Erdbeben in Türkei und Syrien: Wem die Katastrophe nutzt

Seite 2: Erdbeben in Türkei und Syrien: Nutzen und Leid der Katastrophe

Nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien sind nach Angaben des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu Rettungskräfte aus 36 Ländern in das Katastrophengebiet unterwegs. In den drei betroffenen türkischen Provinzen stehen laut der regierungsnahen Nachrichtenagentur Demiren Haber Ayansi rund 50.000 Betten für Betroffene bereit.

Mehr als 3.300 Such- und Rettungskräfte seien im Einsatz. Der türkische Verteidigungsminister Hurus Akar kündigte an, die Kasernen und Garnisonen der Armee in dem betroffenen Gebiet für Zivilisten zu öffnen.

Der türkische Staat inszeniert sich als Helfer, nachdem er die hohe Opferzahl offensichtlich mitzuverantworten hat. Nach Angaben der Katastrophenschutzbehörde Afad sind allein in der Türkei fast 5.700 Gebäude eingestürzt. Offenbar waren Standards beim Bau weder eingehalten noch kontrolliert worden.

Zudem setzt sich die Armee als vermeintlich humanitäre Kraft in Szene. Sie war es aber, die im Zuge der Invasion in Nordsyrien 2009 mehr als 300.000 Menschen in die Flucht trieb. Und zur Stunde bombardiert die türkische Luftwaffe weiterhin kurdische Gebiete.

Fakt ist: Die Betroffenheit und Erschütterung angesichts der Bilder aus der Türkei und Syrien werden von zahlreichen Akteuren politisch missbraucht. Das trifft nicht nur auf die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan zu, sondern auch auf Saudi-Arabien. Von dort hieß es, man werde Notunterkünfte und Lebensmittel bereitstellen. Damit hofft Riad womöglich, die Beziehungen zu Ankara zu verbessern, die seit dem Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi im Jahr 2018 auf einem Tiefpunkt sind.

Und was sollen 87 Helfer aus der Ukraine ausrichten, wo weite Teile des Landes durch die andauernde russische Invasion verwüstet sind? Ist ihre Entsendung sinnvoll oder am Ende doch nur ein versuchter PR-Streich?

Was zwischen all diesen Meldungen untergeht, ist eine wenig aufsehenerregende Wahrheit: Die meisten und effektivsten Helfer sind schon vor Ort: Es sind die Überlebenden, die unmittelbar mit Rettungsmaßnahmen beginnen. Denn sie kennen sich vor Ort aus, sind vernetzt, sprechen die Sprache der Menschen vor Ort.

Der Arzt und Nothelfer Richard Munz, der in den Neunzigerjahren als Chirurg und Notfallmediziner weltweit Einsätze für das Internationale Rote Kreuz und weitere Hilfsorganisationen leitete, hatte den Missbrauch von Katastrophen immer wieder kritisiert. Sowohl durch politische Akteure als auch durch Hilfsorganisationen und Medien, die mitunter vom Leid profitieren.

In seinem Buch "Im Zentrum der Katastrophe. Was es wirklich bedeutet, vor Ort zu helfen" beschrieb er 2007, wie etwa einen Monat nach dem dortigen Tsunami im Jahr 2004 – teilweise ohne Wissen und Koordination der UNO – rund 1.100 Hilfsorganisationen nach Sri Lanka und etwa 300 Organisationen nach Sumatra strömten. Das Ergebnis: völliges Chaos.

In Bam, Iran, standen Ende 2003 drei Tage nach einem verheerenden Erdbeben mit mehr als 26.000 Toten 34 internationale Hundestaffeln bereit. Die mitgereisten Filmteams nahmen ihre Einsätze auf. Nur konnten die ausländischen Teams fast niemanden mehr retten. Denn was nicht berichtet wurde: Die erste iranische Hundestaffel war 90 Minuten nach dem Erdbeben einsatzbereit gewesen.

Katastrophen und Katastrophenhilfe wecken immer auch Interessen. Das Offensichtliche geht derzeit unter: Dass das Gebiet auf türkischer Seite entmilitarisiert werden müsste. Oder dass die westlichen Sanktionen gegen Syrien umgehend ausgesetzt werden sollten.