Erbforscher in der Intelligenzfalle
Auf der Suche nach einem "Zentralgen" der Intelligenz
Wird das deutsche Volk dümmer, weil die Intelligenten immer weniger Kinder bekommen? Unter dieser Fragestellung referierte eine offenbar begeisterte WELT am SONNTAG unter dem Titel Deutschland in der Intelligenzfalle angeblich "brisante Thesen" des Leipziger Humangenetikers und Genealogen Volkmar Weiss über die Vererbbarkeit von Intelligenz. Seine Thesen, denen man offenbar mehr Popularität verschaffen wollte, sollen auf "einer Fülle von Erkenntnissen und Informationen zur genetischen Vererbung psychischer Eigenschaften" beruhen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Gesellschaft seien äußerst alarmierend.
Was ist eigentlich ein Genealoge? Ein Blick auf die Homepage der Deutschen Arbeitsgemeinschaft genealogischer Verbände e.V. (im Beirat: Dr. Volkmar Weiss, der wiederum Leiter der Deutschen Zentralstelle für Genealogie ist) verrät: es geht um Erbforschung. Schrifttumsberichte, familiengeschichtliche Bibliographien, Ortssippenbücher, Ahnenlisten und - als Prunkstück der Genealogischen Sammlungen in der Deutschen Zentralstelle für Genealogie - um die "Ahnenstammkartei des deutschen Volkes". Die Ahnenforschung, eigentlich Domäne der Adelshäuser, die mit ihrer edlen Abstammung glänzen wollen, hat längst auch auch bürgerliche Fans gefunden.
Den Mythos der Blutsverwandtschaft und dem Ruhm der hehren Vorfahren zu pflegen, mag ein harmloses Hobby sein - im Nazi-Deutschland gewann dieses Gebiet allerdings tödliche Bedeutung. Nur wer "arische" Ahnen vorweisen konnte, wurde als lebenswert anerkannt. Aus diesem Fach kommen nun Ambitionen, wenn schon kein blaues Blut, so doch wenigstens vererbbare Intelligenz nachzuweisen. Kein Hindernis ist für die Genealogen, dass Jahrhunderte angestrengtester Bemühungen keinen überzeugenden Beweis liefern konnten, und wir inzwischen wissen, dass die Komplexität des menschlichen Gehirns die der DNS weit übersteigt. Auch der Genealoge und Humangenetiker Weiss stellt sich in diese Tradition.
Volkmar Weiss beruft sich auf den Bestseller "The Bell Curve" der US-Autoren Herrnstein und Murray, die biologistische Thesen zu Intelligenz und Kriminalität mit einer fremdenfeindlichen Attitüde verknüpften. Diese Linie, die weltweit das rechte politische Spektrum frohlocken ließ und in den USA vom neoliberalistischen Mainstream enthusiastisch aufgegriffen wurde, scheint Weiss in seiner Arbeit imitieren zu wollen. Er postuliert, die gegenwärtige Einwanderung erhöhe den Bevölkerungsanteil mit niedrigem IQ, hoher Kriminalität und vielen Nachkommen. Besonders die "Zigeuner", die Roma und Sinti, haben es Weiss angetan; ihr IQ liege im Schnitt nur bei 85, weshalb sie oft kriminell würden - durchaus lobend erwähnt er eugenische Sterilisationsprogramme der stalinistischen CSSR (siehe etwa: The emergence of a cognitive elite).
Unter Kriminalität wird hier offensichtlich eher der Handtaschenraub durch ins soziale Abseits gedrängte Jugendliche verstanden, als Steuerhinterziehung und auf Parkplätzen übergebene Schmiergeld-Millionen. Die migrationssoziologische Erkenntnis, dass es sich bei Migranten eher um intelligente, tatkräftige Menschen handelt, passte hier nicht ins Konzept. Ebensowenig die kriminologischen Einwände, Ausländer wären statistisch nicht krimineller als Deutsche, wenn man Alter und Sozialstatus einbezieht: Wer 17jährige türkische Hauptschüler mit der deutschen Rentner- und Gymnasialchormädchen-Bevölkerung vergleiche, komme freilich zu Unterschieden in der Kriminalität.
