Erbarmungsloses Gaffen

Seite 2: Kommunikation in den sozialen Medien

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Vergleich mit empathischer Kommunikation, ermöglicht uns, genauer die Charakteristika der Kommunikation in den sozialen Medien zu erkennen. Bei empathischer Kommunikation stehen, angesichts des unergründlichen Sinnpotentials des intransparenten Bewusstseins, kommunikative Handlungen individueller Personen zur Disposition.

Bei sozialen Medien steht eine anderen Form der Intransparenz im Fokus; wiewohl natürlich auch hier individuelles Bewusstsein undurchschaubar bleibt. Für soziale Medien ist die Intransparenz der Vielzahl der Kontakte (Adressaten) der je individuellen Kontaktlisten (wie etwa bei Facebook oder Instagram) der Kommunizierenden kennzeichnend. Ebenso ist bei der Orientierung von Kommunikation an öffentlichen Kontaktlisten (Singlebörsen wie etwa Parship oder eDarling, auch Reisekontaktbörsen) die Intransparenz der Vielzahl der potentiellen Kontakte (Nutzerprofile) offensichtlich.

Durch die Vielzahl der potentiellen Adressaten in den individuellen, bzw. öffentlichen Kontaktlisten steht die Adressierbarkeit der Kommunizierenden selbst zur Disposition. Während Empathie am Dispositiv von sozialen Handlungen von individuellen Personen forciert wird, ist es in sozialen Medien Reputation, die sich an der Kontingenz individueller Adressierbarkeit steigert. Ist es, angesichts der intransparenten Vielzahl der Kontakte in Kontaktlisten, den Kommunizierenden möglich, mit einer bestimmten Person in Kontakt zu treten, nicht aber notwendig, steigert Reputation die Wahrscheinlichkeit der Kommunikation, bzw. der Kontaktaufnahme.

Von daher wird die Wichtigkeit von "Likes" etwa, der Anzahl von "Freunden" oder "Abonnenten", von "Followern" und "ReTweets" verständlich. Hier kommt es nicht auf individuelle "Wertschätzung" an, wie im Falle von empathischer Kommunikation, sondern auf die schlichte Anzahl dieser Reputation indizierenden Variablen. Kommunikation in den sozialen Medien richtet sich also an den Erwartungen nicht eines spezifischen, individuellen "Anderen" aus, sondern an den Erwartungen eines "generalisierten Anderen".

Wir können auch sagen, um den Unterschied zwischen Kommunikation in den sozialen Medien und empathischer, an Individuen orientierter Kommunikation zu verdeutlichen: Liebe, eine Liebesbeziehung kann als Idealtypus empathischer Kommunikation gelten, Berühmtheit ist der Idealtypus mit Blick auf soziale Medien.

Dabei lässt sich konstatieren, dass eine Orientierung an überindividuellen, reputationsgenerierenden Erwartungen, sicher für Kommunikation in öffentlichen Kontaktlisten (wie Parship, ElitePartner, eDarling etc.) der Fall ist. Die hier Kommunizierenden machen sich schon aufgrund der Gleichartigkeit der Nutzerprofile, die durch elektronische Formulare aufgezwungen wird (welche die Funktionalität der Kontaktlisten als soziale Medien ermöglicht), vergleichbar.

Angesichts der Vergleichbarkeit einer unüberschaubaren, intransparenten Vielzahl von (potentiellen) Kontakten, wird für die Nutzer notwendig, sich Reputation zu verschaffen, um die Wahrscheinlichkeit für Kommunikation und Kontaktaufnahme zu erhöhen. Die Nutzer müssen sich in ihrer Kommunikation also an überindividuellen Erwartungen, Erwartungen, die bei einer möglichst großen Anzahl von Personen Anklang finden kann, ausrichten - was wiederum die Vergleichbarkeit der Nutzerprofile verstärkt und damit die Notwendigkeit von Reputation erhöht ...

Sowohl die intransparente Vielzahl der Nutzerprofile, wie auch deren Vergleichbarkeit ermöglichende Gleichartigkeit, nötigt - selbstverstärkend - den Kommunizierenden in sozialen Medien das Streben nach Reputation auf. Was vermutlich epidemisch dazu führt, dass etwa das Alter, oder das Aussehen in Bildern "geschönt" wird, um die Wahrscheinlichkeit der Kommunikation und Kontaktaufnahme zu erhöhen. Auch mag schon vorweg, bei der Wahl der spezifischen Kontaktliste, Reputation eine Rolle spielen; also etwa eher "ElitePartner", als "Parship".

