Erdogans letzte Chance?
- Erdogans letzte Chance?
- Es ist schwieriger denn je, Prognosen über den Wahlausgang zu stellen
- Auf einer Seite lesen
Am Sonntag werden in der Türkei Parlament und Präsident gewählt. Erdogans Griff nach umfassender Macht ist noch keineswegs sicher
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist wenige Tage vor der entscheidenden Wahl, die ihm die Alleinherrschaft sichern soll, mit einer Menge Problemen konfrontiert. Das wohl größte ist die linksliberale Oppositionspartei HDP. Schon 2015 hat sie ihm die Parlamentsmehrheit verhagelt, weshalb er Koalitionsgespräche mit der kemalistischen CHP blockierte und Neuwahlen erzwang.
Erdogan ist ein Spalter. Er setzt darauf, die zutiefst fragmentierte türkische Zivilgesellschaft gegeneinander auszuspielen. Gläubige gegen Atheisten oder Anhänger anderer Glaubensrichtungen als dem sunnitischen Islam. Nationalisten gegen Linke. Türken gegen Kurden. Stadt gegen Land. Und so weiter. Der Ansatz der HDP ist das genaue Gegenteil. Sie setzt darauf, dass eine demokratische und friedliche Türkei nur möglich ist, wenn alle zusammenarbeiten, die Gräben überwinden, Kompromisse schließen.
Die Message kommt offenbar an. Und das obwohl Erdogan seit fast drei Jahren Krieg führt gegen die kleine Partei. Tausende Mitglieder, mehrere Abgeordnete sowie die ehemaligen Parteivorsitzenden Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas sind in Haft. Erdogan hat versucht, die Strukturen der prokurdischen Partei, die er nicht müde wird, in die Nähe von Terroristen zu rücken, zu zerschlagen. Er wollte sie handlungsunfähig machen. Und er ist mit dem Versuch gescheitert. Das zeigt sich im Wahlkampf.
Trotz täglicher gewaltsamer Angriffe auf HDP-Wahlkämpfer, trotz täglicher Festnahmen, trotz täglicher Hetze in den weitgehend gleichgeschalteten Massenmedien, erlebt die HDP gerade enormen Zulauf. Tausende kommen zu den Wahlkampfreden der Kandidaten, zu denen sich unlängst auch der prominente Investigativjournalist Ahmet Sik gesellte, gegen den ein Ermittlungsverfahren läuft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, zur Gülen-Bewegung zu gehören. Dass Sik einer der härtesten Kritiker der Bewegung ist, macht die Anklage kaum glaubwürdiger.
Die AKP-Regierung macht den im US-Exil lebende Fethullah Gülen und seine Bewegung für den Putschversuch vom Sommer 2016 verantwortlich. Seither werden Gülenisten gnadenlos verfolgt und sogar aus anderen Ländern in die Türkei entführt. Zwar ist belegt, dass Anhänger der Bewegung in den Putschversuch involviert waren, die Anschuldigung, Gülen habe den Putsch befohlen, konnte die AKP aber auch fast zwei Jahre nach dem Ereignis, das rund 250 Menschen das Leben kostete, nicht belegen.
Mindestens 300.000 Menschen sind seither von Verhaftungen, Anklagen, Entlassungen und zahlreichen weiteren Repressionen betroffen. Ob sie tatsächlich etwas mit dem Putschversuch zu tun hatten, spielt längst keine Rolle mehr. Jeder Gegner oder Kritiker der AKP läuft seither Gefahr, wahlweise mit dem Label Gülen- oder PKK-Anhänger gezeichnet zu werden. Und das ist nach offizieller Lesart des Staates gleichbedeutend mit Terrorismus. Besonders absurd: In vielen Fällen heißt es, Beklagte seien zugleich für Gülen und die PKK aktiv. Dabei stehen beide Bewegungen nicht gerade im Verdacht, sonderliche Sympathien füreinander zu hegen.
Viel hängt davon ab, ob die HDP die 10-Prozent-Hürde überspringen kann
Seit zwei vollen Jahren findet in der Türkei eine Hexenjagd statt, die geprägt ist von Willkür. Eine unabhängige Justiz gibt es längst nicht mehr. Ein wesentlicher Teil der Anklagen gegen Journalisten, Akademiker, Anwälte, Lehrer kommt aus dem Präsidentenpalast in Ankara. Es sind politische Prozesse. Auch im Fall von Selahattin Demirtas, der seit Ende 2016 in Edirne in Untersuchungshaft sitzt. Er kandidiert aus dem Gefängnis heraus für die HDP und tritt nun schon zum zweiten Mal gegen Erdogan an.
