Erdogan, der kranke Mann am Bosporus
Das ökonomische Fundament der türkischen Großmachtträume könnte in diesem Jahr - allen Stabilisierungsbemühungen zum Trotz - endgültig wegbrechen
Der türkische Staatschef Erdogan wollte ganz hoch hinaus bei seinem Streben nach einer Wiederherstellung des osmanischen Reiches, doch der jähe Absturz der türkischen Währung könnte seine Regierung in Ankara endgültig auf den harten Boden der Tatsachen nötigen.
Mitte September verzeichnete die türkische Währung ein neues, historisches Allzeittief gegenüber dem US-Dollar und dem Euro, während die Inflation in dem zunehmend autokratisch regierten Land weiterhin zweistellig blieb.
Um einen US-Dollar zu kaufen, mussten rund 7,45 Türkische Lira aufgewendet werden, beim Euro lag der Wechselkurs bei 8,9 Lira. Allein in diesem Jahr verlor die Währung der rund 82 Millionen Einwohner umfassenden Volkswirtschaft 20 Prozent gegenüber dem Dollar und 21 Prozent gegenüber dem Euro, was zu einem dramatischen Kaufkraftverlust für die Lohnabhängigen in der Türkei sowie zu einer Zuspitzung der Schuldenkrise des einstigen Boomlandes führte. Während Erdogan sich in Reaktion auf die Wirtschaftskrise um den Aufbau neuer Feindbilder und Verschwörungsideologien bemüht, horten all jene Bürger der Türkei, die es sich noch leisten können, fleißig Goldreserven.
Die Teuerung, die ihren Höhepunkt während des kurzfristigen Krisenschubs im Sommer 2018 mit knapp 25 Prozent verzeichnete, bleibt weiterhin mit 12 Prozent weit oberhalb des Inflationsziels der türkischen Zentralbank, das bei fünf Prozent liegt. Die rasante Abwertung der Lira ist dabei eine Folge der lockeren Geldpolitik, die Staatschef Erdogan dem Land verordnet hat, nachdem er einen renitenten Zentralbankchef auswechseln ließ. Binnen eines Jahres fiel der türkische Leitzins - trotz abwertender Währung - von 24 Prozent auf 8,25 Prozent. Inzwischen wurde der Leitzins durch eine Reihe inoffizieller Maßnahmen leicht auf faktische 10,16 Prozent angehoben (der offizielle Leitzins bleibt bei 8,25 Prozent).
Inflation oder Rezession?
Hierdurch liegt der Leitzins weiterhin unter der Inflationsrate, was Kapitalflucht befördert und somit die Währungsabwertung zusätzlich befeuert. Dabei ist die Türkei aufgrund ihres Leistungsbilanzdefizits auf beständige Kapitalzuflüsse angewiesen. Das Defizit ist von 4,9 Milliarden im März dieses Jahres auf 6,7 Milliarden im Juni angestiegen. Zudem wird durch die Währungsabwertung der in Devisen zu leistende Schuldendienst des hoch im Ausland verschuldeten Nato-Landes zunehmend erschwert. Rund 40 Prozent aller Kredite in der Türkei wurden in Devisen vergeben, was zwar den Vorteil einer niedrigeren Zinslast mit sich bringt, aber zugleich das Risiko der Schuldenfalle birgt, sobald die Lira zu stark abwertet - und die Devisenkredite verteuert.
Mit den niedrigen Zinsen wollte Erdogan vor allem die kurzfristig in einer schweren Rezession steckende Wirtschaft stützen, die im zweiten Quartal um zehn Prozent einbrach. Damit befindet sich die Geldpolitik des Schwellenlandes in einem klassischen Krisendilemma, bei dem entweder die Konjunktur oder die Geldwertstabilität geopfert werden muss. Hohe Zinsen lassen die Kreditvergabe und die Nachfrage einbrachen, was in Wirtschaftseinbrüchen wie dem derzeitigen Krisenschub, der die Schwellenländer besonders hart trifft, zu einer Vertiefung von Rezessionen führt. Eine lockere Geldpolitik, mit der die Konjunktur gestützt werden soll, führt wiederum zur Währungsabwertung in Schwellenändern, was einem Kaufkraftverlust und einer Verteuerung des Schuldendienstes gleichkommt.
Der "Zinskritiker" Erdogan entschied sich bei Krisenausbruch für die Fortführung der expansiven Geldpolitik in der Türkei. Die aktuellen Währungsturbulenzen wurden durch eine Abwertung der türkischen Kreditwürdigkeit auf den Ramschstatus B2 (auf das Niveau von Entwicklungsländern wie Jamaika und Ruanda) durch die Ratingagentur Moody's ausgelöst, die in ihrer Begründung ein desaströses Bild der türkischen Wirtschaft zeichnete.