Doch auch bei individuell erstellbaren Kontaktlisten, orientiert an sozialen Medien wie Facebook ("Freunde"), Instagram oder Twitter etwa ("Follower"), ist die Ausrichtung an überindividuellen Erwartungen, ist das Streben nach Reputation, zentral. Auch hier wird den Nutzern angesichts der Vielzahl von gleichartigen, und damit Vergleichbarkeit aufdrängenden Nutzerprofilen, das Streben nach Reputation aufgenötigt, um die Wahrscheinlichkeit von Kommunikation zu erhöhen. Wobei es sich wohl oft um Kommunikation handelt, die, im Fischen nach Likes, ReTweets, Followern, Abonnenten, selbstbezüglich dazu dient, einmal mehr Reputation zu verstärken.

Die Reputation notwendig machende Intransparenz, auch von individuell erstellbaren Kontaktlisten, ist jedenfalls offensichtlich. Facebook-Nutzer (hier: in den USA im Jahr 2014) etwa verfügen über durchschnittlich 350 "Freunde", Nutzer von Instagram (hier: US-Teenager im Jahr 2015) verfügen über durchschnittlich 150 Follower.

Nicht zuletzt ist davon auszugehen, dass sich auch die Nutzung von individuell erstellten, umfangreichen, privaten Kontaktlisten, orientiert an Apps, wie WhatsApp, WeChat oder Skype, negativ auf Verbindlichkeit und Fokus individuumsbezogener Kommunikation - zentral für Empathie - auswirkt. Kommunizierende in Kontaktlisten haben angesichts der Vielzahl adressierbarer Kontakte einzurechnen, dass sich erfahrungsgemäß - eigene wie fremde - Kommunikationspräferenzen relativ schnell ändern, Verbindlichkeiten, Verpflichtungen verhältnismäßig leicht in Frage gestellt werden können. Für Kontaktlisten ist charakteristisch, dass die Adressierung der potentiell Kommunizierenden zur Disposition steht.

Gefahren und Risiken für die Gesellschaft

Wir können, wie üblich, gleich zu Anfang darauf hinweisen: Der Untergang des Abendlandes ist nicht zu erwarten - zumal soziale Medien auch im Morgenland populär sind. Das Aufkommen der sozialen Medien sollte nicht dazu führen, dass reputationsorientierte Formen der Kommunikation zunehmend empathische Formen verdrängen. Neue Formen der Kommunikation werden vielmehr integriert, ersetzen aber nicht die zuvor üblichen Formen der Kommunikation. Dies lässt sich etwa am Aufkommen des Buchdrucks im Mittelalter, oder anhand von telefonischer Kommunikation in der Moderne, zeigen.

Dennoch ist erstaunlich, wie stark der Änderungsdruck ist, den soziale Medien auf zuvor übliche Formen der Kommunikation ausübt. Selbst abgespeckte Formen individuumszentrierter, empathischer Kommunikation, wie die Telefonie, geraten unter Druck. Telefonische Kommunikation erlaubt zwar Freiheitsgrade, was die räumliche Anwesenheit betrifft, macht jedoch unabdingbar synchrone Teilnahme erforderlich. Der dadurch entstehende zeitliche Druck in der Kommunikation erzwingt eine gegenseitige Fokussierung am Individuum, also ein Mindestmaß an Empathie in der Kommunikation. Mitteilungen hingegen über Apps, wie WhatsApp, Skype, Facebook Messenger, erlauben, durch ihre Speicherung auf Computerservern, dass diese auch später und woanders noch von Informationen unterschieden und so verstanden werden können.

Nutzer haben also Freiheitsgrade in zeitlicher, wie auch in räumlicher Hinsicht. Kurznachrichtendienste erlauben insofern Empathie potentiell zu vermeiden; "Kommunizierende" derart können ganz "bei sich" bleiben. Immerhin lässt sich in umgehender Beantwortung von Nachrichten allenfalls Synchronizität herstellen.