"Der einzige Grund, aus dem ich hier bin, ist, dass der Präsident Angst vor mir hat", sagte Demirtas in einer voraufgezeichneten Rede, die am Wochenende im Staatssender TRT ausgestrahlt wurde. Es war das erste Mal seit Beginn des Wahlkampfes, dass die HDP im staatlichen Fernsehen für sich sprechen durfte, zehn Minuten lang. In den Wochen zuvor dominierte wie üblich die AKP die Sendezeit. Fast jede Rede Erdogans wird live übertragen. Die Oppositionsparteien kommen seit Beginn des Wahlkampfes hingegen auf gerade mal rund drei Stunden Sendezeit. Ein Missverhältnis, das sich in den meisten Medien spiegelt. Journalisten, die es wagen, die Regierung zu kritisieren oder der Opposition mehr Raum zu geben, riskieren ihren Job. 181 Journalisten befinden sich zur Zeit in türkischer Haft. Mehr als in jedem anderen Land der Welt. Eine freie und unabhängige Berichterstattung ist so nicht mehr möglich.
Wenn Erdogan am Sonntag gewählt wird, so Demirtas in seiner Rede, "steht uns das Schlimmste noch bevor". Diese Einschätzung deckt sich mit dem, was mehrere internationale Experten erwarten. Wenn Erdogans Macht bestätigt wird, dürfte das für ihn ein Grund sein, noch härter durchzugreifen als bislang - zumal ihm dann nichts mehr im Weg stünde. Erst vergangene Woche stellte Erdogan in Aussicht, nach seiner Wiederwahl den seit beinahe zwei Jahren währenden Ausnahmezustand zu beenden. Was gut klingt, erweist sich auf den zweiten Blick als Farce. Denn Erdogan wäre dann ohnehin mit unbegrenzten Machtbefugnissen ausgestattet - und könnte weiter wie bisher willkürlich per Dekret regieren.
Demirtas weiß natürlich, dass er keine Chance hat, Präsident zu werden. Ihm geht es darum, dass seine Partei die Zehn-Prozent-Hürde schafft. Denn dann könnte er die AKP einerseits im Parlament schwächen. Andererseits könnte er Erdogan in eine Stichwahl zwingen. Daher hat Erdogan seine Angriffe auf die HDP zuletzt verschärft. Vergangene Woche kam es in Suruc nahe der syrischen Grenze zu einem tödlichen Zwischenfall, nachdem Erdogan bei einer Rede gesagt hatte, man müsse etwas gegen die HDP tun.
Der AKP-Abgeordnete Ibrahim Yildiz wollte in der Stadt einen Wahlkampftermin wahrnehmen. Es kam aus nicht gänzlich geklärten Umständen zu einer Schlägerei, in die auch Wahlkämpfer der HDP involviert waren. In einem dann folgenden Schusswechsel wurden Yildiz' Bruder, zwei HDP-Mitglieder und eine weitere Person getötet sowie acht Personen verletzt. Die HDP sagt, die AKP-Gruppe um Yildiz habe das Feuer eröffnet, während Erdogan und AKP-nahe Medien von einem Angriff auf die AKP sprechen und die HDP einmal mehr in die Nähe von Terroristen rücken.
Wirtschaft auf Talfahrt
Es ist nicht das erste Mal, dass ein Wahlkampf in der Türkei blutig verläuft. Es ist aber das erste Mal, dass Erdogan und die AKP trotz aller Repressionsmaßnahmen ernstlich nervös wirken. Das zeigt sich nicht nur darin, dass Erdogan selbst bei öffentlichen Auftritten mitunter zerstreut und fahrig wirkt. Es ist kein Geheimnis, dass die schlechte wirtschaftliche Lage einer der Hauptgründe dafür ist, dass die Wahl ein Jahr früher als geplant stattfindet. Die Türkische Lira ist auf Talfahrt, die Inflation liegt bei gut zehn Prozent und konnte auch durch eine Leitzinsanhebung durch die Zentralbank nur kurzzeitig gebremst werden.
Dass Erdogan in öffentlichen Äußerungen nicht nur in Aussicht stellte, künftig die Zentralbank selbst kontrollieren zu wollen, sondern auch seine Äußerung, ein hoher Leitzins sorge für hohe Inflation, sorgte nicht gerade für neues Vertrauen der Märkte. Wie soll man auch mit jemandem kooperieren, der elementarste wirtschaftliche Zusammenhänge nicht versteht? Der hohe Leitzins sorgt derweil dafür, dass türkische Bürger und Unternehmen Probleme haben, an Kredite zu kommen, was die Konjunktur abwürgt. Das Handelsbilanzdefizit und die hohe Staatsverschuldung werden nicht nach der Wahl verschwinden, und die Durchhalteparolen der AKP, nach denen nach der Wahl alles besser und das Land wirtschaftlich florieren wird, dürften so langsam auch bei der AKP-Stammwählerschaft kaum noch verfangen - denn sie ist es, die die Auswirkungen tagtäglich am eigenen Geldbeutel spürt.