Die Ratingagentur sprach von einer "wahrscheinlichen Krise der Leistungsbilanz", da die Abhängigkeit von kreditfinanzierten Konjunkturanreizen die strukturelle Schwäche der 750 Milliarden US-Dollar umfassenden Ökonomie aufgezeigt habe. Die auf Expansionskurs gehende Türkei, die zunehmend aggressiv in die imperialistischen Fußstapfen des Osmanischen Imperiums treten will, scheint sich somit dem Verwesungsstadium des großen historischen Vorbilds von Staatschef Erdogan anzunähern - und zum kranken, islamistisch verblendeten Mann am Bosporus zu verfallen.
Die Abwertungen durch die Ratingagenturen sieht Erdogan folglich als "Angriffe" einer gegen die Türkei gerichteten Verschwörung - und nicht etwa als Folge seiner Krisenpolitik, die die türkischen Währungsreserven auf einen historischen Tiefpunkt fallen ließ. Die Devisenreserven des türkischen Staates sind binnen eines Jahres um 40 Prozent geschrumpft und betragen gerade mal knappe 45 Milliarden Dollar. Die Verschuldung Ankaras ist hingegen von 32,5 Prozent im vergangenen Jahr auf 42,9 Prozent angestiegen - und die Staatsschuld soll trotz momentaner konjunktureller Erholung weiter steigen.
Machtbasis in Gefahr
Die wachsenden Schulden des türkischen Staates resultieren aus den Konjunkturprogrammen, die Erdogan während der ersten Pandemiewelle auflegen ließ, um seine Machtbasis zu sichern. Mit Aufwendungen von umgerechnet 13 Milliarden Dollar sollten gerade die rapide verarmenden Bevölkerungssichten unterstützt werden, die zu der Kerngefolgschaft Erdogans und der AKP zählen.
Die Legitimität, die Erdogans Regierung immer noch in weiten Teilen der Bevölkerung der Türkei genießt, speist sich aus handfesten ökonomischen Interessen. Erdogan vermochte es in der Frühphase seiner Herrschaft, durch eine erfolgreiche Sozialpolitik breite Bevölkerungsschichten aus der bittersten Armut zu führen. Diese der Armut entkommenen Menschen identifizieren ihren - wenn auch prekären - sozialen Aufstieg mit der Figur Erdogan und seiner islamistischen Ideologie. Und es sind gerade diese Wählerschichten, auf die Erdogan sich bislang immer verlassen konnte, sie bildeten praktisch das Fundament, sozusagen den Beton der Wahlerfolge der AKP.
Und es sind eben diese kleinbürgerlichen, der Armut gerade erst entstiegenen Schichten, die nun abermals im Elend zu versinken drohen - was die Grundlage der Herrschaft der AKP gefährdet. Sie ist gerade dabei, ihre größtenteils auf Pump finanzierte Legitimität bei ihrer Stammwählerschaft zu verlieren, die aus tatsächlich gegebenen sozialpolitischen Erfolgen bestand. Die Zustimmung zur AKP ist aktuell von 46 auf 44 Prozent gesunken. Der Islamismus Erdogans ist in dieser Hinsicht durchaus mit dem evangelikalen Fundamentalismus vergleichbar, der ebenfalls das Streben nach kapitalistischen Reichtum mit religiösen Heilserwartungen amalgamierte.
Der wirtschaftspolitische Irrsinn, eine enorme Abwertung der Landeswährung hinzunehmen und noch zu beschleunigen - der Wertverlust summierte sich gar auf 61 Prozent in den letzten fünf Jahren -, folgt somit durchaus einem machtpolitischen Kalkül. Die schrittweise Errichtung einer postdemokratischen Machtstruktur konnte nur deswegen gegen alle Widerstände durchgesetzt werden, weil es eine breite Bevölkerungsschicht gab, der die Erosion demokratischer Rechte egal war - schlicht, weil sie dank Erdogans langfristig ruinöser Wirtschaftspolitik erstmals im ausreichenden Maß ihre Grundbedürfnisse befriedigen konnte. Die AKP muss folglich ihre Basis weitestgehend ökonomisch abschirmen, doch scheint dies kaum noch machbar.