Seine Daten will der DDR-Humangenetiker Weiss gegen den ideologischen Widerstand des Regimes gewonnen haben. Im DDR-Staatsdienst testete er den IQ von Teilnehmern der jährlichen "Olympiaden Junger Mathematiker", deren Werdegang er später überprüfte. Die große Sensation: "Tatsächlich üben heute 97 Prozent der männlichen und 90 Prozent der weiblichen Hochbegabten Berufe aus, die zur wissenschaftlichen Intelligenz zählen. Hunderte von ihnen sind Diplom-Mathematiker, Diplom-Physiker und Diplom-Ingenieure". Mathe-Asse unter den Schülern studieren also später gerne Mathe und Physik, darauf muß man erstmal kommen. Aber ist das Mathegenie auch vererbbar? Weiss in der WELT: "Meine Fragebögen belegten die große Dominanz der Gene: Mathe-Asse, die im Schnitt über einen Intelligenz-Quotienten (IQ) von 130 verfügten, hatten Eltern, die entweder selbst der Gruppe der Hochbegabten angehörten oder in Berufen mit mittlerer Qualifikation tätig waren."
"Wir werden nach der Entzifferung des genetischen Codes erleben, wie die Humangenetiker Erkenntnisse über die Natur des Menschen gewinnen, die vor unserer geistigen Ausstattung nicht halt- machen und neue Fragen über Wert und Sinn von Abstammung im sozialen Kontext aufwerfen werden. Ein Zentrum für mitteleuropäische Sozialforschung sollte sich diesen Fragen bewußt stellen und auf diesem Gebiet eine Vordenkerrolle übernehmen. Familiengeschichte hat stets auch etwas mit Familienpolitik zu tun, mit Rentenpolitik und nicht zuletzt mit Problemen der ethnischen Zusammensetzung einer "Bevölkerung". Wer die Mikrohistorie nutzbar macht, wird die Geschichte im großen beeinflussen. Mögliche Aktionsfelder der Stifung sind damit angedeutet." Volkmar Weiss in einem Artikel, der die Gründung eines "sozialhistorisches Forschungszentrums" fordert.
Die Eltern der Mathe-Asse gehörten zur privilegierten Schicht der DDR, waren also intelligent, ergo ist Intelligenz vererbbar. Diese "Fülle von Erkenntnissen und Informationen" mutet etwas dürftig an und zeugt nicht unbedingt von fachlicher Kompetenz: Hat Volkmar Weiss sich nie gefragt, warum die psychologische Intelligenzforschung des letzten Jahrhunderts so mühsam nach den seltenen, getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen suchte, um die Vererbbarkeit geistiger Eigenschaften zu beweisen? Niemand hat je bestritten, dass eine Kindheit bei privilegierten Eltern die geistige Entwicklung fördern kann, auch wenn die DDR die Existenz bessergestellter Klassen gern geleugnet hätte. Dennoch hofft Weiss, das "'Zentralgen' der Intelligenz in den nächsten 5 bis 15 Jahren entdeckt zu haben". Seine größte Sorge dabei: Die "Tabuisierung" der biologistischen Intelligenzforschung, wegen der bis heute dominierenden "egalitären Tendenzen" der 68er Kulturrevolution.
