Erdogans Machtergreifung mit der Ausrufung des Notstands
Angesichts der schnellen und lange vorbereiteten Säuberungswellen und Machtübernahmestrategien erscheint der missglückte Militärputsch nur noch als Vorspiel eines Staatsstreichs
Der türkische Präsident Erdogan zeigt sich entschlossen, dem missglückten Militärputsch seinen Staatsstreich folgen zu lassen. Nachdem tagelang seine radikalisierten Anhänger in der Türkei und anderswo demonstriert haben, begann Erdogan, offenbar in der AKP völlig unumstritten, mit großen Säuberungswellen, mit denen er Zehntausende von Kritikern, Oppositionellen und Gegnern aus Militär, Polizei, Justiz, Medien und Bildung entfernen oder verhaften ließ.
Zuletzt wurden noch Verfassungsrichter verhaftet und alle Militärrichter suspendiert, Wissenschaftler dürfen nicht mehr ausreisen, Medien wurden geschlossen, der Zugang zu WikiLeaks gesperrt, das Tausende von Emails aus der AKP veröffentlichte. Die Türkei wird zum Polizeistaat, zu einer Diktatur, in der die Verfassung und die Gewaltenteilung ebenso wie grundlegende Rechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit ausgesetzt sind.
Gestern Abend setzte er schließlich in dem geschaffenen Machtvakuum und nach Verbreitung Angst und Unsicherheit vor der willkürlichen Macht seinem Staatsstreich, von dem man nicht wirklich mehr sagen kann, er sei unblutig, die Krone auf und erklärte nach Treffen des Nationalen Sicherheitsrats und des Kabinetts den Notstand für drei Monate.
Dass er nicht gleich sechs Monate verordnete, was möglich gewesen wäre, muss als Maßnahme verstanden werden, die zur Beruhigung dienen soll. Angesichts der Vorbereitungen, die erkennbar geworden sind, dürften nun auch drei Monaten reichen, um die Macht auszubauen. Verlängern lässt sich der Notstand noch immer. Jetzt kann Erdogan praktisch im Alleingang mit Verordnungen regieren.
Mehr Macht kann er sich als Präsident nicht holen. Die massive, schnelle und gut organisierten Säuberungen und Aufrufe an seine radikalnationalistischen und islamistischen Anhänger nach dem Putsch machen nun jedem deutlich, dass dieser Staatsstreich von langer Hand geplant war und vorbereitet wurde. Jetzt erklärt er dies zum "Heldenepos". Bekannt wurde, dass der Geheimdienst spätestens Stunden vor dem Beginn des Militärputsches Bescheid wusste und den Generalstab warnte. Dass man nicht schnell eingeschritten ist, sondern die Putschisten gewähren ließ, macht deutlich, dass man sie zumindest als williges Instrument betrachtete, wenn nicht der Putsch doch inszeniert war.
Dass Erdogan zufällig sein Hotel in Marmaris verlassen hatte, bevor es bombardiert wurde, wird wohl auch eher zu einer Legende. Angeblich wurde das Hotel von Soldaten angegriffen, die glaubten, sie würden an einem Antiterror-Einsatz teilnehmen. Mit großer Wahrscheinlich war er gewarnt worden, es sieht aber doch nach einem abgekarteten Spiel aus, schließlich macht es sich gut, das Ziel von Luftangriffen gewesen zu sein und dann unerschrocken am angeblich auch belagerten Flughafen in Istanbul aufzutauchen und das Volk zum Widerstand aufzurufen - wohl wissend, dass die Opposition angesichts eines Militärputsches sich hinter die Regierung, d.h. hinter Erdogan, stellen wird.
Erdogan strickt jedenfalls weiter an der Legende. Als er den Notstand erklärte sagte er auch, dass er zunächst die Information über den Putsch nicht ernst genommen habe, die sein Schwager geäußert habe. Nach dem der geplante Putschversuch von den Geheimdiensten und von "anderen Kanälen" bestätigt worden seien, hätten er und der Energieminister die notwendigen Schritte eigeleitet: "Wir unternahmen die notwendigen Schritte, um das Hotel zu verlassen." Passenderweise, um den Bomben zu entgehen - oder sind diese erst gefallen, als klar war, dass der Präsident sich nicht mehr im Hotel aufhielt?
Mit dem Flüchtlingsdeal mit der EU, dem zögerlichen Mitwirken bei der Anti-IS-Koalition, vor allem aber mit der Wiederannäherung an Israel und Russland hat sich der machtbesessene Präsident den Freiraum geschaffen, weil er weiß, dass die westlichen Länder und die Nato wegen der geostrategisch zentralen Lage der Türkei, einen Abbruch der Beziehungen nicht wagen werden. Wie immer strickt Erdogan auch an Verschwörungstheorien von bösen Mächten. Hinter dem Putsch sei nicht nur die Gülen-Bewegung gestanden, wobei Gülen zu einem konkurrierenden islamischen Drahtzieher nach Art von Erdogan aufgebaut wird (was er durchaus auch sein könnte), nach Erdogan könnten auch andere Staaten an den Putschplänen beteiligt sein. Sicherheitshalber rückte er nicht heraus, welche Staaten er verdächtigt. Selbst die Piloten, die den russischen Kampfjet abschossen, sollen auf einmal nach Erdogan Verbindungen zum Gülen-Netzwerke gehabt haben.
Die Ausrufung des Notstands begründet Erdogan mit dem Militärputsch, der Behauptung, dass er noch nicht ganz gebannt sein könnte, und der wachsenden Terrorbedrohung. Das geschehe in voller Übereinstimmung mit der Verfassung und beschneide nicht die fundamentalen Rechte der Bürger, sondern damit sollen gerade die Rechtstaatlichkeit und die Demokratie gesichert werden: "Es gibt nichts, wovor man sich fürchten muss", versicherte dreist der Präsident. Man werde die Demokratie nicht einschränken, sagte er, nachdem er die Gewaltenteilung praktisch abgeschafft hat - und sich jetzt mit dem Notstand auch noch des Parlaments erledigt. Europa sprach er das Recht ab, die Entscheidung zu kritisieren, nachdem er sowieso bereits Kritik an ihm als Majestätsbeleidigung verfolgt hatte.
Mit dem Notstand wird nun Schweigen und eine bleierne Zeit verordnet. Wirtschaftlich dürfte es damit bergab gehen, was Erdogans Macht als Alleinherrscher langsam untergraben wird. Was aber bis dahin geschieht, ist für Oppositionelle und Säkulare in der Türkei Schrecken und Angst, während möglicherweise noch radikalere Kräfte im Land hochgespült werden und es zum nächsten failed state machen. Dieses Mal wäre es aber ein Nato-Staat, angeblich ist die Nato eine Wertegemeinschaft.