Zwei Krisen in drei Jahren
Die Türkei befand sich in einer fragilen Erholung von den Folgen der Währungskrise von 2018/19, als die Pandemiebekämpfung einen abermaligen globalen Krisenschub auslöste. Die hierauf eingeleiteten Krisenmaßnahmen, die eine Beibehaltung der lockeren Geldpolitik und zusätzliche Konjunkturpakete im Umfang von 3,8 Prozent der türkischen Wirtschaftsleistung umfassten, griffen bereits auf dubiose Finanzmanöver und Tricks zurück, um dies angesichts der rasch voranschreitenden Geldentwertung und der mit dem negativen Zinsniveau korrespondierenden "Dollarisierung" der Türkei überhaupt noch zu ermöglichen.
Laut Medienberichten, die vor einem "perfekten ökonomischen Sturm" in der Türkei warnen, gleicht die Krisenpolitik Erdogans inzwischen einem Schneeballsystem, bei dem etwa die türkische Arbeitslosenversicherung angezapft werde, um die Krisenmaßnahmen zu finanzieren und den Staatshaushalt nicht offiziell zu belasten. Die Arbeitslosenstatistik werde zudem massiv gefälscht, sodass die reelle Arbeitslosenrate eher bei 28 Prozent, anstatt der offiziellen 12,8 Prozent liegen dürfte.
Erdogan hat einfach alle Entlassungen verboten, wobei türkische Unternehmer ihre überflüssigen Arbeitskräfte trotzdem ohne Lohnfortzahlung "freistellen" können. Die betroffenen Lohnabhängigen erhalten keinen Lohn, sondern eine magere staatliche Stütze, die nur einen Bruchteil des Mindestlohns umfasst - doch sie gelten offiziell nicht als arbeitslos. Einen Einblick in die Krise der türkischen Arbeitsgesellschaft erlaubt indes die Beschäftigungsquote aller arbeitsfähigen Lohnabhängigen, die von 52 Prozent im April 2019 auf inzwischen nur noch 47 Prozent absackte. Die Arbeitslosenrate ist gerade bei Jugendlichen besonders hoch, sie erreicht inzwischen 27 Prozent.
Hinzu kommen Einbrüche beim Export, der - trotz Währungsabwertung - im ersten Quartal 2020 einen Rückgang von 16 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum verzeichnete. Im ersten Halbjahr 2020 betrug der Einbruch gar 26 Prozent. Dies ist umso bedenklicher, da rasch steigende Exporte eigentlich dazu beitragen könnten, die bedrohlichen Defizite der Türkei rasch zu mindern. Die Situation im Tourismussektor, der 2019 immerhin 34,5 Milliarden US-Dollar (rund 4,5 Prozent des BIP) in die klammen Kassen der Türkei spülte, dürfte indes katastrophal sein. Das türkische statistische Amt publiziert einfach keine diesbezüglichen Daten für die Saison 2020.
Die letzte Hoffnung Erdogans dürfte in massiven Finanzspritzen aus dem Ausland liegen, mit denen die wichtige geopolitische Lage des Landes instrumentalisiert würde. Geopolitischer Einfluss gegen Bares - dies ist die Logik dieser Deals. Dies war etwa nach der Währungskrise 2018 der Fall, als die Bundesregierung mit einem milliardenschweren Investitionsprogramm in der Türkei das Erdogan-Regime ökonomisch stabilisierte. Die Milliardenspritzen für das türkische Schienennetz ließen Erinnerungen an das Bagdadbahn-Projekt zwischen dem deutschen Kaiserreich und dem im Zerfall befindlichen Osmanischen Reich als "kranken Mann am Bosporus" aufkommen.
Inzwischen scheinen Erdogan, der zumindest in dieser Hinsicht eines schrittweisen Ausverkaufs der Türkei an ausländische Geldgeber sich bereits wie ein waschechter osmanischer Herrscher aufführt, aber noch andere Optionen offenzustehen: China sei dabei, die Türkei in einen Satellitenstaat zu verwandeln, meldeten eifersüchtige US-Medien Mitte September. Mit milliardenschweren Investitionen biete Peking der Erdogan-Regierung eine "Rettungsleine", während dies zugleich den chinesischen Einfluss im westlichen Asien befördere. Die Deals zwischen Peking und Ankara erreichen zwar noch nicht die Dimensionen der 35 Milliarden Euro, die Berlin und Siemens - gedeckt durch Hermes-Bürgschaften - am Bosporus investierten, doch verschafft allein schon die geopolitische Konkurrenz zwischen Deutschland und China dem Erdogan-Regime neue Manövrierräume.
Der kranke Mann am Bosporus kann folglich bei seinen neo-osmanischen Großmachtträumen tatsächlich in die Fußstapfen der letzten Sultane Konstntinopels steigen und sich aussuchen, an wen er sein ökonomisch in Auflösung übergehendes Herrschaftsgebiet verscherbelt.
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