Es lassen sich mit Leichtigkeit Indizien dafür finden, dass Kommunikation orientiert an Reputation im Trend der modernen Gesellschaft liegt. Etwa die Zunahme von Magersucht, auch bei Kindern. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, wie stark sich in den letzten Jahren die Anzahl der Schönheitsoperationen erhöht hat. Es kann auch angenommen werden, dass der Erfolg von Singlebörsen und Datingportalen auf einen Mangel an empathischer, höchstpersönlicher, liebevoller Kommunikation verweist.

Es ist ein tragisches Paradox, dass, für die Beseitigung dieses Mangels, mit den sozialen Medien zunehmend eine Form der Kommunikation gewählt wird, die gewissermaßen Empathielosigkeit einübt. Polyamorie oder Hikikomori könnten als neue, jedenfalls populärer werdende Lebensformen einer Gesellschaft aufgefasst werden, in der empathische Kommunikation zunehmend unter Druck gerät, bzw., die an den Zumutungen reputationsorientierter Kommunikation leidet. Nicht zuletzt indiziert auch die Popularität von Castingshows im Fernsehen (etwa "Das Supertalent", "Deutschland sucht den Superstar", "Germany’s next Topmodel" etc.) die moderne Gier nach Reputation und bestenfalls Berühmtheit.

Wir hatten Empathie, bzw. Reputation nicht vorweg eine moralisch positive, bzw. negative Konnotation zugesprochen. Wenn wir mit Liebe, bezugnehmend auf empathische Kommunikation, und mit Berühmtheit, bezugnehmend auf reputationsorientierte Kommunikation, positive "Idealtypen" auszeichnen: Was wären dann die negativen "Idealtypen" dieser Formen von Kommunikation?

Sadismus kann als negativer Idealtypus empathischer Kommunikation verstanden werden. Hingegen ist ein Massenmord verursachender Amoklauf als negativer Idealtypus einer an Reputation orientierten Kommunikation zu verstehen. Der Untergang des Abend- bzw. Morgenlandes bleibt uns wohl auch deshalb erspart, weil anzunehmen ist, dass Amoklauf (hoffentlich) ebenso selten vorkommt, wie Sadismus in sozialen Beziehungen. Aber: Allenfalls bald häufiger, angesichts der zunehmenden Dominanz von sozialen Medien?

Im Kontext vorliegender Perspektive ist jedenfalls unwahrscheinlich, dass Amok laufende Massenmörder, gleich, ob es sich um Schul-Amokläufer oder Amokläufer mit terroristischen Hintergrund handelt, sadistisch orientiert sind, also ein ausgeprägtes Interesse am Individuum vorweisen. Es ist eine empirisch zu prüfende Forschungsfrage, ob massenmordende Amokläufer tatsächlich mit exzessiver, reputationsorientierter Kommunikation in den sozialen Medien assoziiert werden können.

Der Verdacht ist keineswegs abwegig, dass ausschließliche und exzessive Kommunikation in sozialen Medien die (wenn auch geringe) Wahrscheinlichkeit eines Amoklaufs besser "triggert", als dies sogenannte "Killerspiele" vermögen, die im Verdacht stehen, (Schul-)Amokläufen förderlich zu sein. Hier wird nämlich zumindest die Aufmerksamkeit, die Konzentration auf einen Gegenstand gefördert. Wachsamkeit und Konzentration kann zumindest als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung von empathischer Kommunikation verstanden werden.

Kommen wir auf den anfangs erwähnten Fall einer Jugendlichen zurück, die den Tod ihrer Schwester, bei einem von ihr selbst verursachten Unfall, für ihre Instagram-Follower live filmte. Wie reagierte sie auf ihr eigenes Verhalten? Wie erklärte sie sich dieses?

"I look like a freaking horrible monster. That was not my intention at all", sagte sie. Ihr Verhalten erklärte sie wie folgt: "It was the only way my sister would get a decent burial", erläuterte sie. "I would never expose my sister like that. I anticipated the public donating money because my family isn’t rich."

Die Sorge also um ihre Reputation, ihr Image steht im Vordergrund. Und ihr - man muss schon sagen: lausiges - Bemühen, eine positive Reputation in der Öffentlichkeit mit ihrer vorgeblichen "Charity Aktion" wiederherzustellen. Der Versuch, Empathie mit ihrer Schwester auszudrücken, kommt einem narzisstischem Bekenntnis gleich: "She's like my mini-me. She's like my best friend", sagte sie über Schwester. "She looks just like me. Anytime I look at her, it’s like I'm looking at myself. It makes me really sad that she's gone."