Erdogans letzte Chance?
Seite 2: Es ist schwieriger denn je, Prognosen über den Wahlausgang zu stellen
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- Es ist schwieriger denn je, Prognosen über den Wahlausgang zu stellen
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Am Sonntag finden zwei Wahlen am selben Tag statt. Es wird das Parlament gewählt - und der Staatspräsident. Mit der Wahl tritt automatisch die im April 2017 per Volksentscheid beschlossene Verfassungsreform in Kraft. Sämtliche Oppositionskandidaten haben versprochen, im Fall ihres Wahlsieges umgehend eine weitere Verfassungsreform anzustoßen, um vom auf Erdogan zugeschnittenen Präsidial- zum parlamentarischen System zurückzukehren.
Auch die Unabhängigkeit der Justiz und der Presse sollen wieder hergestellt werden. Würde das geschehen, wären Erdogans Allmachtphantasien zerschlagen. Die Reform sieht vor, dass Erdogan an der Spitze der Exekutive steht und auch die Judikative nahezu komplett kontrolliert. Das Amt des Ministerpräsidenten wird abgeschafft, das Parlament quasi handlungsunfähig. Das Kalkül dahinter, beide Wahlen auf denselben Tag zu legen, ist klar: Wenn es der AKP gelingt, nicht nur den Präsidenten zu stellen, sondern auch das Parlament zu dominieren, ist die Opposition faktisch ausgeschaltet. Denn zwar kann das Parlament formell noch gegen den Präsidenten intervenieren. Eine Mehrheit von dessen Partei würde solche Vorstöße aber verhindern.
Und wenn Erdogan zwar zum Präsidenten gewählt wird, seine Parlamentsmehrheit aber verliert? In dem Fall könnte er per Dekret das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen. Im Falle einer Niederlage der AKP ist genau das zu erwarten. Es könnte aber auch geschehen, dass die Opposition im entscheidenden Moment Zeit gewinnt. Denn wenn sie die Mehrheit im Parlament bekommt und das Ergebnis der Präsidentschaftswahl zu keiner absoluten Mehrheit eines Kandidaten führt, kommt es am 8. Juli zur Stichwahl. Und die könnte Muharrem Ince (CHP) durchaus gewinnen.
Ince ist ein Charismatiker, ein ähnlich mitreißender Redner wie Erdogan, und er gewinnt beständig an Popularität. Ein weiterer Vorteil für ihn ist, dass es diesmal er selbst und die anderen Oppositionsparteien sind, die die Themen im Wahlkampf setzen, und nicht mehr Erdogan, der nur noch reagiert, sich rechtfertigt, seinen Wählern Luftschlösser verspricht und derweil ohne Unterlass mit Gewalt und Repression versucht, seine Gegner klein zu halten. Doch so richtig scheint es ihm nicht mehr zu gelingen.
Dabei legt das Volksbündnis aus AKP und MHP momentan in den Umfragen zu. Lag es noch vor zwei Wochen fast gleichauf mit den Nationalen Bündnis aus CHP und Iyi Parti, so vergrößert sich der Abstand nun deutlich. In einer Erhebung von Metropoll liegt das Volksbündnis bei knapp 49 Prozent, das Nationale Bündnis bei nur noch 38 Prozent und die HDP bei 12 Prozent. Ähnliches vermeldet das Umfrageinstitut Gezici. Bei Remres liegen AKP / MHP bei 45 Prozent und CHP / Iyi Parti bei 42 Prozent. Die Unterschiede sind also je nach Institut deutlich. Gezici wandte allerdings kürzlich ein, dass sämtliche Umfragen derzeit kaum verlässlich seien, da immer weniger Wähler bereit seien, Auskunft zu geben.
Im Telepolis-Gespräch führte das der Journalist Can Dündar auf Angst zurück. Er geht davon aus, dass sehr viele Bürger sich fürchten, sich zur Opposition zu bekennen. Wenn diese Annahme stimmt, dann könnte am Wahltag ein durchaus überraschendes Ergebnis stehen.
Wahlmanipulationen sind durch ein neues Wahlgesetz faktisch leglisiert
Es steht allerdings zu befürchten, dass es, wie schon 2017, wieder zu Manipulationen kommen kann. Im März hat die AKP ein neues Wahlgesetz durchs Parlament gepaukt, das Manipulationen faktisch legalisiert. Durch dieses Gesetz wurden auch die Wahlbündnisse eingeführt. Ohne die Unterstützung der MHP würde die AKP deutlich mehr schwächeln, die MHP selbst käme wohl nicht einmal mehr über die Zehn-Prozent-Hürde, da der Großteil ihrer Wähler zur neu gegründeten Iyi Parti abgewandert ist.
Bedeutender ist aber, dass das Gesetz auch ungestempelte Wahlzettel für gültig erklärt. Bislang war das nicht möglich, um zu verhindern, dass Wahlzettel nachträglich in die Urnen geschmuggelt werden. Schon 2017 beim Referendum gab es einen Skandal um rund 1,5 Millionen ungestempelte Wahlzettel. Außerdem dürfen nun Wahlbeobachter der AKP die Wahlurnen an sich nehmen und aus dem Wahllokal entfernen.
Um solche Eingriffe zu verhindern sollen mehrere hundert Wahlbeobachter internationaler Organisationen in die Wahllokale entsandt werden, außerdem wird die zivile türkische Organisation Oy ve Ötesi wie schon in den Vorjahren versuchen, möglichst flächendeckende Wahlbeobachtung sicherzustellen.
Darüber hinaus wirbt Erdogan einmal mehr intensiv um die rund drei Millionen wahlberechtigten türkischen Bürger im Ausland, rund die Hälfte davon in Deutschland. Sie alle haben in den letzten Wochen Post aus Ankara erhalten, außerdem gab es Berichte über Wählerbestechung: Wer für die AKP stimmte, soll vor ausländischen, also auch deutschen Wahllokalen Lunchpakete erhalten haben.
Bislang zeichnete sich im Ausland eine etwas höhere Wahlbeteiligung als in den letzten Jahren ab, wo rund 40 Prozent der Auslandstürken zur Urne gegangen waren. In Deutschland hat die AKP auch 2018 Umfragen zufolge eine deutlich höhere Unterstützung als in der Türkei selbst - aber auch die HDP schneidet deutlich besser ab, während das Nationale Bündnis auf kaum 30 Prozent kommt.
Sollte der Wahlausgang sehr knapp werden, könnten die Stimmen aus dem Ausland entscheidend sein. Das ist vor allem deshalb problematisch, weil Tausende Oppositionelle, die nach Beginn der Säuberungen und Massenverhaftungen ins Ausland geflüchtet sind, womöglich nicht wählen können, da sie fürchten müssen, in den Konsulaten festgenommen zu werden. Schon 2017 gab es Fälle, in denen Wählern in türkischen Konsulaten in Deutschland der Pass abgenommen wurde, hinzu kamen Drohungen und Einschüchterungen.