Die dieser Tage gern ventilierten Vorbehalte gegen die 68er-Generation sollten aber nicht verdecken, dass manche Tabuisierungen auch ihren Sinn haben. So scheint Weiss nicht zu ahnen - oder tut nur so -, in welche unheilige Tradition er sich mit seinen Ängsten vor einer "humangenetischen Verdummung der Deutschen" stellt: Vom finsteren Malthusianismus des frühen 19.Jahrhunderts über den grausamen Sozialdarwinismus Herbert Spencers führt dieses Denken hin zur modernen Eugenik und den Verbrechen der Nazis. Arglos wundert sich Weiss, die Intelligenzforschung sei "zu einer umstrittenen Disziplin geworden". Dafür aber sorgt er selbst natürlich auch, beispielsweise wenn er eine Unterscheidung der Menschen durch IQ-Messungen in die drei Typen: Intelligente, Mittelmäßige und Einfache vorschlägt, um sie gezielt zum Wohl der Wirtschaft und des Kulturfortschritts einsetzen zu können. Das politische Wahlrecht würde er am liebsten nur seiner Intelligenz-Elite geben, weil die überall herrschende "Diktatur der Mittelmäßigkeit" nur Mist produziert.
Auch Professor Weiss' Kenntnisse der Geschichte der deutschen Psychologie lassen zu wünschen übrig, wenn er fragt: "Wer weiß heute noch, dass auch Hitler IQ-Tests strikt ablehnte, weil die jüdischen Testpersonen überdurchschnittlich hohe Werte erzielten?" Hier übersieht Weiss, dass die deutsche Psychologie als Fachdisziplin unter Hitler aufblühte und zu Ansehen gelangte. Nazi-Akademiker richteten Lehrstühle und erstmals sogar Beamtenstellen für Psychologen ein und erließen die erste Diplom-Prüfungsordnung. Auch wenn Weiss sich einen jüdischen, von den Nazis vertriebenen Intelligenzforscher zum geistigen Ahnherren erwählt, liegt er vollkommen falsch, damit den IQ-Test zum antifaschistischen Widerstand hoch zu stilisieren.
Die Einführung psychologischer Eignungstests für Offiziersanwärter bahnte der Praxis dieses Faches erst den Weg. Trotz ideologischer Phrasen über Rassenpsychologie und Charakterkunde war der Kern dieser von Wehrmachtspsychologen der 30er Jahre entwickelten Prüfung ein Intelligenztest - von Verfahren ergänzt, die heute "Assessment-Center" genannt werden. Nach den ersten Kriegserfolgen der Wehrmacht überlegte man 1941 sogar beim US-Militär, die Eignungstests nach deutschem Vorbild zu reformieren. Abgeschafft wurden die Tests von der Wehrmacht 1942, da man mangels Nachschub an Menschenmaterial nicht mehr so wählerisch sein und Offiziersanwärter außerdem nach Bewährung im Kampf auswählen konnte. Die Psychologen hatten außerdem Söhne berühmter Nazi-Kriegsgrößen als untauglich für die Offizierslaufbahn getestet, so die Sprösslinge von Generaloberst Fromm und Generalfeldmarschall Keitel. Dies spricht aus heutiger Sicht nicht unbedingt gegen die Testverfahren, lief aber der Nazi-Ideologie von einer Vererbarkeit geistiger Fähigkeiten zuwider. Mit den von Weiss kolportierten "jüdischen Testpersonen", die "überdurchschnittlich hohe Werte erzielten", hatte die Einstellung der IQ-Tests aber nichts zu tun. In solchen Thesen zeigt sich eher ein - womöglich überkompensatorischer - Philosemitismus, der zu einer Rehabilitierung der biologistischen Variante der Intelligenzforschung eingespannt werden soll.
Auch die positive, weitgehend mit Springers WELT übereinstimmende und die Einwanderung kritisierende Rezension von Weiss' neuem Buch "Die IQ-Falle. Intelligenz, Sozialstruktur und Politik" in der Rechts-Postille "Der Republikaner" warnt "ausdrücklich" vor "falschen >rassistischen< Schlüssen". Die liegen allerdings so fern nicht, wenn man sich das weitere Angebot von Volkmar Weiss' Verlag ansieht: Im "Leopold Stocker"-Verlag findet man neben dem prominenten Autor Jörg Haider die rechtsradikale Monatszeitschrift "Nation+Europa" sowie Bücher wie "Rudolf Heß: Ich bereue nichts" oder "Adolf Hitler - mein Jugendfreund".