisationsprozess bereits weit fortgeschritten schien, geriet die deutsche Sprache in den monströsen Würgegriff der NS-Diktatur. Der schrecklichsten aller Menschheitskatastrophen ging eine Deformation der Sprache zu hassverzerrtem, rassistischem Wortgut voran.
Die verrohte Diktion der NS-Diktatur zerschlug die Sprache auf zwei Ebenen: Zum einen auf jener der lauten, brüllenden und fanatisch-hysterischen Hetzreden eines Hitler oder Goebbels. Zum anderen auf der Ebene des "sanften Verbalradikalismus", jener subkutanen und in tausenden umcodierten Wörtern des Alltags schlummernden, latenten Sprachdeformation.
Es stellt daher auch gegenwärtig eine perfide, leise und langsame Vergiftung der Alltagssprache dar, wenn Wörter wie "patriots" umgewertet werden. Wenn die Freiheit des Wortes unterminiert wird, indem sie einem Teil der US-Gesellschaft, nämlich den kritischen Medien, abwertend "fake news" genannt, implizit und pauschal abgesprochen wird.
Free Speech und die Würde des Anderen
Grundsätzlich ist die Freiheit des Wortes, ebenso wie die Freiheit der Gedanken, unendlich. Dessen ungeachtet können Free Speech und die Würde des Anderen niemals völlig zur Deckung gebracht werden, man kann sie einander nur behutsam annähern.
Diese Annäherung ist bis heute nur ansatzweise erfolgt. Die Social-Media-Konzerne zum Beispiel entwickeln sich zurzeit in zwei Geschwindigkeiten. Dem rasenden technologischen Fortschritt steht eine schleichend-langsame Entwicklung ethischer Rahmenbedingungen gegenüber. Diese Lücke konnte der scheidende US-Präsident nützen und die Freiheit des Wortes im Sinne der Schrankenlosigkeit interpretieren.
Der Verfall politischer Sprache
Die politische Sprache wird weltweit fortschreitend – nicht nur in den USA – dem Ruin überantwortet, indem statt differenziertem Diskurs populistischer Verkürzungszwang zu herrschen beginnt. Das erschöpfte Wahlvolk steht nicht mehr auf, wenn die Sprache der Spitzenpolitik vom Undifferenzierten über das Simple zum Banalen abdriftet.
Der gesellschaftliche Zusammenbruch der Symmetrie bestehender Anerkennungsverhältnisse unterstützt diese populistische Schlagseite der Politik mit ihrer verschärfenden Rhetorik. Die Komplexität der Welt wird mittels verkürzender Sprache, mit deklarativen Phrasen und politisch-emotiven Schlagwörtern weiter reduziert. Ein Weg, auf dem die Sprache des Ressentiments mühelos ethnisiert werden kann.
Aus Worten werden Taten
Solche Sprachentwicklungen schreiten jedoch nicht einfach nur unbegrenzt fort, sondern bereiten eine neue Dimension vor: jene, in der die Tat das Wort überschreiten kann. Dieser qualitative Sprung ist nicht aus einer einzigen Ursache ableitbar, sondern entspricht Vorgängen von sich gegenseitig verstärkenden Sprechakten. Hinzu kommen die kumulativen Wirkungen von Sprachhandlungen sowie semantische Auf- und Überladungen.
Der Prozess von der Sprachgewalt zur Gewalt durch Sprache und von dieser zur gewaltsamen Tathandlung vollzieht sich nicht mit Notwendigkeit. Doch der latente Hass wird durch die Sprache aufgeweckt, er wird manifest und immer weiter gesteigert bis zu seiner Entladung. Es wäre daher naiv zu behaupten, ein von zahllosen sprachlichen Übertretungen geprägter Alltag hätte keine vorbereitende Wirkung für Handlungen.
Politik und Lüge
Darüber hinaus sind Politik und Lüge eine seit Jahrtausenden währende Mesalliance eingegangen. Die gesellschaftlichen Kollateralschäden der politischen Lügen, Vorurteile und Hassreden sind gewaltig. Bewusste Übertretungen des Bedeutungshorizontes haben verbale Sprengkraft, da sie die bestehende Ordnung des Diskurses wie ein irritierender, verzerrender Kommunikationscode stören und untergraben. Sprachentgleisungen und Feindbildrhetorik, Stereotype und Herabwürdigungen mutieren dann zur Normalsprache – zu jenem "Neuen Normalen", an das man sich keinesfalls gewöhnen sollte.
Politischer Sprachmarkt der Social Media
Die politische Sprache reüssiert nicht durch Wahrhaftigkeit auf dem "Social Media-Sprachmarkt", sondern dadurch, dass eine gesellschaftliche Mehrheit Aussagen für wahr hält. Social Media Konzerne ließen bis vor wenigen Tagen die Täuschung der Massen durch Inszenierung und durch sprachliche Kontaminierung zu. Das Twitter-Konto Donald Trumps zu deaktivieren, war und ist eine richtige Entscheidung, da es kurzfristig zum sozialen Frieden beiträgt. Mittelfristig fördert es die gesellschaftliche Annäherung von derzeit unversöhnlichen entgegengesetzten Positionen.
Langfristig jedoch sollte dieser Account unter allen Umständen und in unveränderter Form bewahrt werden. Die Tausenden Tweets des 45. Präsidenten sollten nicht in digitale Archive verräumt werden, sondern leicht zugänglich bleiben, denn sie müssen analysiert werden: politikwissenschaftlich und soziologisch, psychologisch und sprachwissenschaftlich. Sie sollten nicht wie in einer Damnatio memoriae, einer digitalen Tilgung des Andenkens anheimfallen.
Zeugen der Politik
Doch was soll mit dem Bezeugten geschehen? Wessen Zeugnisse werden erhalten, und wer entscheidet nach welchen Kriterien darüber, was gelöscht wird? Eine Frage von Macht, denn in der digitalen Welt können Spuren verwischt werden, indem jeder Anfang und jeder Ursprung millionenfach überschrieben wird. Zeugnisse sind unersetzlich und unhintergehbar, denn jede Geschichte kann erst von ihrem Endpunkt aus in ihrer Totalität wahrgenommen werden.
Die digitale Gegenwart macht Milliarden von Menschen zu Zeugen. Zeugen davon, dass demokratische Errungenschaften mit Füßen getreten wurden. Zeugen davon, dass das politische System zu spät und nur mit größter Anstrengung in der Lage war, eine dysfunktionale Entwicklung aufzuhalten.
Gerade deshalb ist die Vorbildfunktion von Politikern, Medien und allen jenen Menschen von eminenter Bedeutung, die als gesellschaftliche Multiplikatoren wirken. Und im Unterschied zu staatlicher Repression ist und bleibt politisch-kulturelle Vorbildwirkung stets kostenlos.
Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Er ist der Autor von "Verbalradikalismus" (2012) und "Minimale Moral" (2016). Sein neues philosophisch-politikwissenschaftliches Buch "Uneigentlichkeit. Philosophische Besichtigungen zwischen Metapher, Zeugenschaft und Wahrsprechen" erschien 2020 im Verlag Königshausen & Neumann.
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